Swingende Höflinge

„Skandal im Jagdschloss Grunewald“: Wolfgang Wippermann erzählt von Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1891 konnten sich die Berliner über mangelnden Stoff zum Klatsch und Tratsch nicht beklagen: Berichtete die Gerüchteküche doch von einer Sexparty im Jagdschloss Grunewald, an der die „Vornehmsten bei Hofe“ teilgenommen hatten. Unter ihnen enge Verwandte Wilhelms II. wie seine Schwester Charlotte von Meiningen und sein Schwager Ernst Günther von Schleswig-Holstein, besser bekannt unter seinem Spitznamen „Herzog Rammler“, seit er einmal im Bett einer Prostituierten einen Orden verloren hatte. Was die Sexparty besonders brisant machte: Sexuelle Handlungen sollten auch von den Damen ausgegangen sein, und Männer sollten sich mit Männern vergnügt haben.

Das behaupteten jedenfalls anonyme Briefe, die das ganze Jahr 1891 hindurch Teilnehmer jener Party sowie weitere Hofangehörige erreichten. Und da die Herrschaften ihre Post üblicherweise vom Personal öffnen ließen, konnte sich deren Inhalt rasch verbreiten. Die angeblichen Aktivitäten wurden in diesen Schreiben gleich mit pornografischem Bildmaterial illustriert, wobei die Köpfe der Darsteller mit den ausgeschnittenen Köpfe der jeweiligen Adligen überklebt worden waren. Wolfgang Wippermann hat der weitgehend in Vergessenheit geratenen Affäre sowie dem sich anschließenden „Kotze-Skandal“, der in den Geschichtsbüchern bislang im Schatten des Harden-Eulenburg-Skandals stand, ein angenehm unterhaltsam zu lesendes Büchlein gewidmet. In ihm wird ein erhellendes Licht auf Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit im wilhelminischen Kaiserreich geworfen.

Was bei besagter Feier tatsächlich geschehen ist, vermag natürlich auch der Berliner Historiker nicht zu klären. Problematisch scheinen allerdings Wippermanns Versuche, die Urheberschaft der anonymen Briefe zu klären. Seine Verdächtige, Charlotte von Meiningen, erscheint wenig überzeugend. Neid und Missgunst der notorisch klatschsüchtigen Dame mögen zwar ein mögliches Motiv gewesen sein. Aber warum sollte sie, selbst Teilnehmerin der Feier und so wenig ein Kind von Traurigkeit wie jene „mannstolle“ Charlotte von Hohenau, die zur Hauptzielscheibe der Briefe wurde, die Aufmerksamkeit letztlich auch auf ihr eigenes Intimleben lenken?

Interessanter ist die These, der Skandal um den Zeremonienmeister von Kotze, den viele am Hof, auch der Kaiser, aufgrund seines eitel-„weibischen“ Auftretens als Urheber verdächtigten, habe das Ende überkommener Männlichkeitsvorstellungen beschleunigt. Kotze, nachweislich unschuldig, forderte Genugtuung und tötete 1896 bei einem Duell seinen Intimfeind Baron von Schrader. Das „Duellunwesen“, offiziell verboten, in Adelskreisen jedoch für jeden „Ehrenmann“ eine Pflicht, stand plötzlich auf der Tagesordnung. Der Reichstag debattierte, die bürgerliche Presse machte Wilhelm II. für die Eskalation des Duellwesens verantwortlich – und die Ehrenmänner mit Karikaturen lächerlich. Lesenswert ist Wippermanns Buch nicht zuletzt deshalb, weil es die Geschichte von Ehre- und Männlichkeitsvorstellungen erzählt, die heute in veränderter Form und in anderen Schichten („Ehrenmorde“) zurückzukehren scheinen.

Titelbild

Wolfgang Wippermann: Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich.
Primus Verlag, Darmstadt 2010.
167 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896788108

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