Drei Tage

Eine Erinnerung an Thomas Bernhard, der am 9. Februar 2011 80 Jahre alt geworden wäre

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Drei Tage nur liegen zwischen dem Geburtstag und dem Todestag Thomas Bernhards. Es ist, als sollte durch diesen zufälligen kalendarischen Abstand der Satz „Wir gebären rittlings über dem Grabe“ sinnfällig gemacht werden. Aber der Satz ist von Samuel Beckett – und könnte als Motto auch nur über der ersten großen Schaffensphase des österreichischen Autors Bernhard stehen. „Drei Tage“ ist auch die erste Selbstäußerung vor laufender Kamera aus dem Jahre 1970 betitelt, bei der Bernhard, auf einer Hamburger Parkbank sitzend, monologisierend Auskunft gibt über seine Poetik und sein Selbstverständnis und auf die bei der Werkdeutung immer wieder Bezug genommen wurde. Es ist der Bernhard von „Frost“, von „Amras“, von „Verstörung“, der mit einer düsteren Welt von Krankheit und Todesverfallenheit wahrlich verstörend in die literarische Landschaft der 1960er- und 1970er-Jahre einfiel.

Damit war auch die negative österreichische Heimatliteratur geboren, mit Bernhard als „Unterganghofer“. Die Nähe von Geburts- und Todestag scheint immerhin symbolisch den Umstand zu spiegeln, dass der junge Autor aus der frühen Erfahrung von schwerer Krankheit und Todesnähe heraus zum Schreiben fand, glauben wir seiner stilisierten Darstellung in den autobiografischen Schriften über die Zeit seiner Lungenerkrankung und seines Spitalaufenthaltes.

Mit den Werken seit den 1980er-Jahren verschiebt sich der Akzent und damit auch das Bernhard-Bild zur Thematik von Kunst und ihrem Scheitern, wobei der monologische Grundzug beibehalten wird. Die Bühnenstücke, die so regelmäßig wie die Prosatexte, vor allem Romane, erscheinen, tragen gleichermaßen – und noch publikumswirksamer – zu diesem Bild bei. Der repetitiv-kreisende, quasi-musikalische Sprachstil, schon in Reinform ausgebildet in der Erzählung „Gehen“ von 1971 – für mich seinerzeit der Einstiegstext meiner Bernhard-Lektüre und auch noch aus heutiger Sicht das wohl dichteste, durchgeformteste, kompakteste Exempel der Bernhard‘schen Prosakunst –, wurde zum Markenzeichen des Autors und Ausgangspunkt einer bis heute andauernden innerliterarischen Rezeption, die sowohl Parodie als auch die produktive Aneignung eines Stilmusters und Schreibmodells umfasst.

Mehr und mehr trat ein weiterer Zug zum Profil Bernhards in der Öffentlichkeit hinzu: das Skandalisieren, Schmähen und Schimpfen, wobei der Autor und seine Figuren oft kaum mehr zu unterscheiden waren. Im österreichischen Genre der Heimatbeschimpfung wurde Bernhard zu so etwas wie einer Referenzgröße. Auch schon früh angelegt, wenn man an die Bernhard‘schen Preisreden und ihre oft brüskierende Wirkung denkt, hat sich dieser Zug erst später als Teil einer Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit voll entfaltet: der Skandal um die Österreichbeschimpfung im letzten Theaterstück „Heldenplatz“ im Jahre 1988, welcher, gezielt geschürt von der Presse, der Wiener Premiere vorauseilte, dürfte der Höhepunkt sein, nur noch überboten vom posthum wirkenden, testamentarisch verfügten Aufführungsverbot sämtlicher Theaterstücke.

Doch der Avancierung zum österreichischen Nationaldichter, was der seiner Heimat in Hassliebe verbundene Autor zu Lebzeiten stets perhorresziert hat, tat das keineswegs Abbruch. Eine Art Gegengewicht zum Skandalisten Bernhard mag die humoristisch-komische Seite abgeben, die mit den Werken der 1980er-Jahre, vor allem den eingängigeren Theaterstücken immer stärker wahrgenommen wurde, auch in der Forschung. Auch die im Vergleich zum Parkbank-Monolog entspanntere und lässigere Selbstdarstellung des Autors in ÖRF-Film „Monologe auf Mallorca“ mag dazu beigetragen haben. (Nebenfrage: Liegt es in der Logik von Kanonisierung, dass diese im Bewusstsein der Öffentlichkeit in der Regel nie das sperrige Frühwerk eines Autors wachhält? Der Fall Peter Handke mit seiner experimentellen ersten Schaffensperiode oder – im Feld der zeitgenössischen Musik – der musikalische Avantgardist Krzysztof Penderecki vor seiner neoromantischen Wandlung wären Beispiele dafür.)

Zehn Jahre nach dem Tod des Autors konstituierte sich die Internationale Thomas-Bernhard-Gesellschaft, als offizielle Sachwalterin seines Werkes und seiner Wirkungsstätten. 2003 schließlich wurde die große Werkausgabe vom Suhrkamp Verlag auf den Weg gebracht – ein weiteres Zeichen der Kanonisierung. Doch Bernhard-Forscher allein (die sich darüber freuen werden) wie betuchte Liebhaber von repräsentativen Schmuckstücken für das Bücherregal (die sich das leisten können) vermögen das Werk dieses kapitalen Autors nicht am Leben zu erhalten, zumal die Bühnenpräsenz stark abgenommen hat und nicht zuletzt der Buchmarkt auch bedient werden will. So bietet Bernhards Hausverlag, in Ermangelung von Neuem und daher genötigt, nur das Altbekannte immer wieder neu aufzubereiten, neuerdings Auswahlbändchen mit thematischen Stellensammlungen für viele Lebenslagen an: ein Bernhard-Kochbuch, ein Zitatebrevier „Bernhard für Boshafte“, gesammelte Städtebeschimpfungen und aus dem Werk extrahierte Eheszenen. Bernhard zurechtgestutzt auf das handliche Format eines Haus-Humoristen – ob ihn diese Geburtstagsgabe wohl gefreut hätte?

Die Deutsche Nationalbibliothek zählt heute über 1.000 Titel zum Stichwort Bernhard: Neuausgaben, Übersetzungen in nahezu alle Literatursprachen der Welt und vor allem internationale monografische Forschungsarbeiten. Das macht seit Ende der 1950er-Jahre im Schnitt jährlich 20 Neuerscheinungen von und über Bernhard. Diese Bilanz kann sich im Feld der modernen Klassiker durchaus sehen lassen, wenn auch bibliografisch noch nicht die Metaebene wie bei Franz Kafka erreicht ist. Der hat es längst zu einer Bibliografie über Bibliografien gebracht und bei ihm wurde eine wegweisende Konferenz (die von Liblice) ihrerseits wiederum zum Forschungsgegenstand. Aber ähnlich wie bei Kafka, dem Klassiker der Moderne schlechthin, haben sich durch die Jahre fast alle literaturwissenschaftlichen Methoden und Moden an Bernhards Œuvre abgearbeitet, von Existenzphilosophie und Absurdismus über Marxismus, psychologische Ansätze, Dekonstruktion bis hin zum Gedächtnis- und Erinnerungsparadigma. Ich nenne nur ein markantes Beispiel: Rund 30 Jahre nach Ria Endres‘ ideologiekritischem Essay von 1980, der Patriarchalisches zu entlarven glaubte, wird Bernhard nun in einer 180-Grad-Kehre unter vergleichbaren Prämissen die subversive „(De)Konstruktion von Geschlechterbildern“ attestiert – wenn das kein Fortschritt ist. Die Palette der Autoren in vergleichenden Studien reicht von Adalbert Stifter, Arthur Schopenhauer, Arthur Schnitzler bis hin zu (weniger naheliegenden) Autoren wie Arno Schmidt, Christoph Hein und Rainald Goetz.

So international wie die Forschung ist auch die produktive Wirkung auf andere Schriftsteller. Ich greife nur zwei der jüngsten Rezeptionsfälle heraus, um die Spanne intertextueller Verfahren zu markieren. Der englische Schriftsteller Gabriel Josipovici übernahm ein Bernhard‘sches Erzählmodell für seinen Monolog-Roman „Moo Pak“ (2010), in dem ein Gelehrter vom Typus eines Bernhard‘schen „Geistesmenschen“ auf Spaziergängen durch London sich über Gott und die Welt auslässt. Noch weiter geht die kulturelle Adaption bei der jungen serbischen Autorin Barbi Markovic, die 2006 den Erzähltext „Gehen“ in die Disko-Szene von Belgrad verlegt und daraus ein „Ausgehen“ (2009) gemacht hat, dabei der Vorlage bis in Struktur und Syntax hinein folgend – eine Art popliterarischer „Remix“. Soweit zur Resonanz des „weltliterarischen“ Autors Thomas Bernhard, der daneben immer auch ein österreichischer Autor geblieben ist, mit allen Erscheinungsformen einer Dichterpflege und eines Dichterkultes, die man sonst eher Heimatautoren angedeihen lässt.

Nur eines ist Bernhard nicht geworden: ein Schulautor. Warum? Ich schließe mit einer Hypothese. Daniel Kehlmann, der aus seiner Bernhard-Abneigung keinen Hehl macht, hat einmal in einem Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt geäußert, Bernhard sei nur ein Spötter und Schmäher, aber kein Satiriker – und damit auch kein humanistischer Erzähler von Format. Er hat recht, wenn man sich den prägnanten, weithin in Vergessenheit geratenen Sinn von Satire bewusst macht, wonach zum satirischen Angriff auch die Indirektheit und die Normbindung der Kritik gehören, was beides hier nicht gegeben ist. Echte Satire ist bekanntlich so gut didaktisierbar wie Parabolik; an einem „Übertreibungskünstler“ könnte man einfach nur seinen Spaß haben. Schmähen von Personen, Orten und Zuständen wird nicht dadurch zur Satire, dass man es fiktiven Charakteren in den Mund legt. Wie sonst wären Bernhards Texte für Schüler vermittelbar, wenn schon die schwerer erschließbaren komplexeren Schichten, die – ins Frühwerk zurückreichend – unterhalb der oberflächlichen Textrhetorik des Schimpfens liegen, im allgemeinen Bernhard-Bild des Grantlers nicht mehr hervortreten?

Doch die Schulresistenz ist mitnichten ein Manko. Den österreichischen Jubilar würde es wohl eher freuen, hatte er doch ein testamentarisches Schullektüre-Verbot bezüglich seiner Werke vergessen. Er könnte auch so stolz auf sich sein.