Es gibt Hoffnung in Shenzhen

Pun Ngai und ihre KollegInnen untersuchen Lage, Perspektiven und Widerspenstigkeit chinesischer Wanderarbeiterinnen

Von Stefan SchoppengerdRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schoppengerd

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob im Markt für Unterhaltungselektronik, beim Kauf von Schuhen oder von Spielzeug: Im Kleingedruckten der Etikettierung findet sich bei etlichen Artikeln der Hinweis „Made in China“. Wo „Made in China“ draufsteht, steckt häufig die Arbeit jener WanderarbeiterInnen drin, die aus den ländlichen Gebieten des Landes in die Industriezentren im südlich gelegenen Perlflussdelta ziehen, um sich in den Weltmarktfabriken der großen Konzerne ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zwei Bücher aus dem Programm des kleinen Verlages Assoziation A nehmen sich der Beschreibung und Analyse der Lebenssituation dieser wachsenden Gruppe an, ohne die der rapide Aufstieg Chinas zur Großmacht des Welthandels nicht möglich gewesen wäre. Die Beiträge zu diesen Bänden stammen überwiegend von chinesischen AutorInnen. Für das deutsche Publikum mit Vorworten versehen und um einen Beitrag ergänzt wurden sie von einer Gruppe, die sich „FreundInnen von gongchao“ nennt. Eine durchaus passende Bezeichnung für einen Zusammenschluss, der offenbar der linken Zeitschrift „wildcat“ nahesteht: „wildcat strikes“ heissen die selbstorganisierten, wilden Streiks; „gongchao“ ist Chinesisch für „Arbeitskampf“.

Eine weitere Vokabel lohnt es sich zu lernen, sie findet häufig Verwendung und gibt den Titel für das erste der beiden Bücher ab: Das Wort „Dagongmei setzt sich zusammen aus der Bezeichnung für jene Art von Arbeit, wie sie unter kapitalistischen Bedingungen üblich ist, die Arbeit für einen Chef, der dafür Geld gibt (dagong), und dem Wort für die kleine Schwester (mei). Die Dagongmei, die arbeitenden kleinen Schwestern, sind die größte Gruppe unter den WanderarbeiterInnen. Junge Frauen zwischen 15 und 30 Jahren, die vom Land zum Beispiel in die Stadt Shenzhen gehen, um dort in der Industrie zu arbeiten. Sie kommen in dem Buch selbst zu Wort – zwölf Gespräche haben die Sozialwissenschaftlerin Pun Ngai und die NGO-Aktivistin Li Wanwei ausführlich dokumentiert. Damit ist es ihnen gelungen, die Lebenssituation der Arbeiterinnen in ihrer Vielschichtigkeit abzubilden. Gewaltige Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben, die Einordnung in eine Männerwelt und die Ausbeutung in den „Sonderwirtschaftszonen“ bestimmen ihre Biografien bis in viele Details. Die Frauen wissen oft von fürchterlichen Zuständen in den Fabriken zu berichten, in denen überbordende Überstunden bei schlechter Bezahlung keine Seltenheit sind, die Unterbringung in großen Wohnheimen nur schwerlich als menschenwürdig bezeichnet werden kann und schwerste Arbeitsunfälle ebenso schlecht verhütet werden wie etwa Gesundheitsschädigungen durch giftige Dämpfe, die in der Elektronikproduktion entstehen. Die 19-jährige Chunmei, die als Einzige nicht unter einem Pseudonym vorgestellt wird, starb gar den Tod durch Überarbeitung.

In den Erzählungen zeigt sich, dass die Dagongmei trotz aller Widrigkeiten weder naiv noch passiv sind, sondern bewusst Spielräume zur freien Lebensgestaltung nutzen. So bedeutet schon die Entscheidung für die Wanderarbeit einen Ausweg aus den patriarchalen Verhältnissen des Landlebens, wo sie sich andernfalls in ein rigides Korsett aus familiären Traditionen einfügen müssten und ihre Wünsche selbst bei der Wahl des Ehemannes den elterlichen Verheiratungsstrategien untergeordnet wären. Auch in ihrer Rolle als Fabrikarbeiterinnen zeigen sie sich eigensinnig, sowohl was subtile Formen der Auseinandersetzung angeht – läuft das Fließband zu schnell, wird eben mehr Ausschuss produziert – als auch was offene Konflikte in Streiks und Demonstrationen betrifft. Der Aufbau des Buches folgt einer Dramaturgie, bei der anfangs die Gründe für den Gang in die Fabrik im Mittelpunkt stehen, dann das Elend in den „Teufelsmühlen“, und schließlich die Erfahrungen mit Organisierung und Widerstand. Die HerausgeberInnen und AutorInnen der zwei Bände machen keinerlei Hehl aus ihrer Parteilichkeit. Die Entscheidung, die Fluchtlinien der Darstellung auf kollektive Widerstandsaktionen auszurichten, ist aber nicht nur ihrer Solidarität mit den ArbeiterInnen geschuldet, sondern entspricht einer realen Tendenz in China.

Das zeigt der Sammelband über den „Aufbruch der zweiten Generation“. Streiks und andere Widerstandsaktionen von WanderarbeiterInnen haben binnen weniger Jahre enorm zugenommen. Der letzte Höhepunkt dieser Entwicklung war eine Streikwelle Mitte 2010, die in einer Fabrik von Honda ihren Anfang nahm und sich auf andere Standorte und Branchen ausweitete. Die heutigen WanderarbeiterInnen können dabei auf mehrjährige Erfahrungen zurückblicken und von dem Wissen ihrer Vorgängergeneration profitieren, so eine Schlüsselthese des Bandes.

Mehrere Branchen werden genauer untersucht, und in weiteren Texten wird gesellschaftspolitischen Zusammenhängen und Entwicklungsperspektiven nachgegangen. Die AutorInnen argumentieren hier zwar deutlich akademischer; gleichwohl geht die subjektive Sicht der WanderarbeiterInnen, die den Dagongmei-Band auszeichnet, nicht verloren, weil die einzelnen Studien auf ethnographischer Feldforschung und teilnehmender Beobachtung beruhen. Neben der Auto- und Elektroindustrie werden auch Sektoren jenseits der Fabrikarbeit in den Blick genommen: die Bauindustrie, in der Männer vom Land unter härtesten Bedingungen die Glitzerfassaden der wachsenden Städte errichten, die Arbeit der „Bangbang“, die als freischaffende LastenträgerInnen keine Aussicht auf großen Wohlstand haben, aber ihre Ungebundenheit schätzen, die Karaoke-Bars, in denen Touristen und wohlhabenden Chinesen Unterhaltung und sexuelle Dienstleistungen geboten werden, sowie die Dienstleistungsarbeit in Privathaushalten.

Im zweiten Teil des Buches finden sich dann drei weitere Texte, die den „Prozessen der Klassenzusammensetzung“ nachgehen. Von Klassen ist in diesem Band recht viel die Rede. Dass dies nicht auf holzschnittartige Weise geschieht, dafür sorgt der Anschluss an zwei sich ähnelnde Theorieströmungen des dissidenten Marxismus. Der Begriff der Klassenzusammensetzung verweist auf die Tradition des italienischen „Operaismus“, in der unterschieden wird zwischen technischer und politischer Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Es ist das eine, wie ArbeiterInnen im Arbeitsprozess zusammengebracht (oder getrennt) werden; das andere ist, welchen gemeinsamen Ausdruck sie sich selbst verschaffen. Klasse ist also nichts, was bloß objektiv abgeleitet werden könnte; für politische Durchsetzungsfähigkeit kommt es auf die Subjektivität der ArbeiterInnen an, und darauf, welche Aktivitäten sie entfalten. Dies ist die Schnittstelle zur zweiten wichtigen Theorieperspektive: die Arbeiten des britischen Sozialhistorikers Edward Palmer Thompson, der mit seinem Buch „The making of the english working class“ bekannt geworden ist. Hier hatte er den Begriff der Erfahrung stark gemacht – die Formierung einer Klasse gründet sich auf geteilte Erfahrungen, die in geteilten kulturellen Wertsystemen interpretiert werden muss. Auch dies ist also eine Abgrenzung zu Sichtweisen, in denen die Existenz einer Arbeiterklasse ohne weitere Vermittlung aus dem vorgefundenen Wirtschaftssystem abgeleitet wird.

Mit derlei begrifflichen Werkzeugen im Gepäck blicken die AutorInnen nun auf das Phänomen der Wanderarbeit in China, und tatsächlich gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich eine bewusste Klasse der WanderarbeiterInnen formiert, die die gemeinsamen Erfahrungen reflektiert und die zusätzlich zur Verbesserung der unmittelbaren Arbeitsbedingungen für grundlegende Rechte kämpft: Zum Beispiel das Recht, eine eigenständige Gewerkschaft gründen und über die eigene Interessenvertretung demokratisch entscheiden zu können, oder die Möglichkeit, als vollwertige BürgerInnen in der Stadt zu bleiben. Hier gibt es begründete Hoffnung auf Verbesserung der Lebensumstände der „Dagongmei“ und ihrer männlichen Kollegen – sie beginnen, ihre Interessen selbstbewusst zu vertreten, und immer seltener können sie ignoriert werden.

Der Band verfällt dennoch nicht in Revolutionsromantik. Gezielt instrumentalisierte, ethnische Unterschiede etwa und die intensiven Kontrollstrategien in den Betrieben werden dargestellt sowie auch die schiere Gewalt, der viele ArbeiterInnen ausgesetzt sind. Sollten kommende Lohnkämpfe weiter Erfolge verbuchen, die mit denen im Jahr 2010 vergleichbar sind, ist zumindest in einigen Branchen fraglich, ob die ausländischen Investoren nicht erneut die Produktionsstätten verlagern – um so das Spiel von Ausbeutung, Leid und Lernen der ArbeiterInnen, an dessen chinesischer Variante uns die zwei Bücher so eindrucksvoll teilhaben lassen, anderswo von Neuem zu beginnen.

Die Bücher sind ansprechend und übersichtlich gestaltet; das erste enthält ein ausführliches Glossar mit wichtigen Begriffen zur chinesischen Gesellschaft und Arbeitswelt sowie Landkarten; das zweite ist mit einem ausführlichen Index versehen. Leseproben und zusätzliches Material bietet die Internetseite www.gongchao.org.

Titelbild

Pun Ngai / Li Wanwei: Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen.
Assoziation A, Berlin 2008.
257 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783935936736

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Titelbild

Pun Ngai / Ching Kwan Lee: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China.
Assoziation A, Berlin 2010.
294 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783935936934

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