Holzschnittartiges aus Beton

Der Roman „Die Vorstadtheiligen“ von Lidia Amejko verliert sich in alltäglichen Heiligenporträts

Von Christian RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Am Anfang war der Beton.“ Lidia Amejkos jüngst im DuMont Verlag erschienener Debütroman „Die Vorstadtheiligen“ beginnt mit der Genesis einer namenlosen, auch geografisch nicht exakt lokalisierten Hochhaussiedlung. Nachdem Gott seine Betonwelt geschaffen hat, ist noch ein letzter Klecks übrig: „Weil Ihm aber keine Idee mehr kam, keine Form und kein Sinn, spritzte der Herr das letzte bisschen Beton einfach auf ein abgelegenes Fleckchen Erde, als gerade keiner hinsah. So entstand unsere Siedlung.“ Das Viertel ist „außerhalb des Schöpfungsplans hingewichst“ – um es in den Worten der Figur ‚Drucker Josef‘ zu sagen, einer der Personen, die täglich vor dem Schnapsladen Jericho herumstehen und trinken.

Das in dieser Passage deutlich werdende Wechselspiel zwischen biblischem Genus Grande und vulgärem Gossen-Vokabular durchzieht als Stilmittel den Gesamttext. Der Plot ist schnell benannt: Die von aller Welt vergessenen Viertelbewohner stricken sich nach dem Vorbild alter Heiligenlegenden moderne Heiligenerzählungen aus den eigenen kläglichen Lebensläufen. Einer von ihnen wird kurzerhand zum Erzähler gekürt und Figur um Figur spaziert an diesem vorbei. So ist etwa die Rede vom ‚Diener Gottes Fistula dem Arbeitslosen‘, von ‚Sankt Derda dem Unerzählten‘, vom Zahlenneurotiker ‚Sankt Digital‘ oder auch vom ominösen ‚Sankt Dormidor dem Traumkodierer‘. Gleich einem surrealistisch-schnapsgetränkten Bilderbogen ziehen die einzelnen Lebensgeschichten vorbei und aus den Lebensläufen der Vorstadtbewohner werden so im Erzählfluss die Legenden der Vorstadtheiligen.

An ein vermeintlich realistisches Erzählen erteilt der Text eine deutliche Absage, „bloß keine Reportage über unsere Siedlung“, brummt eine Romanfigur zu Beginn, und kontrastiv zur Erzählinstanz angelegt gibt es auch eine ‚Sankt Alma, realistische Künstlerin‘ im Text, deren Arbeiten bloß „hohle Kopien“ der Menschen erzeugen, eine „vom Leben abgelederte Wahrheit“. Dieser selbstreferentiell benannte Ansatz, dem Leben in einer tristen Trabanten-Vorstadt nicht unter realistischen Vorzeichen der literarischen Elendsreportage zu begegnen, verspricht eigentlich Interessantes: Was aber helfen eine gute Grundidee und das mit großer Geste erfolgende Aufrufen einer ganzen Armada an Intertexten der Religions- und Philosophiegeschichte – diese reichen bei Amejko etwa von der Genesis zur Hochzeit von Kana, von Nikolaus von Kues zu Heraklit und von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche zu Robert Anton Wilson – wenn die literarischen Mittel, mit denen all das formal umgesetzt werden soll, allzu bieder sind.

So ist bereits die rein additiv-episodische Textstruktur wenig fulminant: Wie im Supermarkt stehen die Romanfiguren Schlange vor der Registrierkasse des Erzählers. Es geht einer nach dem anderen, jeder kommt dran, keiner (zugegeben: immerhin einer) tanzt aus der Reihe. Und am Ende gehen dann eben alle nach Hause. Lässt sich diese schnell langweilig werdende Linearität eines reinen Nacheinander immerhin noch mit der Anlehnung an ebenfalls additiv verfahrende Sammlungen von Heiligenlegenden erklären, so wiegen andere Mängel des Romans schwerer.

Es werden etwa die stets gleichen (wenigen) Stilmittel bis zur Penetranz wiederholt. Es werden nicht etwa Leitmotive wieder aufgegriffen, variiert oder moduliert. Allzu oft herrscht die bloße Wiederholung vor. Bei einzelnen stereotypen Redewendungen, die wohl eine vermeintlich mündliche Erzählsituation suggerieren sollen, jedoch sehr künstlich wirken, mag das noch mit der Übersetzung des Textes aus dem Polnischen zu erklären sein. Andere Elemente des Textes, wie das pausenlose Wechselspiel zwischen religiös-zeremonieller Sprache auf der einen Seite („derweil vor Jericho wir standen“, „denn gerade in jenen Tagen begab es sich“) und Vulgarität auf der anderen Seite verliert schnell seine Wirkung und verkommt zur Masche. Und derart fade Wortspiele wie ‚Modenschau‘ auf ‚Hodenschau‘ hätte Arno Schmidt vermutlich selbst in seinen pennälerhaftesten Momenten wieder zurück in den Zettelkasten gelegt. Auch die konsequente Erhöhung des menschlichen Personals zu Heiligen, einhergehend mit einer gleichzeitigen Vermenschlichung des himmlischen Personals – Gott, der Teufel und etliche Engel sind mit allzu menschlichen Wesenszügen mit von der Partie in der Trabantenstadt – wird schlicht überreizt und entbehrt der subtilen Zwischenstufen.

Die Direktheit, mit der vieles im Text ausgesprochen wird, widerspricht auch den surrealistischen Facetten der Roman-Anlage. Es wäre ja durchaus interessant, wenn Amejko die Abwesenheit von Sinn im Leben der Viertelbewohner mit poetischen Mitteln zeigen könnte. Wenn die Sinnlosigkeit aber stets bloß auf der Inhaltsebene konstatiert wird, wirkt das wenig subtil. So nachvollziehbar die Verweigerung des realistischen Erzähltons auch ist: Amejkos Konzeption führt den Leser vom Regen der literarischen Elendsreportage in die Traufe einer misslungenen mythisch-surrealen Ausgestaltung. Die holzschnittartigen Heiligenporträts des Alltags erhöhen die Hochhaussiedlung eben nicht ins Allgemeingültig-Überzeitliche, sondern verwässern sie ins Belanglos-Beliebige.

In den letzten Jahren herrschte nie Mangel an exzellenten Büchern polnischer Autoren auf dem Buchmarkt. Zu nennen sind etwa Wojciech Kuczok mit seinem im oberschlesischen Industriegebiet angesiedelten Anti-Familienroman „Dreckskerl“, Andrzej Stasiuk mit seiner Topografie des neuen Europas (zum Beispiel in „Fado“), die eher im provinziellen Millieu angesiedelten Romane von Daniel Odija („Das Sägewerk“) oder Olga Tokarczuk, oder auch die sensiblen Auslotungen der Kindheitswelt bei Wlodzimierz Odojewski („Ein Sommer in Venedig“). Diese Bücher zeichnet ein Esprit aus, den man sich als Leser von Literatur erhofft, aber nur selten findet. Lidia Amejko und ihre Vorstadtheiligen passen leider gar nicht in diese Reihe.

Titelbild

Lidia Amejko: Die Vorstadtheiligen. Roman.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann.
DuMont Buchverlag, Köln 2010.
204 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783832195526

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