Das Missverständnis

Zu Andreas Maiers Rezeption der Prosa Thomas Bernhards

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Undankbarkeit gegen Vorgänger ist beinahe die Bedingung jedes Fortschreitens in Literatur oder Wissenschaft.

Arno Schmidt, Die 10 Kammern des Blaubart

Am 9. Februar 2011 wäre Thomas Bernhard 80 Jahre alt geworden. Längst hat die Literaturwissenschaft begonnen, sich nicht nur für sein eigenes Werk, sondern auch für die Rezeption und Fortschreibung seiner Texte in der Gegenwartsliteratur zu interessieren. „Schreiben mit, nach, unter, gegen Bernhard“ lautete etwa das Motto eines Symposiums, das bereits anlässlich des 75. Geburtstags Thomas Bernhards in Frankfurt am Main stattfand. Auf kaum einen jungen Schriftsteller dürfte diese aufzählende Charakterisierung so gut passen, wie auf den 1967 in Bad Nauheim geborenen Schriftsteller Andreas Maier.

Jörg Magenau bescheinigte ihm in seiner taz-Kritik zu Maiers 2005 erschienenem Roman „Kirillow“, der Autor habe sich mit dem Buch „endgültig in die vorderste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ geschrieben. Ein großes Lob, das keineswegs aus dem Nichts kam: Bereits für sein 2000 veröffentlichtes Debüt „Wäldchestag“ wurde der Newcomer vom Feuilleton einhellig gepriesen. Geradezu gebetsmühlehaft feierte man die von konjunktivischer Rede dominierte hessische Provinzstudie als gelungene Fortschreibung der Literatur Thomas Bernhards.

„Es ist unverkennbar der ironische Stil, der in Thomas Bernhards Prosa hinreißend komisch der kritisch-distanzierenden Brechung des Spontanausdrucks dient, aber auch der Umsetzung mimetisch-realistischer Beschreibungszusammenhänge ins Hypothetische“, schrieb seinerzeit Sibylle Cramer in der „Frankfurter Rundschau“. Damit hatte die Rezensentin eine erste Einordnung von Maiers Prosa vorgenommen, die ziemlich genau das traf, was der junge Schriftsteller schließlich seinem österreichischen Vorbild selbst vorwerfen sollte.

Dass Maier nämlich im Jahr 2004 auch noch eine an der Frankfurter Universität verteidigte, zunächst bei Suhrkamp angekündigte und dann im Göttinger Wallstein Verlag publizierte Dissertation mit dem Titel „Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa“ vorlegte, sorgte ob ihres merkwürdigen Ziels, ihrem Untersuchungsgegenstand permanente Stilisierung, Unlogik und gar mangelnde Realitätstreue autobiografischer Darstellungen vorzuwerfen, sogar bei der deutschsprachigen Literaturkritik für Verwunderung. Grund genug, diese Arbeit einmal einer genaueren literaturwissenschaftlichen Kritik zu unterziehen und in einem abschließenden Ausblick mit Maiers bisherigen fiktionalen Schriften zu vergleichen.

Das alte Prinzip: Verführung, Emanzipation, Abstoßung – „etcetera“

Im Grunde ist Maiers ambivalente Rezeption Bernhards kein Einzelfall. Vielmehr entspricht sie einem aus der Literaturgeschichte altbekannten Grundmuster schriftstellerischer Beerbung großer Vorbilder, die nicht zuletzt Bernhards eigenes Schreiben prägte – etwa im Fall seiner wechselvollen Rezeption Adalbert Stifters – und nun wiederum Bernhards literarische Nachfolge zu charakterisieren beginnt.

Manfred Mittermayer schreibt in seiner Kurzbiografie über Bernhards literarischen Einfluss auf jüngere Autoren, es könne dabei sogar zu einem „stark inhaltliche[n] Sog“ kommen, der zur Folge habe, dass sich rezipierende Schriftsteller „bis zur völligen Verschmelzung mit Bernhard identifizieren und erst mit großer Anstrengung wieder zu sich selbst finden“. Dies könne am Ende zu „recht heftigen Befreiungsakten“ führen, zu denen Mittermayer treffenderweise auch Andreas Maiers Dissertation zählt.

Der Autor des vorliegenden Beitrags hatte Maiers Studie bereits im Jahr 2005 in einer taz-Rezension pointiert als „versuchte[n] Vatermord des Schriftstellerschülers Maier an seinem Lehrer Bernhard“ umschrieben. Zunächst soll nun aber versucht werden, das zweifelsohne produktive Missverständnis Maiers, das man auch mit Harold Blooms literaturwissenschaftlichem Theorem der „Fehllesung“ aus „Einflussangst“ analysieren könnte, ein wenig genauer zu erläutern.

Bernhards Gesamtwerk als großer philosophischer „Bluff“?

„Es ist, als finde in diesen Texten mehr als in denen anderer Autoren eine Schlacht um das Sein statt“, urteilt Maier bereits auf der ersten Seite seiner Dissertation. Damit schätzt er Bernhard gleich zu Beginn als buchstäblich ‚toternsten’ Autor ein, um ihm in der folgenden Argumentation existenzialistisches Geraune, ja den „Jargon der Eigentlichkeit“ vorzuwerfen.

Dies allerdings, ohne dass sich Theodor W. Adornos berühmte Heidegger-Polemik gleichen Titels in der nur knapp zweieinhalbseitigen Sekundärliteraturliste fände oder Maiers Verwendung des Begriffs sonst irgendwo explizit in diese philosophische Tradition gestellt würde. Der Autor greift hier vielmehr eine alte Beobachtung der Bernhard-Forschung auf, um sie mittels einer voraussetzungslosen Verwendung des Terminus’ der „Eigentlichkeit“ in einen poetologischen Grundvorwurf zu wenden: Bernhards Figuren zeichneten sich durch Äußerungen aus, die „allesamt axiomatisch“ seien. Ihre apodiktischen Postulierungen würden „nicht begründet, nie am Beispiel expliziert, sondern beziehen“, so Maier, „wie schon im frühen Werk [Bernhards], ihren (scheinbar) philosophischen Impetus immer aus einem Vokabular der Eigentlichkeit“. Diese Eigenschaft der Romane Bernhards kritisiert Maier darüber hinaus als „pathetische Effekte“, die jedweden Zweifel im Leser im Keim erstickten, da der Rezipient „jedesmal emotional tief getroffen“ sei, so dass ihm die offenen Widersprüche innerhalb der Bernhard’schen Texte gar nicht weiter auffielen.

Offensichtlich verallgemeinert Maier hier vor allem eigene Leseerfahrungen. Zumindest lädt sein autobiografisches Bekenntnis zu dieser Annahme ein, das er bereits 2003 als auszugsweise Vorabpublikation seiner Dissertation in der österreichischen Literaturzeitung „Volltext“ lancierte: „Es gab eine Zeit, da habe ich Thomas Bernhard gemocht. Seine Literatur rührte mich, sie erschütterte mich auch. […] Ich erinnere mich an einen Monat, den ich in einem piemontesischen Dorf verbracht hatte. Ich wollte mich unbedingt umbringen und war allein aus diesem Grund dorthin gereist. Ich hatte nur ein Buch dabei, den Untergeher“.

Maier versucht nun in der Endfassung seiner Arbeit, von derlei persönlichen Offenbarungen wegzukommen. Er wirft dafür zunächst einmal einen extrem nüchternen Blick auf Bernhards Schriften, indem er sich einzelne Sätze aus dem Frühwerk vornimmt und auf ihren logischen Sinn hin untersucht. Dies muss allerdings als ein ebenfalls eher exzentrischer Zugriff auf die Texte bezeichnet werden, handelt es sich doch bei hier thematisierten Büchern wie „Amras“ (1964) oder auch „Ungenach“ (1968) um extrem fragmentarische Notatcollagen, die von explizit als (nahezu) wahnsinnig erkenntlich gemachten Figuren geäußert werden.

Mehr noch: Die permanente Irritation ist ja gerade das formgewordene Strukturmerkmal dieser Romane, denen man ihren programmatischen Zerfall und ihre perpetuierte Zersetzung alles rational Herleitbaren bereits am Schriftbild ansehen kann. Erscheint dieses doch durch auffällig viele, stakkatohafte Auslassungspunkte als in sich zerrissen. Die Texte zerfasern aber auch inhaltlich: Sie bestehen aus unzusammenhängenden Briefpassagen, kruden Aphorismen und wirren, tagebuchartigen Notizen, die gerne mitten im Satz abbrechen und so manchmal eher noch als vertrackte Sprachmelodien beschreibbar sind denn als semantisch definitiv ergründbare Sinnzusammenhänge: „und die Philosophien, nicht die Philosophen wohlgemerkt, philosophieren, das heißt verundeutlichen, verfinstern, verübeln, vernichten“, heißt es etwa in „Ungenach“ – womit die Sprachskepsis als poetologisches Fundament des Texts doch recht deutlich betont wird.

Es ist Maiers gutes Recht, sich gewissermaßen dumm zu stellen und zu schreiben, er könne bei genauem Hinsehen überhaupt keinen Sinn in solchen Sätzen erkennen. Genauso kann man als Interpret jedoch auch die Meinung vertreten, gerade dieser Gesichtspunkt der frühen Bücher Bernhards vermittele „gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Aspekte, die seine Texte nach wie vor zu den komplexesten und brisantesten Zeugnissen der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit und Sprache zählen lassen“, wie etwa Bernhard Judex in seinem Kommentar zu einer aktuellen Neuausgabe von „Amras“ bemerkt. „Folgt man dem französischen Literaturtheoretiker Roland Barthes (1915-1980), wonach die auktoriale Instanz des allwissenden Erzählers an ihr Ende gelangt ist, lässt sich ‚Amras‘ als ein Text lesen, dessen Struktur über die Moderne hinausgeht“, schreibt Judex – und fasst damit lediglich das zusammen, was man mittlerweile als hinlänglichen Konsens der Forschung bereits sogar schon bedenkenlos an den Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe weitergeben kann.

Maiers akribische Satzanalysen jedoch, die den literaturgeschichtlichen Zusammenhang des modernen Wirklichkeitszerfalls und des Verlusts jeder philosophischen, theologischen und rationalen Sicherheit – zumal nach der unhintergehbaren Zäsur Auschwitz – vollkommen ignorieren, erhalten bereits zu Beginn von Maiers Studie den Ruch des unfreiwillig Komischen: „Bernhard legt in seiner frühen Prosa den Menschen Sätze in den Mund, die uns in ihrer Bedeutung unklar scheinen und vielfältige Interpretationen zulassen“, lautet hier die wenig überraschende Erkenntnis.

Ganz so, als habe Maier als Schriftsteller und – was bei einer Dissertation nicht unwesentlich problematischer erscheinen muss – als Literaturwissenschaftler tatsächlich noch niemand erklärt, dass Literatur per se durch Bedeutungsvermehrung im Kopf der Leser zum Leben erweckt werde und nicht etwa wie eine simple mathematische Formel oder das örtliche Telefonbuch funktioniere. Man fragt sich, was Maier wohl schreiben würde, legte man ihm eine beliebige Seite aus James Joyces „Finnegans Wake“ (1939) oder Arno Schmidts „Zettel’s Traum“ (1970) vor: Mit seinen Maßstäben dürfte es Maier auch hier nicht unbedingt leicht fallen, den einen ‚Sinn‘ jedes aus dem Zusammenhang gegriffenen Satzes zweifelsfrei herauszufinden.

Maier liest Bernhards fiktive Welten des Leidens und der Geisteskrankheit jedoch davon unbeirrt als gleichsam billig ertricksten „existentiellen Richtigkeitsbeweis“, als eine bluffende „Methode der permanenten Wahrheitserzeugung“. „Ein vergleichsweise geringer literarischer bzw. denkerischer Aufwand erzielt somit einen größtmöglichen Eindruck“, lautet sein entrüsteter Vorwurf.

Diese „Bluff“-Kritik scheint aufgrund identifikatorischer Lektüre übrigens recht gern gegenüber besonders ‚rechthaberisch‘ und ‚wortmächtig‘ auftrumpfenden Autoren geäußert zu werden. So erschien etwa Anfang der 1990er-Jahre eine vergleichbare Arbeit zu Arno Schmidt, die den offenen „Bluff“-Vorwurf bereits im Titel trug. Derartige Deutungsansätze haben allerdings einen schnell verpuffenden Interessen- und Erkenntniswert, wie sich auch in diesem Fall bald zeigte. Ist doch der literaturwissenschaftliche Ertrag solcher hermeneutischer Manöver gleich Null.

Auffällig an Maiers Ansatz ist zudem, dass er die komischen Aspekte auch des Bernhard’schen Frühwerks konsequent ausblendet beziehungsweise überhaupt nicht wahrnehmen will. Seine Studie liest sich deshalb mehr wie eine emanzipierende Auseinandersetzung mit der ‚ersten Generation‘ von Bernhard-Interpreten, die die ihnen vorliegenden Texte der 1970er-Jahre noch fast ausschließlich als Werke eines verfinsterten „Unterganghofers“ und „Alpenbecketts“ lasen. „Wenn man ‚Frost‘ liest zum Beispiel“, blödelte Bernhard 1981 im Gespräch mit Krista Fleischmann über seinen zweifelsohne düsteren Debütroman gegen dieses Klischee an, „ich hab’ ja immer schon Material zum Lachen geliefert. Das ist eigentlich alle Augenblick’ hellauf zum Lachen. Ich weiß nicht, haben die Leut’ keinen Humor oder was?“

Auch wenn man mit dieser spaßigen Selbsteinschätzung Bernhards als Literaturwissenschaftler gewiss mit aller Vorsicht umzugehen hat, so ist es doch nicht einzusehen, warum Maier Bernhards heute längst erkannte humorige Seite in seiner gesamten Arbeit so konsequent ignoriert. So zitiert er etwa die in „Ungenach“ zu findende Notiz „Entdeckung, daß mein Gehirn lautlos arbeitet“, die selbstverständlich absurd und gerade deshalb auch als ziemlich lustige Bemerkung lesbar ist, um sich über mehr als eine ganze Seite erfolglos den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man den Satz nun neurophysiologisch, phänomenologisch oder metaphorisch erklären könne.

Hier präzisiert Maier übrigens seine These, wonach auch die unablässige monologische Suada der Bernhard’schen Figuren vor allem dazu da sei, ein logisches Zweifeln beim Leser schon im Ansatz zu verhindern: „Wenn man sich die Gründe dafür, warum nie jemand [Bernhards Protagonisten im Text] unterbricht oder nachfragt, klarmacht, hat man ein Grundmuster von Bernhards Prosa verstanden“, behauptet Maier. „Dadurch daß die Sprecher sich immer schon einig sind“, meint er, „erzeugt diese Prosa einen Eindruck großer Geschlossenheit. Verwunderung über das Gesagte hat darin keinen Platz, weil dem Leser ‚Verwunderung‘ als mögliche Einstellung zum Geschriebenen vom Text überhaupt nicht angeboten wird“.

Eine allerdings erstaunliche Unterstellung inmitten einer Interpretation, die Maier Zitaten aus einem frühen Roman Bernhards widmet, der den von ihm offenbar ‚überlesenen’ Titel „Verstörung“ trägt. Zumal Maiers verzweifelte logische Sinnsuche offensichtlich selbst ein beredtes Zeugnis eigener Irritationen ablegt und seine Behauptung somit schon im Ansatz ad absurdum führt.

Zur Kritik an Bernhards autobiografischen Erzählungen

In der zweiten Hälfte seiner Arbeit knöpft sich Maier auch noch Bernhards so genannte autobiografische Erzählungen vor, um ihnen allen Ernstes mangelnden Realitätsbezug vorzuwerfen. Er moniert, dass Bernhard etwa in seinem Roman „Der Keller. Eine Entziehung“ (1976) „pathetische Effekte“ intendiere, „die bei genauer Betrachtung nicht gut zusammenstimmen können“. Bernhard spreche erklärungsbedürftigerweise von sich selbst in „Superlativen“, ja rede „ausschließlich undifferenzierend und positiv über sich“. Mehr noch: Der „fünfzehnjährige Knabe“ Bernhard werde im Roman sogar „motivisch in die Nähe christlicher Heiliger im Mittelalter gerückt“, wobei Maier die Möglichkeit einer ironischen Auffassung dieser Beobachtung kategorisch zurückweist.

So fragt er sich rhetorisch: „Ist dieses exorbitante Selbstlob Manifestation eines irgendwie gearteten Wahrheitswillens?“. Maier zieht diesen „Wahrheitswillen“ Bernhards also triumphierend in Zweifel, um ihn in immer wieder neuen Anläufen als bloß „taktisches Manöver“ zu entlarven – Bernhards autobiografische Texte seien nichts weiter als „widersprüchliche Heroisierungen der eigenen Person, ermöglicht durch einen doppelbödigen Umgang mit unserem alltagssprachlichen Wahrheitsbegriff“. Diese verblüffende Kritik an Bernhards autobiografischer Pentalogie gipfelt in der auf den Roman „Die Kälte. Eine Isolation“ (1981) bezogenen, blumigen Feststellung: „Wäre Bernhards autobiographischer Text ein Haus, würde es sofort einstürzen“.

Nicht nur, dass Bernhards autobiografische Texte bekanntlich keine Häuser sind und deshalb auch nicht einstürzen können. Auch der Vorwurf mangelnden Wahrheitswillens an einen Verfasser moderner Romane muss erstaunen. Selbstverständlich rennt Maier mit seiner Interpretation in der Bernhard-Forschung offene Türen ein: Ist man sich doch hier seit Jahrzehnten darüber im Klaren, dass Bernhards autobiografische Texte nicht ohne Weiteres von seinem fiktionalen Werk zu trennen sind – und umgekehrt. Nicht zuletzt stellt Bernhards Erzähler selbst im „Keller“ ausführlich klar, dass jede versuchte Wahrheitsdarstellung immer zur Lüge geraten müsse, woran auch der Wahrheitswille, auf den es beim Schreiben ankomme, nichts zu ändern vermöge: „Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar“, heißt es da apodiktisch.

Angesichts dieser sprechenden Textbefunde zielt Maiers offensichtlich auf einer mutwilligen Fehllektüre beruhender und innerhalb einer Betrachtung literarischer Texte ohnehin ulkiger Vorwurf, Bernhard offenbare eine „offensichtliche Lust am Lügen und Fälschen“, behandele er doch Realität und Fiktion einfach gleich, ins Leere. Zwar räumt Maier an einer Stelle sogar selbst ein, es sei „lächerlich, einem Text, der dem Genre der Autobiographie angehört, nachweisen zu wollen, er habe die Tatsachen entstellt“. Doch hält ihn dies befremdlicher Weise nicht davon ab, dies dennoch zum argumentativen Angelpunkt seiner Dissertation zu machen.

Das (produktive) Missverständnis als Geburtsstunde neuer Werke

Maiers Dissertation suggeriert, Bernhards Literatur intendiere eine durch kalkuliert erzeugte Affekte und Emotionen generierte Vorstellung ‚letzter‘ Wahrheit. Dadurch verliert Maiers Deutung jedoch das Wichtigste – nämlich die Literarizität der untersuchten Texte – aus dem Blick. Hinzu kommt, dass das, was Maier Bernhard vorwirft, ein Spiegelbild seines eigenen fiktionalen Schreibens ist: In den auf „Wäldchestag“ folgenden Romanen „Klausen“ (2002) und „Kirillow“ (2005) wurde zwar eine wachsende Emanzipation Maiers vom Bernhard’schen Stil diagnostiziert. Dies wurde meist mit Maiers abnehmender Benutzung der indirekten Rede als „berauschende[r] Konjunktiv-Orgie“ begründet, wie Ulrich Greiner den für Bernhard und seinen ‚Schüler‘ Maier so charakteristischen stilistischen Kunstgriff in seiner „Zeit“-Rezension zu „Klausen“ nannte.

Allerdings wurde bei derartigen Einschätzungen meist übersehen, dass es auch noch andere Formen literarischen Zitierens gibt, als die bloßer stilistischer Anleihen. Ist doch in erzähltechnischer, inhaltlicher und motivischer Hinsicht nicht zu übersehen, dass Maier seine literarische Anlehnung an typische Bernhard-Topoi seither ungebrochen fortgeführt hat.

So erinnert ja schon das Debüt „Wäldchestag“ nicht nur wegen seines konjunktivischen Stimmengewirrs an Bernhards Texte, sondern zitiert etwa mit der satirischen Herausgeberfiktion, die den Text erst in der letzten Zeile als voluminöse Antragsschrift zur Genehmigung einer AOK-Kur entlarvt, Bernhards großen Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986).

Dass der Leser nämlich erst nach der Lektüre des letzten Satzes an den Anfang von Maiers Roman zurückblättert, um das kryptische Motto „Zur Vorlage an die Kommission zur Bewilligung von Kuren auf Beitragsbasis der hiesigen Kassenstelle“ endlich einordnen zu können, ist ein abschließender Witz, der dem Text als fragmentarischer Abrechnung mit dem ‚hessischen Herkunftskomplex‘ Maiers einen im Vergleich zu Bernhards opus summum dann doch eher grotesken Erzählrahmen verleiht.

Zur Erinnerung: Auch in Bernhards „Auslöschung“ erfährt man erst im letzten Satz, dass es sich bei dem soeben zu Ende gelesenen Text um die Schrift selbst handelt, von deren Projekt die ganze Zeit im Buch immer wieder die Rede gewesen ist. Taucht hier doch durch die knappe eingeklammerte Anmerkung über das Ableben Franz-Josef Muraus eine ungenannte Herausgeberinstanz auf, die den Roman schlagartig als überliefertes testamentarisches Dokument umcodiert.

Anders als bei Bernhard geht es bei Maier jedoch nicht um so große historische und politisch relevante Themen wie die österreichische Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Vielmehr darf der Leser hier den verworrenen Gesprächen ganz normaler junger Männer folgen, die auf Grillfesten und an Lagerfeuern höheren Blödsinn reden, Unmengen Alkohol konsumieren und sich währenddessen vor allem immer wieder den Kopf darüber zerbrechen, wie man schöne junge Frauen, in die man sich verliebt, am schnellsten und effektivsten für sich gewinnen könne.

Die Liste der konkreten Bernhard-Zitate in Maiers „Wäldchestag“ lässt sich trotzdem beliebig fortführen. So zitiert etwa der „Südhesse“ Benno Götz mit seinem Credo „alles ist egal“ wortwörtlich den pessimistischen Epilog aus Bernhards „Keller“. Das titelgebende hessische Waldfest gemahnt wiederum an die Papierrosen-Anekdote in „Korrektur“ (1975) – und der finale ‚vermeintliche Amoklauf‘ des Protagonisten Anton Wiesner an das Ende des Bernhard-Dramas „Vor dem Ruhestand“ (1979).

Solche Anspielungen setzten sich aber auch in den folgenden Büchern Maiers fort. „Klausen“ erinnert schon im Titel an typische Bernhard’sche Schauplätze wie Ungenach oder Altensam – ganz zu schweigen davon, dass der Roman ähnlich wie auch Bernhards „Frost“ in einem abgelegenen Alpental spielt. Wenn Maier also in seiner Dissertation an Bernhards Roman „Der Untergeher“ (1983) kritisiert, dieser verhalte sich zur Klavierkunst Glenn Goulds „parasitär“, so kann man das mit Fug und Recht auch von Maiers stilistischen und poetologischen Anleihen bei Bernhard sagen – übrigens ohne dies unbedingt pejorativ wenden zu müssen.

Stellt Maier in seiner Studie „Die Verführung“ bei seinen logischen Untersuchungen Bernhard’scher Sätze fest, man erfahre als Leser überhaupt nichts Aussagekräftiges über Konrads Gehör-Studie im „Kalkwerk“ (1970), wodurch der Text etwas zum Gegenstand habe, „das selbst nicht erscheint“, so kann es uns kaum noch überraschen, dass dies auf Kirillows geheimnisvolles Traktat aus Maiers letztem Roman ganz genauso zutrifft.

Und wenn der jüngere Autor schließlich bei Bernhard eine fortlaufende Austauschbarkeit fiktional und autobiografisch auftretender Figuren feststellt, um sich damit auf die abgestandene „Ein-Buch-These“ zuzubewegen, die insinuiert, Bernhard habe im Grunde nur an einem einzigen großen Roman geschrieben, so wäre diese Perspektive sicherlich auch auf Maiers eigenes Werk anwendbar – und zugleich genauso fragwürdig.

Zuletzt: Wenn Jörg Magenau in der „taz“ bemerkt, das ausgeschriebene „Etcetera“ sei ein „häufig gebrauchter Begriff“ bei Maier, der seine Prosa strukturiere, so muss man wohl hinzufügen, dass dieses „Etcetera“ auch für Bernhard ungefähr so typisch ist wie das berüchtigte Wort „naturgemäß“. Auffällig ist es nun, dass Maier dieses „Etcetera“ auch in seiner Dissertation immer wieder benutzt und damit eine Formel in einen wissenschaftlich daherkommenden Text hineinschmuggelt, die im Grunde nur als ironische Anspielung verstanden werden kann – als subversives Augenzwinkern an einer Stelle, an der es nach den strengen Regeln der Zunft überhaupt nichts zu suchen hat.

Es sei deswegen zum Abschluss die Prognose gewagt, dass auch Maiers Dissertation in Zukunft weniger als wissenschaftlicher Beitrag denn als genuiner Teil seines produktiven „Bernhard-Komplexes“ gelesen werden dürfte. Maiers Beschreibung dieser intertextuellen „Verführung“ ist tatsächlich nur als eine weitere Folge seines fiktionalen Erzählens über den unüberwindlichen poetischen Einfluss ernst zu nehmen, den sein österreichisches Vorbild auf ihn ausübt – als ein burlesker poetologischer Versuch der ‚Überwindung‘ Bernhards, der ihn nur um so fester an den großen Ahnen kettet.

Anmerkung der Redaktion: Dieser leicht aktualisierte Beitrag erschien zuerst in: Martin Huber, Bernhard Judex, Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Thomas-Bernhard-Jahrbuch 2005/2006. Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2006, S. 191-201.

Literatur

Thomas Bernhard: Amras. Text und Kommentar. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988.

Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.

Thomas Bernhard: Der Keller. Eine Entziehung. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1995.

Thomas Bernhard: Ungenach. Erzählung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998.

Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964.

Harold Bloom: Einflussangst: Eine Theorie der Dichtung. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995.

Sibylle Cramer: An der Heimatfront. Andreas Maiers „Wäldchestag“. In: Frankfurter Rundschau, 18.10.2000.

Ulrich Greiner: Was war da? War da was? Die Quadratur des Gerüchts: ein Experiment von Andreas Maier. In: Die Zeit, 5.2.2002.

Christoph Jürgensen: Das Ganze eine Rederei. In Andreas Maiers Roman „Kirillow“ wird diskutiert, geschwätzt und getrunken, bis nichts mehr sicher ist. In: literaturkritik.de 03/2006.

Martin Henkel: BLUFF auch mare ignorantiae, oder: Des king! s neue Kleider. Eine Studie zu Wesen, Werk und Wirkung Arno Schmidts. Hamburg: Kellner 1992.

Jörg Magenau: Trug und Wahrheit. Andreas Maier schreibt sich mit „Kirillow“ in die erste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur. In: die tageszeitung, 26.2.2005.

Andreas Maier: Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen: Wallstein Verlag 2004.

Andreas Maier: Ein Totalbeherrscher der jeweiligen Situation. In: Volltext Nr. 6/2003, Dezember/Januar.

Andreas Maier: Wäldchestag. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.

Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.

Jan Süselbeck: Der Billigkritisierer. Erst die Rührung und die Erschütterung, dann die Erkenntnis, einem Lügner aufzusitzen: Andreas Maiers missglückter Vatermord an seinem Schriftstellerlehrer Thomas Bernhard. In: die tageszeitung, 25./26.6.2005.

Jan Süselbeck: Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas Bernhard. Frankfurt/Main: Stroemfeld 2006.