Polka, Walzer, Boogie Woogie – ein Sammelsurium mit Schlagseite

Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik von Rudolf Lorenzen

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Polka, Black Bottom, Cake Walk, Horse Trot, Onestep, English Waltz, Allemande, Ländler, Valsecita, Flottenmarsch, Rancho, Rumba, Paso Doble, Jig – die meisten dieser Namen klingen fremd in Laien-Ohren. Vielen Tänzen war tatsächlich nur ein kurzer Auftritt auf den Tanzböden der Welt vergönnt, bevor sie von der nächsten Mode abgelöst wurden. Andere, wie die Polka, traten einen langlebigen und einflussreichen Weg um den Globus an. Der Berliner Schriftsteller und Journalist Rudolf Lorenzen erzählt auf 444 Seiten in einem lockeren, charmanten Ton Geschichten über bekannte und unbekannte Tänze, woher sie kamen, wie sie sich verbreiteten und welche neuen Tänze aus ihnen entstanden – und stets setzt er sie in Beziehung zu den historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ihrer Zeit. Er schöpft dabei aus dem ungeheuren Wissen, das er sich im Laufe der Jahrzehnte seiner Beschäftigung mit der Geschichte des Gesellschaftstanzes und der Unterhaltungsmusik angeeignet hat.

Trotz des lockeren Tons und des verheißungsvollen Titels „Rhythmen, die die Welt bewegten“ handelt es sich eher um ein Sammelsurium für Spezialisten, die Freude an den unzähligen Details und Liedertexten haben, als um ein Buch, das Laien fesseln könnte. Die Fülle an Informationen wirkt schnell verwirrend, denn die einzig konsequent durchgehaltene Struktur des Werkes besteht in der Einteilung nach den Taktmaßen 2/4-, 3/4- und 4/4-Takt und nicht etwa nach Rhythmen, wie der Titel nahelegen würde. Infolge dieser Einteilung werden unter einer Überschrift rhythmisch so verschiedene Tänze wie Polka und Blues behandelt und dementsprechend munter geht es geografisch zwischen Europa und Amerika hin und her. Zeitlich geht Lorenzen zwar grundsätzlich chronologisch vor, jedoch mit häufigen Vor- und Rückblenden, manchmal nur um einzelne Jahre, zuweilen aber auch um Jahrzehnte. Die Zusammenhänge, die er beschreibt, sind meist gut nachvollziehbar, über einige Behauptungen muss man sich allerdings sehr wundern. So soll beispielsweise die Samba „im Grunde nichts weiter als eine tropikalisierte Form der alten böhmischen Polka“ sein. Eine abenteuerliche Fehleinschätzung, die Lorenzen erwartungsgemäß auch nicht schlüssig zu belegen vermag. Ebenso wie die afro-brasilianischen Wurzeln der Samba schiebt er die enorme Bedeutung der Pariser Jazz-Szene der 1930er- und 1940er-Jahre für die europäische Tanz- und Unterhaltungsmusik an den Rand.

Mit großer Aufmerksamkeit dagegen widmen sich die Geschichten jeder Art von Musik, die mit Militärischem in Verbindung gebracht werden kann – beinahe so, als sei die Entwicklung der Tanz- und Unterhaltungsmusik jenseits von Feldzügen und Truppenbelustigungen von untergeordneter Bedeutung. Es ist unbenommen verdienstvoll, die Verbindung von Militär und Populärmusik zu beleuchten, aber der weltumspannende Anspruch des Buchtitels lässt eine viel ausgewogenere Gewichtung erwarten, selbst dann, wenn man den einschränkenden Untertitel „Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950“ berücksichtigt.

Fachleute werden dennoch eine Vielzahl spannender Informationen in diesem Buch finden – wenn sie lange genug suchen. Das ist nicht ganz einfach, denn es gibt weder ein Register noch ein Verzeichnis der zitierten Liedtexte, die Literaturangaben sind ohne Hervorhebung in den laufenden Text eingearbeitet, viele Überschriften lassen an Aussagekraft zu wünschen übrig und die Unterüberschriften haben ihren Weg ins Inhaltsverzeichnis erst gar nicht gefunden. Jedem der drei Hauptteile ist zwar eine eindrucksvolle alphabetische Aufzählung von Tänzen vorangestellt, doch nur ein Teil der Namen taucht irgendwo im folgenden Text wieder auf. Hier wurde die Chance vergeben, das umfangreiche Spezialwissen des beinahe 90-jährigen Autors unter einem angemessenen Titel und in einer gut nutzbaren Form zugänglich zu machen.

Titelbild

Rudolf Lorenzen: Rhythmen, die die Welt bewegten. Geschichten zur Tanz und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950.
Verbrecher Verlag, Berlin 2010.
445 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426284

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