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Trotz erdrückender Datenflut: René Rohrkamps Analysen zur Geschichte der Waffen-SS bieten keine neuen Einsichten

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer Flut von Auswertungen und Tabellen möchte der Aachener Historiker und wissenschaftliche Mitarbeiter am Forschungsgebiet Wirtschafts- und Sozialgeschichte der dortigen RWTH, René Rohrkamp, zur weiteren Entmythologisierung der berüchtigten Waffen-SS beitragen. Anders als das nach dem Krieg gerne gepflegte Selbstbild waren die Soldaten der Waffen-SS durchaus nicht Soldaten wie andere auch. Aber waren sie tatsächlich „weltanschaulich gefestigte Kämpfer“, wie es offenbar der Titel von Rohrkamps Dissertation nahe legt?

Auf der Basis von 2.550 Wehrstammbüchern aus dem SS-Oberabschnitt West ( der entsprach dem rheinischen Wehrkreis VI) analysiert der Verfasser den Werdegang von Soldaten, die zwischen 1933 und 1945 zum bewaffneten Arm von Heinrich Himmlers SS gehört haben. Die Zugehörigkeit zu den einzelnen Großverbänden ist breit gestreut, obwohl der Abschnitt West ursprünglich nur das Rekrutierungsgebiet der Hamburger SS-Standarte Germania war. Der älteste Vertreter der ausgewählten Stichprobe zählte noch zum Jahrgang 1883, während der jüngste dagegen erst im Dezember 1927 geboren wurde.

Die inzwischen im Freiburger Bundesarchiv-Militärarchiv als elektronische Datei verfügbare Datenmenge enthält pro Datensatz rund 80 verschiedene Angaben oder Parameter, aus denen Rohrkamp versucht hat, eine repräsentative Sozialstruktur von Angehörigen der Waffen-SS zu rekonstruieren, die er in einem zweiten Schritt mit einem größeren Panel von Heeressoldaten vergleicht. Ob nun die so gewonnenen Daten bei der Beurteilung der Waffen-SS und der Bewertung ihrer militärischen Schlagkraft tatsächlich weiterhelfen, ist aber eher fraglich, zumal Rohrkamp auch nur sehr vage Aussagen über die Vorgehensweise bei der Auswahl der beiden Samples macht. Ist seine Auswahl tatsächlich repräsentativ? Aus den alphabetisch in Kartons aufbewahrten Wehrstammbüchern wurden laut Auskunft des Verfassers Proben aus dem gesamten Bereich von A bis Z entnommen und schließlich jeder 13. Karton zur Öffnung bestimmt, um die erforderliche Stichprobe von 2.550 Wehrstammbüchern zu erhalten. Da bei der Waffen-SS – anders als bei den Heeresdivisionen ­ – keine landsmannschaftlichen Bündelungen vorgenommen wurden, schienen ihm die entnommenen Proben regional weit genug gestreut.

Rohrkamp stützt nun seine Auswertung auf acht erfassbare Untersuchungsmerkmale, wobei er unter Punkt 5 die NS-Sozialisation des Soldaten ­ nicht ganz glücklich ­ aus der Dauer seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Organisationen wie etwa der Hitlerjugend abzuleiten versucht.

Dass die Angehörigen der Waffen-SS im Vergleich zu den Heeressoldaten erheblich jünger waren und sich diese Tendenz bis zum Kriegsende sogar noch verstärkte, stellt aber nun nicht wirklich eine neue Erkenntnis dar. Ist es deshalb schon gerechtfertigt, von einer „Sozialstruktur eigener Prägung“ in der Waffen-SS zu sprechen? Rohrkamp kann nicht nachweisen, dass die signifikant höhere Quote von Soldaten der Waffen-SS, die im Vergleich zu den Heeressoldaten auch der HJ angehörten, zu einem höheren Maß an nationalsozialistischer Indoktrination geführt hat. Für seine spekulative Behauptung, dass die HJ sogar eine Schlüsselrolle in der ideologischen Vorbereitung des genozidalen Krieges im Osten gespielt habe, bleibt er den Quellenbeleg nicht nur schuldig, er widerspricht sogar seiner eigenen These von einer „Verkapselung“ der NS-Blut- und Boden-Ideologie in den Köpfen der jungen Soldaten der Waffen-SS, wenn er kurz darauf aus einem zusammenfassenden Bericht des SS-Hauptamtes zitiert, der im Mai 1943 immerhin von einem „restlosen Versagen der HJ“ spricht: Es fehle bei den Jungen am Idealismus und am Verständnis für die Größe unserer Zeit und des Einsatzes.

Inwieweit nun eine vormilitärische Indoktrination von Soldaten der Waffen-SS wirklich stattgefunden hat und in welchem Maß ideologische Vorprägungen später dazu beigetragen haben mögen, Situationen an der Front oder dahinter eskalieren zu lassen, kann nur durch Untersuchungen im Einzelfall geklärt werden. Rohrkamp räumt dies redlicherweise selbst ein, muss sich dann aber doch die Frage stellen, welchen Beitrag seine rein quantitativen Betrachtungen zur Erhellung dieser Fragen überhaupt beitragen.

Es erinnert schon eher an Kaffeesatzleserei, wenn er schließlich von einer ideologisch gefestigten Primärgruppe spricht, die zwischen 1911 und 1920 geboren wurde und deren Angehörige im Krieg als Unterführer oder erfahrene Soldaten das Rückgrat der SS-Kompanien gebildet haben. Von ihnen soll dann also die fanatisierende Indoktrination geleistet worden sein, die ganz offenbar bei der HJ nicht in dem (von Rohrkamp) unterstellten Maße stattgefunden hatte. Es entkräftet jedoch auch dieses Ersatzargument, wenn Rohrkamp später konstatiert, dass gerade die Gruppe der 20-30-jährigen schon in den ersten Kriegsjahren signifikant höhere Verluste erlitten hat, was aber ihre Menge und damit ihren Einfluss begrenzt haben dürfte.

Gleichwohl befördert seine Auswertung auch interessante Befunde zutage. So lag die Verlustquote der Waffen-SS-Stichprobe mit 11 Prozent erstaunlicherweise deutlich unter der des Heerespanels (etwa 15 Prozent). Darf man jedoch daraus, wie der Verfasser es unternimmt, den weit reichenden Schluss ziehen, dass die freiwillige Meldung zur Waffen-SS keineswegs eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit zur Folge hatte? Rohrkamp erläutert jedoch nicht, wie sich dies mit der ebenfalls aus den beiden Stichproben zu entnehmenden Tendenz vereinbaren lässt, dass die Verweildauer von SS-Soldaten bei ihren Kampfverbänden im Mittel deutlich kürzer ausfiel als die der Heeressoldaten. Tatsächlich hätten geringeren Verlusten der Waffen-SS ja längere Stehzeiten bei den Kampfverbänden entsprochen.

Auf Hunderten von Seiten präsentiert Rohrkamp nun analog seine statistischen Auswertungen und versucht sie im Lichte bisher schon bekannter Tatsachen zu deuten, was aber nur selten überzeugt. Dass das Heer im Sommer 1944 in Weißrussland eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Vermissten zu verzeichnen hatte, ebenso wie die Waffen-SS im August 1944 an der Invasionsfront, war Kennern der verpönten Operationsgeschichte eigentlich schon vorher bekannt. Wenn Rohrkamp schließlich allen Ernstes noch behauptet, dass die erheblichen Ausfälle der Waffen-SS in der Normandie angeblich mit der überdurchschnittlich großen Zahl junger Soldaten zu erklären sei, deren hohe Risikobereitschaft sich aus ihrer stärkeren ideologischen Schulung ergeben hätte, ist man als Leser kurz davor, das Buch verärgert aus der Hand zu legen.

Als Fazit seines statistischen Ansatzes hat Rohrkamp nicht mehr zu bieten, als einige bescheidene quantitative Befunde: So stamme etwa die Mehrheit der Soldaten der Waffen-SS nicht – wie bisher vermutet ­– aus ländlichen Regionen, sondern aus Städten und Großstädten, die Verheiraten unter ihnen hätten mehr Kinder gezeugt als die Angehörigen des Heerespanels und unter ihnen befänden sich mehr Protestanten oder so genannte Gottgläubige. Als Leser und Rezensent kann man darüber nur den Kopf schütteln und sich darüber wundern, dass für diesen wahrhaft dürftigen Ertrag eine Untersuchung von 500 Seiten angefertigt werden musste. Ist es nebenbei gefragt nicht eine Binsenweisheit, wenn Rohrkamp im selben Resümee noch glaubt erläutern zu müssen, dass eine längere Einsatzzeit an exponierter Stelle zu hohen Verlusten der betroffenen Gruppe geführt habe?

Verfasser, Doktorvätern und den Herausgebern der bisher verdienstvollen Reihe „Krieg in der Geschichte“ kann man nur empfehlen, in Zukunft gründlicher über Forschungsprojekte und deren Edition nachzudenken. Rohrkamps Studie jedenfalls ist nur ein ebenso monströser wie nutzloser Datenberg.

Titelbild

René Rohrkamp: "Weltanschaulich gefestigte Kämpfer": Die Soldaten der Waffen-SS 1933-1945. Organisation - Personal - Sozialstruktur.
Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
656 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783506769077

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