Vier biblische Gestalten und ihre Rezeptionsgeschichte

Dick Harrison untersucht, wie die biblischen Prototypen – der Verräter, die Hure und der Gralshüter – zu zeitlosen Symbolgestalten wurden

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judas Iskariot, einer der zwölf Apostel, verriet Jesus, Maria Magdalena folgte Jesus nach Jerusalem, Pontius Pilatus sprach über Jesus das Todesurteil und Josef von Arimathäa bestattete ihn. So unterschiedlich sie sind, so besaßen sie alle vier eine konkrete Beziehung zum persönlichen Drama Jesu Christi.

Nachdem sich Judas aus Verzweiflung über seinen Verrat an Jesus von Nazareth erhängt hatte, wurde nach der Himmelfahrt Christi durch das Los Matthias an seine Stelle gewählt. Nicht ganz so eindeutig ist Maria Magdalena zu identifizieren, da verschiedene Berichte des Neuen Testaments und spätere Legenden zu ihrem Namen und ihrer Gestalt zusammengezogen wurden. Es handelt sich dabei einmal um die Maria von Magdala, der Jesus sieben Teufel ausgetrieben hat (Markus 16,9). Diese Maria Magdalena war nach allen vier Evangelien eine der Zeuginnen der Auferstehung Christi, nach Lukas 8,2 auch schon seine Jüngerin.

Als Maria Magdalena wird aber auch die Sünderin gedeutet, die mit ihren Tränen die Füße Christi netzte, sie mit ihren Haaren trocknete und salbte, sowie die Maria von Bethanien, die Schwester des Lazarus. Damit Jesus von Nazareth rechtskräftig verurteilt werden konnte, mussten ihn die Juden dem römischen Prokurator Pilatus vorführen, der als einziger die Strafe der Kreuzigung, auf der die Juden bestanden, über Jesus verhängen konnte. Wenn er auch die religiöse Verbitterung der Juden über den Messiasanspruch Jesu nicht verstand, so musste er doch den Anschuldigungen, Jesus sei ein politischer Hochverräter, der den jüdischen Königsthron anstrebe, nachgeben. Aber erst nach langem Zögern und dem Versuch, dem jüdischen König Herodes Antipas die Entscheidung zu überlassen, verurteilte er Jesus zum Kreuzestod. Alle Evangelien berichten von Josef von Arimathäa, der Pilatus um den Leichnam Christi bat, damit er ihn begraben konnte. Er ist eigentlich eine der rätselhaftesten und unbekanntesten Nebenfiguren im Neuen Testament, aber durch die Assoziierung mit Jesus sollte er später in den mittelalterlichen Geschichten zu einem neuen Leben erweckt werden.

Was ist mit diesen biblischen Gestalten, die außerhalb des Kreises der großen Apostel und der Evangelisten stehen und die die Verfasser der Bibel nur mit Namen nennen und mehr oder weniger kurz vorstellen, später geschehen? Die Nachwelt wob Legenden und Geschichten um sie, weltweit erfuhren sie unterschiedliche Auslegungen, die Literatur und die bildende Kunst bemächtigten sich ihrer und ihre fantasievolle Ausgestaltung reicht in Filmen und Bestsellern bis heute. Dick Harrison, Professor für Geschichte an der Universität Lund (Schweden), stellt auf einer imponierenden Stoff- und Materialgrundlage und mit einer ungeheuren Akribie dar, wie die lapidaren Angaben des Neuen Testaments in den Jahrhunderten danach angereichert, ausgeschmückt, mit anderen legendären Begebenheiten und Gestalten verknüpft, dann wieder getrennt wurden und schließlich ganz eigene Wege gingen. So wurde Judas Iskariot zum Erzverräter der abendländischen Kultur, zum Sinnbild für infernalische Falschheit, Maria Magdalena zur reumütigen Sünderin, zur neuen Eva, die den Fluch bricht, der durch Evas ursprüngliches Handeln auf der Welt lastet, und Joseph von Arimathäa – das ist wohl die erstaunlichste Verwandlung – zu einem christlichen Missionar in Westeuropa und mit dem Heiligen Gral verbunden. Der Verräter, die Hure, der Selbstmörder und der Gralshüter gingen in das kulturgeschichtliche Bewusstsein als zeitlose Symbolgestalten ein.

Es ist keine leichte, unterhaltsame Lektüre, die uns der Verfasser da aufnötigt. Verwirrend die Fülle der Fakten, Belege, Dokumente, Zeugnisse, alles wird so unübersichtlich ausgebreitet, dass der Leser seine liebe Not hat, den roten Faden nicht zu verlieren, nicht im Strudel der Geschehnisse, Geschichten und Auslegungen zu ertrinken. Auch wenn der Verfasser wiederholt betont, dass er eigentlich Geschichten erzählen wolle, ist sein Buch doch eher etwas für den interessierten, aber bereits kenntnisreichen Professionalisten denn für den mehr oder weniger ahnungslosen Laien, der mit diesem Sachbuch seine Kenntnisse erweitern will. Man bleibt im Gestrüpp dieser Detailakkuratesse einfach hängen und kann sich nur in mehreren Ansätzen und Schüben bis ans Ende des Buches durchkämpfen.

Und doch ist es beeindruckend, wie der Verfasser unvoreingenommen Zeugnis um Zeugnis, Geschichte um Geschichte heranzieht, sie prüft, verwirft oder bestimmte Aspekte aufgreift, sie weiterführt in die nächste Überlieferung europäischer Erzählkultur, ins folgende Jahrhundert der Legendenbildung. Wie die biblischen Figuren inständig in neue Richtungen entwickelt wurden, entschuldigende und verzeihende Versionen der spätantiken Christen oder auch der christlichen Tradition Afrikas der umso rigoroseren Verurteilung im christlichen Westeuropa gegenüberstanden. Wie die Legendenbildung sie aus ihrem biblischen Ambiente herauswachsen ließ, wie die Geschichtsschreiber und Erzähler aus ihnen individuelle Schicksale und Charaktere formten. Das Bedürfnis und der Wille des Menschen zu erzählen, so stellt es Harrison überzeugend dar, die eigene innere Kraft der Erzählung und der Einfluss der großen Erzähler auf die Phantasie des Volkes verlieh den Figuren fundamental verschiedene Traditionen, schenkte ihrem Leben einen neuen Sinn. Die Legenden um die biblischen Figuren wurden seit dem Spätmittelalter zum Ausgangspunkt für weitere Legenden, in denen die Reisen und Abenteuer der Figuren noch weiter ausgedehnt und ausgeschmückt, ihre Funktionen hervorgehoben, ausgetauscht und verändert wurden. Die biblischen Figuren verwandelten sich in Symbolgestalten – der Verräter, die Hure, der Selbstmörder, der Chef, der Unbekannte, der gute Mann – , denn jede Zeit brauchte ihre eigenen Symbole.

Aus dem angesehenen Jünger, dem frommen Denker und Verkünder Judas Iskariot sollten die Schriftsteller der kommenden Jahrhunderte den schlimmsten Schurken formen, den die abendländische Tradition kennt. Als Judas ins Mittelalter eintrat, war er ein gezeichneter Mann, ein Begriff des Bösen, der bald noch böser werden, einem noch schlimmeren Schicksal entgegen gehen sollte. Dagegen versucht sich die moderne Kultur seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts an Judasrevisionen, an entschuldigenden und verzeihenden Schilderungen eines Jüngers, von dem nun behauptet wird, er sei viel besser als sein Ruf. Die Gnostiker waren nicht die einzigen, die sich auf Judas` Seite stellten. Auch von jüdischer Seite gab es bereits in der Spätantike und Frühmittelalter solche Zeugnisse. Harrisons Schlussfolgerung ist, dass wir es mit der Rachegeschichte eines Verlierers zu tun haben, einer jüdischen Revanche von unten gegen die Christen, die während des Mittelalters wiederholt ihren Zorn an jenem Volk ausließen, dem Jesus selbst angehört hatte. In die bildende Kunst ging Judas als ausgeprägter Selbstmörder ein, als Mahnung an den Betrachter, sich auf Gottes Gnade zu verlassen und nicht zu verzweifeln.

Im Evangelium tritt Maria Magdalena als Lehrerin, als dynamische Apostelin, nicht als Hure auf. Ihr Bild als widerwärtige Sünderin, die später erlöst wird, stammt aus dem Mittelalter. Sie wurde als ein Vorbild für eine fromme Lebensführung verstanden. Im Zusammenhang mit Bernhards Kreuzzugspredigt in Vezelay wurde die Geschichte verbreitet, Maria Magdalena sei in Begleitung von Maximus nach Frankreich gekommen und habe hier das Evangelium verkündet. Sie sei, so Harrison, ein seltsames Kaleidoskop menschlicher Projektionen gewesen. So konnte sie Zeugin der Auferstehung Christi, eine göttliche Weisheitslehrerin, eine meditierende Einsiedlerin ebenso wie ein verwöhntes Flittchen, versessen auf Luxus und Sex, oder eine reumütige Sünderin, eine den Tod verachtende Missionarin fern der Heimat, ein energisches Frauenzimmer, das am römischen Kaiserhof intrigierte, die Freundin Jesu, die trauernde Frau an dessen Grab sein. In anderen Legenden ist sie Hure, mitunter nahe Verwandte der Jungfrau Maria, manchmal die Schwester des auferstandenen Lazarus.

Pontius Pilatus’ Berühmtheit beruht nicht allein auf seiner Erwähnung in den Evangelien, sondern auch darauf, dass die Urkirche ihn in den Jahrhunderten, die auf das Leben Jesu folgten, herausgehoben hat. Erst im europäischen Mittelalter entstand die „schwarze Legende“, die ihn zu einem verurteilten Mann machen sollte, assoziiert mit dem Bösen und der Hölle. Dagegen wurde er in der koptischen Tradition zum Heiligen in Äthiopien. Wir sehen uns dem merkwürdigen – quellenkritisch unhaltbaren – Fall gegenüber, dass Pilatus in der christlichen Tradition Afrikas ein heiliger Märtyrer wurde, während er gleichzeitig im christlichen Westeuropa zum Selbstmörder gestempelt wurde. Die innere Dynamik der Erzählungen führte Pilatus also auf merkwürdige, widersprüchliche Pfade. Als verzweifelter Selbstmörder gerät er in dieselbe teuflische Falle wie Judas Iskariot. In der abendländischen Erzählkultur entwickelte sich Pilatus zum großen Feigling – der Machtmensch, der sich weigert, Verantwortung zu übernehmen, der menschliche Archetyp des banalen Bösen.

Im Neuen Testament wird Josef von Arimathäa einzig im Zusammenhang mit der Grablegung Jesu erwähnt. Das Fehlen von weiteren Informationen über ihn brachte Legenden und Kultplätze zum Aufblühen. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts durchlief Josef von Arimathäa eine wundersame Entwicklung vom barmherzigen Bestattungsunternehmer und heiligen Gefängnisinsassen zum Missionar in Westeuropa und zum Gralshüter. Er sollte im 13. Jahrhundert mit dem südenglischen Glastonbury aufs engste verknüpft werden. Um hier in Glastonbury Wurzeln zu schlagen, musste Josef, so hat es Harrison recherchiert, zuerst mit dem Heiligen Gral und danach – über den Gral – mit König Artus und seinen Rittern verbunden werden. Kein einziger Geschichtsschreiber oder Dichter Britanniens hat sich in der Epoche vom 5. bis 8. Jahrhundert die Mühe gemacht, König Artus auch nur zu erwähnen. König Artus hat nicht anders denn als literarische Figur existiert. Erst Geoffrey von Monmouth hat in seiner Fantasiegeschichte über die britischen Könige („Historia regum Britanniae“), geschrieben um 1130, die uns bekannte Artussage in die Welt gesetzt. Von nun an sollten sich zahlreiche westeuropäische Schriftsteller um die Geschichten des Sagenkönigs sammeln und sie nach bestem Vermögen ausschmücken – Wace („Le roman de Brut“, beendet 1155), Chrétien de Troyes, Layamon und viele andere. Es bedurfte nur noch eines persönlich vermittelnden Gliedes zwischen der Urzeit der Bibel und dem Mittelalter König Artus’ – und dieses Glied sollte Josef von Arimathäa werden. Kurz nach Fertigstellung der ersten Fortsetzung von Chrétiens „Conte del Graal“ zu Beginn des 13. Jahrhunderts trat Josef zum ersten Mal in die Gralslegende ein. Robert de Barons Darstellung der Rolle Josefs in der Urgeschichte des Grals bildete dann in den nachfolgenden Jahrhunderten den Ausgangspunkt für zahlreiche französische und französisch beeinflusste Gralserzählungen. In den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts schrieben die Mönche von Glastonbury Josef von Arimathäa in ihre Legende ein, er soll die erste christliche Mission in Britannien angeführt haben. Die Geschichten vom Gral und Josef mussten Glastonbury spätestens um 1230 im Gefolge der Legende König Artus’ erreicht haben und wurden der Klostergeschichte etwa um 1240 einverleibt. Seit dem Spätmittelalter wurde die Gralslegende zum Ausgangspunkt für weitere Legenden, in denen Josefs Reisen und Abenteuer als christlicher Missionar noch weiter ausgeschmückt wurden. Aus dem frommen Grabbesitzer der Antike, das wird wirklich spannend vom Harrison erzählt, ist so der Gralshüter der Gegenwart geworden.

Am Anfang war die Erzählung, postuliert Harrison seine Erkenntnisse. Glaubhaft kann er versichern, dass der Ursprung seines Buches in der persönlichen Neugier gelegen habe, wie sich die historischen Personen kraft der Erzählung, kraft der Legende in Symbolgestalten verwandelt haben. Der enorme persönliche und wissenschaftliche Aufwand, der hier geleistet wurde, ist unbestritten. Doch schade ist nur, dass der Leser durch die langatmigen Ausführungen des Verfassers nicht durchweg in den gleichen Zustand persönlicher Neugier versetzt wird. Anmerkungen, ein Verzeichnis der Quelle und Literatur sind dem Werk beigegeben, doch auch ein Personenregister wäre für ein Sachbuch erforderlich gewesen.

Titelbild

Dick Harrison: Verräter, Hure, Gralshüter. Judas Iskariot, Maria Magdalena, Pontius Pilatus und Josef von Arimathäa. Geschichten und Legenden.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Ingrid Bohn.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2007.
356 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783491725157

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