Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…

Norbert Gstrein präsentiert auch in seinem neuen Schlüsselroman mal wieder nicht „Die ganze Wahrheit“

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein guter Schlüsselroman ist eine feine Sache. Unter dem Schutzmantel der Fiktionalität kann sich sein Verfasser an realen Personen und Geschehnissen abarbeiten, ohne mit juristischen Folgen rechnen zu müssen. Schließlich ist auch ein Schlüsselroman zunächst einmal ein Roman und bleibt somit Erfindung, egal wie nahe diese auch der Wirklichkeit kommen mag. Einem eingeweihten Leser bietet er zusätzlich den Anreiz einer doppelten Lesart, sucht er doch die Stellen, an denen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion überschritten werden und wo die Figuren ihre tatsächlichen Vorbilder entlarven. Außerdem darf er darauf hoffen, bei aller Fiktionalisierung noch das ein oder andere tatsächliche Geheimnis der Porträtierten zu erfahren, weswegen dem Schlüsselroman dank seiner außerliterarischen Referenz nicht nur etwas Authentisches, sondern auch der Ruch des Skandalösen anhaftet. Wie gut ein solcher Roman aber wirklich ist, zeigt sich daran, ob er auch ohne intime Kenntnisse der verhandelten Personen funktioniert und auch dem nichteingeweihten Leser eine spannende Lektüre bietet. Norbert Gstreins Roman „Die ganze Wahrheit“ funktioniert nicht – weder für den wissenden, noch für den unwissenden Leser.

Bereits vor seinem Erscheinen hat dieser Roman für viel Wirbel in der Literaturszene gesorgt. Gstrein selbst hat mit zweideutigen Äußerungen die Erwartungen eines Schlüsselromans geweckt und indirekt ein Porträt der Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz-Unseld angekündigt, deren Verhalten maßgeblich dazu beigetragen haben soll, dass er nach vielen Jahren von Suhrkamp zu Hanser wechselte. Und tatsächlich handelt „Die ganze Wahrheit“ in erster Linie von einer grundlegend unsympathischen Verlegerin. Dagmar heißt sie und vereint in sich eine geradezu unglaubliche Menge schlechter Eigenschaften: Sie ist maßlos esoterisch, narzisstisch, machtbesessen und rücksichtslos, hysterisch und vulgär. Sie verträgt weder Kritik noch Zurückweisung und neigt in der Öffentlichkeit zu melodramatischer Selbstinszenierung. Dass allein würde schon reichen, um sie in die Nähe der schillernden Feuilletongestalt Berkéwicz-Unseld zu rücken. Doch Gstrein geht noch weiter. Wie ihr Vorbild versucht auch Dagmar sich als Schriftstellerin und veröffentlicht – wie ihr Vorbild – neben erotisch angehauchtem Nazikitsch schließlich einen Bericht über das allmähliche Sterben ihres Mannes, des Verlagsgründers Heinrich Glück. Um dessen Andenken vor der verzerrenden Darstellung in Dagmars „Sterbebuch“ zu bewahren, macht sich sein langjähriger Lektor und Vertrauter Wilfried auf, seine eigene Version der Ereignisse aufzuschreiben und präsentiert schließlich die vorliegende „ganze Wahrheit“.

Liefert Gstrein hier also in nur wenig entstellter Form seine Sicht auf den gern behaupteten Niedergang des Suhrkamp Verlages nach dem Tode Siegfried Unselds? Ja, auch. Aber zum Glück nicht nur, denn außer als Abrechnung mit Berkéwicz-Unseld kann man Gstreins Buch auch als Satire auf den Literaturbetrieb oder als Kritik an allem Österreichischem lesen. Der große Suhrkamp Verlag wurde von Frankfurt beziehungsweise Berlin nach Wien verlegt und auf eine allerhöchstens regionale Bedeutung reduziert. Die vier verbliebenen Mitarbeiter verwalten vor allem das avantgardistische Ansehen, das der Verlag sich in seinen Anfangsjahren erarbeitet hat und rechnen jeden Tag mit ihrer Entlassung. Der erfolgreichste Titel ist ein Gedichtband einer katholischen Teufelsanbeterin, dessen für österreichische Verhältnisse anständigen Verkaufszahlen sich aber vor allem mit dem späteren Selbstmord seiner Verfasserin erklären lassen. Positive Kritik gibt es nur, wenn sich die dem Verlag verbundenen „Jubel-Steirer und Hurra-Tiroler“ in ihren Provinzblättern melden. Und Hoffnung setzt man vor allem auf unbekannte junge Talente und alternde Großschriftsteller, die vermutlich eh nichts mehr schreiben. Letztlich aber kehrt Wilfrieds Erzählung von den recht unterhaltsamen Nebenschauplätzen des Literaturzirkus immer wieder zum ungeliebten Zentrum seiner Erzählung zurück: Zu der schillernd-störrischen Dagmar, zu ihrem Hang für alles Okkulte und Mystische und zu ihrem anstößigen Philosemitismus samt erfundener jüdischer Großmutter.

Wie in vielen seiner anderen Romanen und Erzählungen verhandelt Gstrein auch hier wieder die Frage nach der Zuverlässig- und Wahrhaftigkeit von Erinnerungen und der zwangsläufigen Verzerrung, die jedes Leben in der Rückschau erfährt. In „Die englischen Jahre“ beschäftigte er sich bereits mit dem Problem einer unrechtmäßig angeeigneten jüdischen Identität und „Das Handwerk des Tötens“ war ein ebenfalls nur wenig verschlüsselter Schlüsselroman über einen Kriegsberichterstatter. Doch wo er früher ausschließlich in einem ruhigen und präzisen Tonfall schrieb und bei der Konstruktion des Textes wie auch bei der Dekonstruktion jeder letztgültigen Wahrheit subtil und raffiniert vorging, da hat er hier nun sein Repertoire um das Plakative und Polemische erweitert. Das liegt allerdings schon in der Konstruktion des Romans begründet. In Gstreins früheren Texten musste man als Leser den tatsächlichen Verlauf der Handlung erst aus verschiedenen Darstellungen schlussfolgern oder die Identität einer Figur mühsam zusammensetzen. Und manchmal blieb auch am Ende des Buches noch ein Rest an Skepsis und die Frage, ob man allen Fallen des unzuverlässigen Erzählens und den selbstreflexiven Abgründen dieser Vexierspiele erfolgreich ausgewichen war. Hier aber präsentiert Gstrein dem Leser einen Text, der so offensichtlich persönlich gefärbt ist und solch denunziatorische Züge trägt, dass sein Täuschen und Fallenstellen nicht funktioniert. Wenn ein Roman die Wahrheit großspurig im Titel trägt, um sie dann aber konsequent ironisch zu unterlaufen, lässt man sich als Leser irgendwann nicht mehr auf dieses Spiel ein und erwartet gar nichts weiter als Lug und Trug.

Wilfried ist Dagmar nach anfänglichem Wohlwollen nur noch in tiefer Abneigung verbunden. Nachdem er sich weigert, ihr „Sterbebuch“ zu lektorieren, verliert er nicht nur seinen Job, sondern dank gezielt gestreuter Gerüchte auch seinen guten Ruf in der Verlagsbranche. Seine Erzählung erscheint vor diesem Hintergrund als persönlich motivierte Abrechnung, der an den entscheidenden – weil besonders entlarvenden – Stellen jede Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft abgeht. Immerhin aber ist ihm dieses Problem bewusst und er versucht jeglicher Kritik an seiner vermeintlich unglaubwürdigen Darstellung vorzugreifen, indem er sie bereits selbst formuliert und entkräftet.

Müssen die Figuren wirklich so klischeehaft sein? Sie müssen nicht, aber sie sind es nun mal. Ob er sich das nicht alles ausdenke? So etwas Unglaubwürdiges könne man sich doch gar nicht ausdenken: „Die doppelte Pointe und die doppelte Ironie ist, dass ich nichts erfinde und dass [Dagmar] hingegen alles erfunden hat und man es nur nachlesen muss, um sich ein Bild davon zu machen.“ Den Zweifel an der Fiktion zu entkräften, indem man ihn in der Fiktion benennt, das macht Norbert Gstrein wie üblich sehr elegant. Weniger elegant hingegen ist, dass man das Gefühl nicht los wird, dass all diese metafiktionalen Spielereien lediglich dazu dienen, hinter ihrem Schutz nur umso ungehemmter lästern zu können. So baut Gstrein hier mit viel Mühe sein gewohntes Verwirrspiel von Fakt und Fiktion auf, das aber, da es schlicht keine nennenswerte Handlung geschweige denn einen Spannungsbogen gibt, entweder nur um sich selbst kreist und dabei nicht über 300 Seiten tragen kann, oder aber seinem ganz persönlichen und in diesem Falle dann wenig ehrenhaften Zweck dient.

Wenn man aus Gstreins Text „Die ganze Wahrheit“ über Ulla Berkéwicz-Unseld zu erfahren hofft, so ist man enttäuscht, weil man nichts erfährt, was man nicht schon das eine oder andere Mal im Feuilleton und anderswo gelesen hätte. Und wenn man schlicht auf gute Unterhaltung, raffinierte Konstruktionen und geschliffene Sprache hofft, dann ist man enttäuscht, weil man das alles bei Gstrein schon sehr viel besser gelesen hat. So möchte man Wilfried wenigstens am Ende doch noch einmal mit ganzer Überzeugung zustimmen, wenn er – allerdings auf Dagmars Lügengeschichten gemünzt – verkündet: „Es wäre vielleicht interessanter gewesen, wenn es ein Geheimnis gegeben hätte, aber es gab kein Geheimnis, es gab nicht einmal eine richtige Geschichte.“

Titelbild

Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235496

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