Mit Gewalt zur Wahrheit?

Ein von Thomas Weitin herausgegebener Sammelband beleuchtet die Hintergründe der Folterdebatte

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Folter war lange das Tabu moderner Demokratien. Die Verfassungen der westlichen Wertegemeinschaft schlossen sie als Mittel zur Wahrheitsfindung im Rahmen polizeilicher Ermittlungsarbeit ebenso aus wie als Mittel zur Erpressung von Geständnissen im Strafprozess. Vielmehr liegt es im Wesen ihres Rechtssystems, jedem Menschen eine unveräußerliche Würde zuzubilligen, die der Staat zu schützen sich selbst verpflichtet. Folter verletzt diese Würde.

Im Zuge des „War on Terror“ gibt es eine Renaissance der Folter – nicht nur im Diskurs. In der Zeitschrift „Newsweek“ erschien dazu am 5. November 2001 ein programmatischer Artikel mit dem Titel „Zeit, über die Folter nachzudenken“. In der Debatte um mögliche Einsatzgebiete der Folter zur Rettung von Menschenleben wird zunehmend utilitaristisch-konsequentialistisch gedacht. Damit rücken die Interpreten des Würdebegriffs von dessen Absolutheit ab und knüpfen die Achtung vor der Würde des Einzelnen an den Schutz der Würde der Gemeinschaft. Der Sammelband „Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA“ nimmt sich dieser Problematik an, die in der Einleitung vom Herausgeber Thomas Weitin mit der zunehmenden Ökonomisierung der Lebenswelt in Verbindung gebracht wird. Kein schlechter Ansatz, obliegt doch auch die Entscheidung für oder gegen Gewalt durch Folter einem Optimierungskalkül, das sehr stark an das Wirtschaftlichkeitsprinzip erinnert, weil es „Kosten“ (Missachtung der Würde des Folteropfers) und „Nutzen“ (Schutz der Würde potentieller Opfer des Folteropfers) gegeneinander abwägt.

Weitin ist Literaturwissenschaftler; auch die meisten anderen Autoren kommen aus dem geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereich. Damit wird eine besondere Betrachtung möglich: Die sowohl historisch, als auch systematisch, vor allem aber regio-komparativ (Europa/USA) konzipierte Analyse ist so angelegt, dass sie die stillschweigenden Voraussetzungen, die den Hintergrund der Debatte bilden, in den Mittelpunkt rückt und kritisch befragt. Der Band schlägt damit eine eigene Richtung ein, welche die bereits zahlreich vorliegenden einschlägigen historischen, ethischen, rechtsphilosophischen und juristischen Abhandlungen zur Folter ergänzt. Es geht in den Beiträgen also weniger um die Rekonstruktion des Diskurses und seiner normativen Argumentationslinien, sondern vielmehr darum, die Grundlagen (Menschenwürde), die Annahmen (Tragik der Dilemmata in den konstruierten fiktiven Entscheidungssituationen) und die Bedingungen – geschichtliche, narrative, psychologische, mediale – zu durchleuchten, die das Diskursfeld markieren und die Debatte prägen und damit – so die These – geeignet sind, die Diskussion in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Praxisrelevant wird diese Prädisposition aus der Konstruktion von Foltersituationen dadurch, dass im säkularen Verfassungsstaat das Recht des Menschen (also auch sein Recht, von Folter verschont zu bleiben) tautologisch definiert wird: als Ausdruck des Menschseins. Schnell gerät es dann in Abhängigkeit davon, wie der Andere, der nicht der eigenen Kultur, dem eigenen Volk, dem eigenen Werte- und Rechtssystem entstammt, gesehen wird, wie man von ihm denkt und spricht. Ausgehend von der mutualen Dependenz von „Mensch sein“ und „Rechte haben“ lässt sich durch die Animalisierung des Anderen dessen Folter „begründen“ und vorbereiten, weil die Hemmschwelle, das Recht des Anderen zu verletzen, damit überwunden wird. Einige Beiträge (etwa der von Colleen Glenney Boggs zur „Bestialität und Folter“) zeigen in erschreckender Deutlichkeit, wie die Entmenschlichung und Entrechtlichung durch Folter mit der vorangehenden verbalen und inszenierten Degradierung des Folteropfers zum „Tier“ begründet wird. Die Folterbilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib liefern dafür grausame Belege, die in den Aufsätzen – insbesondere zur Debatte in den USA – aufgegriffen werden.

Bilden die im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner fest verankerten Symbole nationaler Identität, wie beispielsweise der 11. September und der „War on Terror“ sowie die dokumentierten Folterpraktiken von Guantánamo und Abu Ghraib, den ganz realen Hintergrund für die derzeitige Diskussion über Folter in den USA, die zwischen Rechtfertigung, Anklage und Scham geführt wird, so steht die Debatte in Europa unter den Vorzeichen historischer Beispiele und hypothetischer Überlegungen auf der Basis literarischer und filmischer Vorlagen; allenfalls Einzelfälle im Strafrecht (wie der Fall Wolfgang Daschner/ Magnus Gäfgen) verleihen dem Diskurs faktischen Nachdruck. In den Beiträgen zur Diskurslage in Europa überwiegen entsprechend die theoretischen, historischen und literatur- beziehungsweise filmwissenschaftlichen Zugänge.

Um den zentralen Moral- und Rechtsbegriff „Menschenwürde“ kreisen die einführenden Beiträge des Juristen Thomas Gutmann und des Theaterwissenschaftlers Lutz Ellrich, die interessante Aspekte der Konzeption von Würde herausarbeiten, so etwa deren weltanschauliche und moralische Umkämpftheit, die Frage ihrer Abwägungsresistenz bei gleichzeitiger Schwammigkeit und inflationärem Gebrauch (Gutmann) oder deren Verlierbarkeit angesichts eines bestimmten Verhaltens, also deren Bindung an Voraussetzungen (Ellrich). Gutmann schlägt am Ende vor, über nichtkonsequentialistische Argumentationen im Kontext von Güterabwägungen nachzudenken, die die Menschenwürde und das Leben betreffen. Ein interessanter, aber auch fragwürdiger Ansatz: Abwägung ohne Orientierung an den Folgen scheint kaum möglich. Ellrich stellt die Frage nach der Evidenz der Folter und dem Wert der durch sie gewonnenen Informationen – wenn es in der Praxis durch einen abgegrenzten Katalog an „Maßnahmen“ überhaupt möglich sein sollte, zusätzliche Daten zu erhalten, die relevant und „wahr“ sind, wie er zu bedenken gibt. Ein richtiger, aber auch kein origineller Ansatz: Eine ähnliche Frage hat bereits Friedrich von Spee in seiner „Cautio criminalis“ (1631) gestellt. Spee kam vor fast vier Jahrhunderten zu der Erkenntnis, dass Folter schon allein aufgrund der zweifelhaften Aussichten auf Erfolg abzulehnen sei, also wegen der zum Zeitpunkt der Folter nicht zu beantwortenden Frage, ob man durch die gewaltsamen „Maßnahmen“ wirklich der Wahrheit näher kommt. An der diesbezüglichen Skepsis hat sich bis heute nichts geändert.

Thomas Weitins Sammelband vereint interessante Perspektiven, in der normativen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Einsatzes der Folter bringt er nur geringe Erträge, aber das ist – wie bereits angemerkt – auch gar nicht sein Anliegen. In Ergänzung zu den „harten“ juristischen Debattenbeiträgen kann die „weiche“ Sicht der Kulturwissenschaft jedoch eine wichtige Rolle bei der Verständigung darüber spielen, wovon wir überhaupt sprechen und warum wir so darüber sprechen, wie wir es tun, wenn wir das Tabu-Thema „Folter“ anfassen. Formal besticht das Buch durch eine übersichtliche Gliederung in drei Bereiche („Grundlagen und Grundfragen“, „Europa“, „USA“), eine angenehme Gestaltung und – bei einem Sammelband nicht unbedingt üblich – ein Sachwort- und Personenverzeichnis, das die artikelübergreifende Orientierung wesentlich erleichtert.

Titelbild

Thomas Weitin (Hg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
292 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783837610093

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch