Das Denken in der Kälte
Tim B. Müller schreibt über Herbert Marcuse und die Ideenpolitik im Kalten Krieg
Von Robert Zwarg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Kalte Krieg, der zunehmend in den Mittelpunkt der historischen Forschung rückt, ist mehrmals als „Weltbürgerkrieg der Werte“ bezeichnet worden. Unter dem Eindruck des Dualismus von Freiheit und Gleichheit wurde bis zum ikonischen Jahr 1989 die klassischen Auseinandersetzungen nationaler und ethnischer Couleur verdrängt und neutralisiert. Gerade weil es sich um einen Konflikt der Werte handelte, also einen Streit um die normativen Leitideen eines Gemeinwesens, griff man in der Kriegsführung auch auf eine Personengruppe zurück, denen man gemeinhin eine Distanz zu Geschäften des Tages und ihren Komplexitäten unterstellt, die Intellektuellen. Es ist vor diesem Hintergrund geradezu folgerichtig, sich einer Erforschung des Kalten Kriegs aus Sicht derer zu nähern, die aktiv am ideenpolitischen Kampf um die Begriffe Freiheit und Gleichheit teilgenommen haben. Genau dies tut Tim B. Müller in seiner wichtigen Studie „Krieger und Gelehrte – Herbert Marcuse und Denksysteme im Kalten Krieg“.
Vorangestellt ist der monumentalen Dissertation ein Satz Jacob Burckhardts: „Es ist nicht meine Schuld, daß sich Alles mit Allem berührt.“ Diese Worte erscheinen wie eine vorauseilende Entschuldigung dafür, dass sich der Autor eines Themas angenommen hat, dessen Darstellung schließlich ein Buch von über 700 Seiten ergibt. Ein Namensregister mit knapp 600 Einträgen und eine vierseitige Dankesliste verstärken diesen Eindruck. Zweifelsfrei handelt es sich bei Tim B. Müllers in der Hamburger Edition veröffentlichter Studie um ein Projekt enormen Ausmaßes. Das Buch folgt einem Kreis von Intellektuellen, deren Zentrum – so legt es der Titel nah – Herbert Marcuse bildet und deren Karriere mit der Arbeit im amerikanischen Geheimdienst beginnt. Es sind tatsächlich nicht weniger als drei Themenkomplexe, denen sich der Autor nähert und die jeweils eigene Bücher bilden könnten: Die Geschichte der amerikanischen Geheimdienstabteilung Office for Strategic Services (OSS), der sogenannte „politisch-philantrophische Komplex“, das heißt eine Geschichte der politischen Stiftungen in Amerika und schließlich die ideenpolitischen Debatten im Kontext des Kalten Krieges in den 1950er- und 1960er-Jahren. Der Versuch eines großen Wurfs ist dem Autor nicht anzulasten; der akademische Betrieb produziert davon viel zu wenig. Nur scheinen diese Quellenberge den Autor in die Gefahr zu bringen, dass in ihrer Bearbeitung rote Fäden verloren gehen, Details sich zur Unübersichtlichkeit zerstreuen und Konturen verschwimmen. Probleme der Darstellung drohen dann zu Problemen in der Sache zu werden. Davon ist das Buch trotz der fraglos existierenden Forschungslücke, die es füllt und der Spannung seiner Themenkomplexe, nicht frei.
Tim B. Müllers weit verzweigte Gruppenstudie verfolgt die Wege eines Kreises von Intellektuellen, die alle in dem 1942 gegründeten Office for Strategic Services tätig waren, genauer gesagt, im Bereich Research and Analysis (R&A). Neben den Historikern H. Stuart Hughes, Carl Schorske und Leonard Krieger, dem Philosophen Hans Meyerhoff sowie den Politikwissenschaftlern Otto Kirchheimer und Franz Neumann steht vor allem eine Person im Zentrum: Herbert Marcuse. Es ist nicht immer klar, was diese Akzentuierung rechtfertigt. Fraglos ist er einer der bekanntesten Intellektuellen, des von Müller behandelten Kreises. Fraglos – und das weist Müller detailliert nach – ist sein Buch „Soviet Marxism“ das wohl profundeste Resultat aus der Kommunismusforschung, in der alle Protagonisten aktiv waren. Gleichzeitig finden sich in der von Müller behandelten Gruppe aber auch Intellektuelle mit höchst unterschiedlichen Erfahrungen zusammen. So dürfte vor allem für Marcuse wie für die anderen Kritischen Theoretiker der zentrale historische Folie die Zwischenkriegszeit und später der Nationalsozialismus gewesen sein und weniger der Kalte Krieg.
Vielleicht sollte Marcuse in diesem Zusammenhang eher als Fixstern, denn als repräsentativster Vertreter des Kollektivs gelesen werden. Tatsächlich spielt er zu Anfang des Buches über weite Strecken kaum eine Rolle. Doch sowohl bei den Studien über das nationalsozialistische und post-nationalsozialistische Deutschland als auch in der Ende der 1940er-Jahre entstehenden Kommunismusforschung nimmt Marcuse eine bedeutende Stellung ein. Während aber Intellektuelle wie H. Stuart Hughes in Müllers Buch „Krieger und Gelehrte“ zum ersten Mal in einem deutschen Publikationszusammenhang ausführlich behandelt werden, ist die Literatur zur Kritischen Theorie beinah endlos.
Gerade in diesem Strang des Studie vertritt Müller eine durchaus starke These: Die Zeit und der Kontext von Marcuses Schaffen in den 1950er-Jahren sei nicht nur weitgehend unbeachtet geblieben, sondern auch intellektuell ertragreicher und präziser als die Texte der 1960er-Jahre. Damit ordnet sich „Krieger und Gelehrte“ in einen Diskurs über Herbert Marcuse ein, der zumindest teilweise versucht, populäre Mythen über den Kritischen Theoretiker zu zerstreuen. Programmatisch verschreibt sich das Buch einer „konsequente[n] Historisierung“.
Hatte Thomas Wheatland erst kürzlich in seinem Buch „The Frankfurt School in Exile“ den Einfluss des Kritischen Theoretikers auf die Studentenbewegung deutlich nach unten korrigiert, geht Müller nun daran, den Fokus überhaupt von den 1960er- auf die 1950er- und 1940er-Jahre zu verschieben. Zwar möchte Müller dabei eine teleologische Entwicklung auf die Zeit der Studentenbewegung vermeiden, doch scheint das Buch unweigerlich darauf hinauszulaufen, unter anderem auch deshalb weil mit Hughes und Marcuse zwei Vorbilder der Studentenbewegung untersucht werden. Dazu trägt außerdem die immer wieder evozierte These bei, was der Kreis der Intellektuellen „dienstlich“ produzierte, sei entscheidend gewesen für das spätere Werk. Den Nachweis möchte Tim B. Müller durch eine kaum zu überblickende Menge an Quellen erbringen, deren Referat und Kontextualisierung stellenweise die Deutung zu verdrängen scheint. Deswegen mangelt es dem Buch jedoch keineswegs an deutlichen Positionierungen und immer wieder aufscheinender Sympathien des Autors für bestimmte Protagonisten wie Marcuse und Hughes. Das schließt auch eine oft subkutan und manchmal offen wirksame Präferenz für den Glauben an gesellschaftliche Reform und politische Kritik und gegen den unterstellten düsteren Pessimismus Theodor W. Adornos oder Max Horkheimers ein.
Der Weg in und durch die Kälte
Tim B. Müller folgt seinen Protagonisten von den Büros- und Konferenzräumen des amerikanischen Geheimdienstes, durch die McCarthy-Jahre in die jeweilige Öffentlichkeit der 1960er-Jahre, bis zum Ende ihres intellektuellen Schaffens (lediglich der 1915 geborene Carl Schorske ist noch am Leben). Noch bevor der Kalte Krieg begonnen hatte, war die von Müller untersuchte Gruppe von Intellektuellen bereits zusammen. Gemeinsam erarbeiteten Herbert Marcuse und seine Kollegen im OSS Studien über das nationalsozialistische Deutschland, später über die deutschen Verhältnisse und die Möglichkeiten einer Reeducation. „Mit den Augen des Westens“ zu sehen – um mit einem Buchtitel Joseph Conrads zu sprechen – hieß für sie in allererster Linie, ein Verständnis der deutschen Barbarei zu gewinnen.
Dieser Teil der Geschichte ist inzwischen vielfältig dokumentiert worden, so etwa in den Aufsätzen Franz L. Neumanns und Otto Kirchheimers und den „Feindanalysen“ Herbert Marcuses. Eine synthetisierende Studie der amerikanischen Deutschlanddiskussionen während und nach dem Nationalsozialismus steht allerdings noch aus. Weniger bekannt ist der Zusammenhang zwischen der entstehenden psychologischen Kriegsführung, der Kommunismusforschung und dem Marshall-Plan, der den ideen- und realpolitischen Höhepunkt dieser Phase darstellt und für die Protagonisten zum geradezu paradigmatischen Fall werden sollte. Zum Zwecke der politischen Stabilisierung Deutschlands und Europas beinhaltete der Marshall-Plan nicht nur wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen, sondern auch eine Unterstützung der Westbindung Europas unter demokratisch-sozialistischen Vorzeichen.
Dabei übernahmen die Intellektuellen die Rolle von „ideenpolitischen Übersetzern“. Ihre Aufgabe bestand in der Analyse und schlussendlich der Entschärfung ideologischer Differenzen als conditio sine qua non der Stabilisierung und Demokratisierung Deutschlands (und damit auch der Sicherung der sowjetischen Westgrenze). An diesen Initiativen hatte Linksintellektuelle wie H. Stuart Hughes, Franz Neumann und Herbert Marcuse entscheidenden Anteil. Eindrücklich weist Müller nach, wie sich besonders in der propagierten Europa-Idee einerseits eine Antwort auf den Sowjetkommunismus verbarg als auch eine ideologische Kompensation für den Nationalsozialismus der Deutschen. Die unter dem Mantel des Marshall-Plans erfolgte Unterstützung sowohl demokratischer als auch (nicht-stalinistischer) sozialistischer Gruppen sollte sich als wegweisend für die Kommunismusforschung erweisen. Psychologisch konnte diese Kriegsführung genannt werden, weil sie versuchte, durch die Förderung ideenpolitischer Initiativen das Verhalten der Menschen über ihr Bewusstsein zu ändern. Ruft man sich vor diesem Hintergrund noch einmal die Rede vom „Weltbürgerkrieg der Werte“ in Erinnerung, so erscheint die psychologische Kriegsführung geradezu als die naheliegende Waffe der Wahl der verfeindeten Parteien.
Wie auch in den späteren Kapiteln über die Kommunismusforschung und die politischen Stiftungen liest Müller Institutionen wie das OSS und R&A mit Michel Foucault als Orte der Wissensproduktion und Wissensordnung (welche Rolle die theoretische Nomenklatur zur historischen Darstellung hat, soll hier noch außen vor bleiben). Diese Orte stellten den Intellektuellen Zusammenhänge zur Verfügung, in denen kollektiv und kreativ Aufklärung im besten Sinne betrieben werden konnte. Wie ein Leitmotiv zieht sich dabei Müllers Betonung der wissenschaftlichen Objektivität unter den Protagonisten durch die Darstellung. Anders als einer staatlichen Institution oft unterstellt wird, waren weder die Analysen des post-nationalsozialistischen Deutschlands noch die später folgende Kommunismusforschung ideologisch eingefärbt. Vielmehr dominierte eine Strategie der Einfühlung und der sich immer wieder selbst korrigierenden wissenschaftlichen Objektivität. Diesen Ethos der Intellektuellen im Staatsdienst bringt Müller immer wieder gegen die „Schattenseiten“ des Kalten Krieges in Stellung.
Der Kalte Krieg und die Arbeit der Protagonisten im Staatsdienst schuf einen neuen Typus des Intellektuellen, den „Gelehrten-Krieger“, wie Müller in Anlehnung an Gangolf Hübinger formuliert. Kennzeichnend für den Gelehrten-Krieger ist nicht nur die dem emphatischen Begriff des Intellektuellen fremde Eingliederung in einen hierarchischen Militärapparat, sondern auch die Produktion von Wissen über dessen Verwendung die Produzenten keine Kontrolle hatten. Manchmal erhält die Bezeichnung der Akteure durch Kriegsmetaphern bei Tim B. Müller jedoch eine allzu existenzielle Note (so werden beispielsweise die teilweise geflohenen Intellektuellen „Kriegsgefährten“ genannt). Dennoch vermochten es die Protagonisten vor allem in den 1950er-Jahren, bei Bedarf wieder in die Rolle eines klassischen öffentlichen Intellektuellen zu wechseln, teilweise mit starken Überschneidungen zu ihrer Arbeit bei den Behörden.
Überzeugend zeigt Müller, wie das Paradigma der psychologischen Kriegsführung seinen Weg in die Arbeit und das Werk seiner Protagonisten findet. Das Eindringen in die Geisteswelt des Gegners, das Verständnis des Verhältnisses von Rationalität und Irrationalität bildete die Grundlage der von den Krieger-Gelehrten angestoßenen Wissensproduktion. Dabei grenzt Müller diese Methode stellenweise sehr stark ab von dem für das Institut für Sozialforschung und Herbert Marcuse zentralen Begriff der „immanenten Kritik“, was nicht immer einleuchtet. Gerade eines der längsten und spannendsten Kapitel zu Herbert Marcuses „Soviet Marxism“ legt eher nahe, dass sich zwischen der psychologischen Kriegsführung und der immanenten Kritik zunächst Karl Marx’scher und dann Frankfurter Provenienz stärkere Affinitäten finden als Müller zugesteht. Zurecht stellt das Kapitel zu „Soviet Marxism“ die Studie neben „One-dimensional Man“, als gleichsam ostwärts gewandte (wenn auch weniger präzise) Version des späteren Klassikers der westlichen Studentenbewegung. Doch wo die Differenz liegt zwischen einem Verfahren, dass eine Ideologie auf ihren Wahrheitskern befragt, um ihre Wirksamkeit erklären zu können, und das sich an kritisch an den Rationalitätsmaßstäben eines wie auch immer irrational verfassten Ganzen abarbeitet – so charakterisiert Müller die psychologische Kriegsführung des Kreises – und jenem Verfahren das bei der Kritischen Theorie unter „immanenter Kritik“ firmiert, das macht das Kapitel nicht klar. Dass in „Soviet Marxism“ das Unterscheidungskriterium zwischen totalitären Systemen – um eben keine Totalitarismustheorie zu formulieren – die Stellung zur liberalen bürgerlichen Gesellschaft ist, bildet jedenfalls eher ein zentrales Merkmal der Kritischen Theorie als eine differentia specifica.
Theorie und Darstellung
Wenn Freiheit und Gleichheit die ideenpolitischen Demarkationslinien des Kalten Krieges waren, so kann für den von Tim B. Müller behandelten Kreis von Intellektuellen gesagt werden, dass sie in unterschiedlicher Weise an einer Annäherung beider Prinzipien gearbeitet haben. Das in Amerika weit unverfänglichere Label „democratic-socialist“ zielt auf diesen Konsens. Mit den Augen des Westens zu sehen, meinte nicht nur eine Verteidigung der Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch ein Verständnis des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit als nicht starr gegenüberzustellende Prinzipien.
Der Gesamteindruck des Buches ist der einer engagierten, quellengesättigten Studie, die nicht nur eine Forschungslücke füllt, sondern auch einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges leistet. Was sie zusammenhält, sind vor allem die durchweg spannenden Biografien der Protagonisten, und die oft sehr langen Zitate bringen durchaus ihr Werk zum Sprechen. Eindrücklich und wegweisend für weitere Forschungen ist die Studie vor allem dort, wo sie die zunehmende Spannung zwischen Politik und Akademie, beginnend in den 1950er-Jahren, herausarbeitet; so zum Beispiel bezüglich Müllers These über die Geburt der intellectual history aus dem Geist des Kalten Krieges, einem der spannendsten Kapitel der Buches. Das Projekt einer umfassenden Kontextualisierung der Arbeit seiner Protagonisten ist Tim B. Müller ohne Zweifel gelungen. Unabgegolten bleibt jedoch bis zum Schluss das Verhältnis von Theorie und Darstellung beziehungsweise von theoretischem Vokabular und dem Material. Letzteres scheint stellenweise ein Eigenleben anzunehmen, so dass Deutung und Darstellung unvermittelt nebeneinander stehen. Begriffe wie „Dialektik“, „Dispositiv“ und „epistemologische Grundlagen“ fügen sich nicht ein in das Gesamtgefüge der Studie. Mag die Gegenüberstellung von Archivar und Theoretiker am Anspruch des Buches vorbeizielen, so bleibt am Ende doch der Eindruck, dass sich die Fransen und Mäander des Materials auch durch ein noch so elaboriertes, aber eben nachträglich herangetragenes Theorievokabular nicht bewältigen lässt.