Fontanes Berlin

Wie nimmt der Romancier Theodor Fontane Berlin wahr, fragt Bernd W. Seiler in seinem opulenten Text-Bild-Band

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Fontanes Schaffen zeigt sich überwiegend der Gegenwart verpflichtet. Mit einigen Ausnahmen (der Roman „Unwiederbringlich“ handelt in Schleswig-Holstein und Dänemark, „Graf Petöfi“ in Wien und Ungarn) sind die Schauplätze Berlin und die Mark Brandenburg. In seinen Gesellschaftsromanen ersteht eine Welt der Offiziere und Beamten, des Landadels und der Bourgeoisie im letzten Drittel des Jahrhunderts. Wir erleben diese Menschen in kleineren und größeren Zirkeln im Salon, beim Diner, bei Ausflügen zu Schiff und Wagen, lernen aber auch das Kleinbürgertum und die Dienerschaft bei ihren Unterhaltungen kennen.

Der Zeitkritiker Fontane hat das Zeittypische im Persönlichen, das Repräsentative im „besonderen Fall“ eingefangen. In welchem Maß ist in seinen Romanen Zitatmaterial von der bloßen versteckten Anspielung bis zur Spiegelung ganzer Gestalten, Szenen oder Werke anwesend? Viele seiner Romane ergaben sich aus den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, mit denen er diese Landschaft erst einem größeren Publikum nahe gebracht hat. Die Romanarbeit ist dann auch wieder mit Reisen verbunden, um sich so die Welt seiner Romanfiguren zu erschließen. Teile der Romane entstehen auch oft vor Ort. Immer wieder nimmt Fontane Authentisches auf, das man selbst heute noch aufsuchen kann, unterwirft diese aber gewissen poetischen Notwendigkeiten und Veränderungen. Er kann aber genauso gut scheinbar Authentisches selbst erfinden. Das Dreieck zwischen Rheinsberg, Kloster Wutz und Gransee bildet die Welt des alten Dubslav im „Stechlin“, die über den Stechlinsee in geheimnisvoller Weise mit der ganzen Welt verbunden ist. Zwar gibt es ein Dorf Zechlin mit dem Schloss im Süden des Sees nicht, wohl aber Globsow und das Kloster Lindow am Wutzsee. Keiner der Romane Fontanes ist so unmittelbar aus seinen „Wanderungen“ hervorgegangen wie der „Stechlin“. Schauplatz der „Grete Minde“ wiederum ist die Altmark und das Havelland.

Wir wissen, dass eine „Ehebruchsgeschichte“, die sich tatsächlich zugetragen hat, die Grundlage von „Effi Briest“ bildete. Aber sie hätte wie hunderte andere mehr keinen Eindruck auf Fontane gemacht, wenn nicht die Worte „Effi komm“ darin vorgekommen wären. Das Auftauchen der Freundinnen an dem mit Wein bewachsenen Fenster, während drinnen das 17-jährige Mädchen an den fast 40-jährigen Bewerber ihrer Mutter verkuppelt wird, der Zuruf ihrer Gespielinnen, zurückzukehren zum Spiel und in die Freiheit, bekannte Fontane, „machten solchen Eindruck auf mich, dass aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist“. Die „Details“ dieser wahren Geschichte der Else von Ardenne und des Königlichen Amtsrichters Emil Hartwich aus Düsseldorf waren ihm „ganz gleichgültig – Liebesgeschichten, in ihrer schauderösen Ähnlichkeit, haben was Langweiliges –, aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische, das diese Dinge haben […], das ist es, was mich so sehr daran interessiert“. So hat er seine Gestalten in ein Gewebe von vieldeutigen und geheimnisvollen Bildern und Zeichen eingesponnen, erst aus ihnen lassen sich das Seelenleben der Gestalten und die Bedeutungsschichten des Geschehens erschließen. Mit einer ungeheuren Intensität vermochte sich Fontane in fremde Lebensschicksale einzufühlen und die Umgestaltung des ihm zugetragenen Materials zu bewältigen.

Es ist das Verdienst von Bernd W. Seiler, emeritierter Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld, in einem materialreichen Text-Bild-Band „Fontanes Berlin“ erkundet zu haben, nicht nur die Wohnsitze, die Fontane in seinem fast 60-jährigen Berliner Leben bezog, sondern vor allem die Örtlichkeiten in seinen Berliner Romanen und Erzählungen aufzuzeigen. Geschickt weiß er sein wissenschaftliches Interesse mit dem des Fontane- und Berlin-Liebhabers zu verbinden, konfrontiert damalige Stadtansichten mit heutigen, kann eine Fülle zeitgenössischer Fotos, Postkarten, Zeichnungen, Grafiken, Gemälde, Stadtpläne, architektonischer Skizzen, Zeitungsanzeigen, Adressbucheinträgen einbringen und ermöglicht so dem Leser, auf den Spuren Fontanes und seiner Romangestalten durch Berlin zu wandern.

„L’Adultera“, zunächst als Novelle, dann als Roman bezeichnet, liegt eine damalige Skandalgeschichte aus der guten Gesellschaft Berlins zugrunde, der Fall des Eisengroßhändlers Louis Ravené, der von seiner wesentlich jüngeren Frau verlassen wurde, weil sie von dem jungen Bankkaufmann Gustav Simon ein Kind erwartete. Fontane hat allerdings keinen „Tatsachenroman“ geschrieben, sondern lässt die Ehebrecherin Melanie – eine überraschende Wendung – straffrei ausgehen und Glück in ihrer neuen Beziehung finden. Seidler weist sehr genau die Lokalitäten in dem Roman nach, die Stadtwohnung der van Straaten, deren Sommervilla am nördlichen Rand des Tiergartens mit ihren Treibhäusern, die Landpartie nach Stralau, die „reizende Mansarde“, die Melanie und Rubehn dann am Westrand des Tiergartens mieten, und so weiter. Es geht hier aber nicht nur um Figuren und ihre Handlungsweise, sondern auch um Bilder, deren Motive, Ausdrucksformen und Wirkungsweisen. So erweist sich die Kopie des berühmten Bildes „Die Ehebrecherin vor Christus“ des Malers Tintoretto als Gebilde, in das die eigenen verborgenen Wünsche und Ängste hinein gewoben werden. Melanie wehrt sich gegen die manipulierende Identifizierung mit dem Bild der Ehebrecherin. Mit den Orts- (eine „Große Petristraße“ gab es in Berlin nicht) und Zeitanspielungen hat Fontane einige Verwirrung gestiftet. Er wollte nicht nur Sachverhalte, sondern Reflexe der momentanen Befindlichkeit bieten, die auf Zukünftiges verweisen sollen. Ein absonderlicher „Ausnahmefall“ (Fontane) bleibt diese Geschichte und steht in eigentümlicher Spannung zur Echtheit des Berliner Lebensbildes.

Im Unterschied zu „L’Adultera“ ist der Doppelroman „Irrungen, Wirrungen“ eine komplett erfundene Geschichte, aber eine doch so typische, dass sie sich jederzeit so zugetragen haben könnte (so meldete sich eines Tages auch bei Fontane eine Frau, die erklärte, sie sei das Original der Lene Nimpsch, weiß Seiler zu berichten). Eine Liebesgeschichte schlägt in eine Ehegeschichte um, nur die Paare haben gewechselt und auch die sich zu Sinnträgern verdichtenden Orte sind andere geworden. Die Idyllik der Dörr’schen Gärtnerei am Stadtrand und des Ausflugsortes Hankels Ablage (bei Zeuthen an der Dahme) sind nur Trugbilder und taugen wenig fürs Leben. Umsichtig spürt Seiler den unterschiedlichen Lebenswelten Lenes und Bothos nach, den so ganz anders gearteten Spaziergängen der beiden Paare, Bothos Alleingängen durch Berlin, bei denen er in Gedanken bei Lene weilt, um sich später dann mit seiner Ehe mit Käthe abzufinden. Die „Berliner Alltagsgeschichte“ verbindet alltäglichen Bericht mit „historischer Erinnerung“ (das Grabmal Hinckeldeys, der Charlottenburger Schlosspark mit der „höfischen Vorgeschichte“ König Friedrichs II.). Als sich Käthe bei der Lektüre der Hochzeitsanzeige Lenes und Gideons über den Namen des Bräutigams lustig macht, gesteht Botho ein: „Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.“

Das tragische Gegenstück zu „Irrungen, Wirrungen“ ist „Stine“. Invalidenstraße 98a, später auch Tieckstraße 27a, Zietenplatz und Mohrenecke, Mauerstraße, Zeltenstraße – so heißen die stadtplangetreuen Adressen und Schauplätze einer abermaligen „Berliner Alltagsgeschichte“, die aber diesmal eine fremde, vergangene, fortsetzungslose Geschichte offeriert. Waldemar von Halderns Umherirren durch Berlin, nachdem seine Heiratspläne mit Stine auf familiären Widerstand gestoßen sind, „macht ihm fühlbar, dass sein Leben keinen Sinn hat, weil ihm nichts, aber auch gar nichts darin gelungen ist“. So geht er in den Tod, in den ihm Stine bald folgen wird.

Spielt „Irrungen, Wirrungen“ im Westen, „Stine“ im Norden, so „Frau Jenny Treibel“ im Osten von Berlin. Von hier kommt die einstige tütenklebende Krämerstochter und nunmehrige Kommerzienrätin Jenny Treibel – nach Fontane der „Typus einer Bourgeoise“ – und hier leben auch Vater und Tochter Schmidt, er, der einstige Jugendfreund Jennys, sie, die sich zunächst in den Kopf gesetzt hat, Jennys drögen Sohn Leopold zu heiraten, sich dann aber eines Besseren besinnt. Die prächtige Treibel’sche Villa, nach dem Muster der Spätrenaissance gebaut und dementsprechend eingerichtet, liegt in der Köpenicker Straße zur Spree zu. Dagegen herrscht in der Mietswohnung der Schmidts wirtschaftliche Enge und im Treppenhaus riecht es nach „kleiner Wäsche“. Auf der Landpartie am Halensee wird in Gesprächsverläufe aufgelöst, was im herkömmlichen Roman Handlung ist: Gesprächspaare gehen hintereinander her oder suchen verschiedene Wege, reden über vorangehende Paare oder hindern diese durch einfaches Hinterhergehen – und nach diesen Gesprächen ist wieder eine völlig neue Situation entstanden, die durch Unterredungen der Betroffenen geklärt werden muss und wieder Konversationsstoff für Nichtbetroffene abgibt. Eine Art Satyrspiel zu „L’Adultera“, denn hier ist der Gedanke des bürgerlichen Reichtums, so neu erworben er sein mag, mit weit mehr Ironie und überdies als gefährlich ansteckend konzipiert. Hier findet sich letztlich Geld zu Geld und Geist zu Geist.

Nur zu Teilen spielt „Effi Briest“ in Berlin. Handlungszeit sind hier die Jahre 1878-1890. Seiler dokumentiert ebenso den Einkaufsbesuch, den Effi mit ihrer Mutter in Sachen ihrer Aussteuer nach Berlin unternimmt, den Zwischenaufenthalt des frisch vermählten Ehepaares Innstetten nach ihren Flitterwochen in Italien, wie auch die endgültige Übersiedlung nach Berlin, nachdem Innstetten in das Innenministerium berufen wurde. Es ist auch hier wieder erstaunlich, wie topografisch exakt Fontane die Wohnung der Innstettens, Effis spätere „Bleibe“, nachdem Innstetten die Briefe Crampas’ in Kessin an sie entdeckt hat, die Gänge durch die Stadt beschrieben hat. Dass Effi von ihrem Arzt zu einer Badekur gleich um die Ecke – im Prinz-Albrecht-Brunnen – geraten wird, obwohl dort eigentlich nur Leitungswasser sprudelte, mag der Unkenntnis Fontanes geschuldet sein oder seiner Ironie, mit der er die ärztliche Weisheit in Frage stellen wollte. Dass Fontane aber mit Böcklins Gemälde „Die Gefilde der Seligen“ nur das „Aufsehen“, wie Seiler schreibt, „verbunden mit dem anspielungsreichen Titel“ in Erinnerung bringen wollte – dem muss widersprochen werden.

So genau auch die Domizile der Figuren von Fontane beschrieben werden, so sind sie nicht immer genau auszumachen, so dass „– wie eigentlich immer – in diesem letzten Punkt die Vereindeutigung unterbleibt“ (Seiler). Die beiden Jahrzehnte von 1875 bis 1895, in denen die Romane spielen, waren von rasanter Bautätigkeit, ganze Straßenzüge wurden durch Neubauten ersetzt, neue Stadtteile entstanden um den alten Kern, der Bau der Stadtbahn von Ost nach West führte mitten durchs Zentrums, doch von all dem nehmen die Figuren keine Notiz. Woldemar von Stechlin fährt zu einem Besuch der Barbys mit der Ringbahn am Potsdamer und Brandenburger Tor vorbei bis zum Reichstagsufer. Er sieht dort das Haus mit der Malzkaffee-Reklame, aber nicht das fast fertig gestellte Reichstagsgebäude, das größte Berliner Bauvorhaben jener Zeit. Den tieferen Sinn dieses Vorgehens Fontanes sieht Seiler darin, dass Berlin für die Figuren immer ihre Heimat oder wenigstens ihr Zuhause ist und sein soll. Auch Umzüge innerhalb der Stadt, wie Fontane sie selbst wiederholt erlebt hat, spielen keine Rolle. Wenn jemand, wie Leslie-Gordon in „Cécile“, nach längerer Abwesenheit dorthin zurückkehrt, heißt es wie selbstverständlich: „Gordon wuchs sich rasch wieder in Berlin ein“.

In Fontanes Berlin gibt es – so Seiler – keine Neuerungen oder Unvollständigkeiten, Unvollkommenheiten, Belästigungen, kein Lärm, keine Gerüche. Es ist ein „vorteilhaft arrangiertes, ein poetisches Berlin-Bild“. Und doch erscheinen zeitgenössische Verhältnisse in Fontanes Berliner Romanen stets perspektivisch gebrochen, Fakten kommen als schon beredete und gedeutete – nicht als ‚objektive‘ – an den Leser. Fontane inszenierte Gespräche und hielt so Realitätserfahrung und –verarbeitung als stets subjektive Anstrengung gegenwärtig.

Sein Realismus sucht die postalische und kalendarische Genauigkeit, um sie im gleichen Moment wieder aufzuheben. Der Eindruck, dass der Zeitverlauf nicht stimmt, dass also die Zeit gelegentlich aus den Fugen gerät, könnte auch den poetologischen Grundsatz Fontanes bestätigen, dass selbst realistische „Geschichtenerzähler“ „verschwommen“ denken müssen (Thomas Mann). „Was soll uns der Roman?“ so fragte Fontane 1875 anlässlich einer Rezension zu Gustav Freytags „Die Ahnen“. „Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben[…]Er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen […] lassen“.

Titelbild

Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen.
Mit 279 Abbildungen.
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2010.
192 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783942476003

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