Eine Mythologie unserer Tage

Über Adrianus F. Th. van der Heijdens mythologischen „Homo Duplex“-Zyklus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemäß einem Spruch des Orakels von Delphi wurde dem „schwellfüßigen“ Königssohn Ödipus prophezeit, dass er seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen werde. So geschieht es – mit seiner Mutter zeugt er vier Kinder. Als Ödipus dieses Verhängnis erkennt, blendet er sich selbst und reist, von seiner Tochter Antigone geführt, rastlos durch die Welt – zuletzt nach Kolonos, wo er in einer Erdspalte verschwindet. Danach entzweien sich seine beiden Söhne und erneuern den Fluch. Antigone begräbt den einen von ihnen und stößt sich damit selbst ins Unglück.

So lautet in aller Kürze der Mythos von Ödipus, wie ihn uns Sophokles überliefert. Dieser bedeutungsschwangere, die abendländische Kultur grundierende Stoff bildet das Substrat für A. F. Th. van der Heijdens kolossalen „Homo Duplex“-Zyklus, worin er den klassischen Mythos als „Teil der Mythologie unserer Zeit“ neu erzählt. Wie für sein Schaffen typisch, geht van der Heijden dabei aufs Ganze – wobei seine mythologische Variation eher den Spuren Friedrich Nietzsches als jenen Sigmund Freuds folgt.

Das klingt alles sehr verwirrend – und ist es auch, wenn wir zusätzlich den intriganten Gott Apoll mit einbeziehen, der mit seinen Orakeleien wieder aufersteht und in den 1960er-Jahren in Kalifornien eine Weltrevolution entfesseln will. Seinen Namen hat er der NASA „für ‘nen Appel und ‘n Ei“ verhökert, weshalb er sich seither in unterschiedlichen Namen offenbart. Aber, es sei vorneweg auch angemerkt: A. F. Th. van der Heijdens ausschweifender, zupackender, sinnlicher Stil verleiht diesem Tohuwabohu immer wieder stupend klare Konturen und sorgt für zuweilen atemberauschende Lektürerlebnisse. Wer seinen verrückten Geschichten folgt, wird selbst ein wenig verrückt – doch solche Verrücktheit schadet der Welt nicht. Der Buchhändler Olle Tornij spricht in „Das Scherbengericht“ aus, welchen Leser sich der Autor selbst wünscht: einen, „der bereit ist, dem Autor bis in alle Ecken und Winkel seiner Schöpfung zu folgen. Nicht als folgsamer Leser. Als Verbündeter. Als Führer notfalls, wo es für den Autor selbst zu dunkel wird.“

„Homo Duplex“ ist ein noch längst nicht abgeschlossener Zyklus, der seinen Stoff nach und nach entwickelt und deshalb noch Lücken aufweist. Van der Heijden selbst hat noch keine fixe Chronologie entworfen, wie er selbst sagt. Bisher entstanden sind zwei dickleibige Romane, „Das Scherbengericht“ und „Die Movo-Tapes“, sowie zwei Nebenwerke, „Treibsand urbar machen“ und das noch unübersetzte Buch „Mim“. Was immer man von diesem monomanen, verrückten Werk halten will, ein einzigartiger und außergewöhnlicher Charakter ist das Mindeste, was ihm bereits jetzt als Quintessenz zuzuschreiben ist.

Das transatlantische Scherbengericht

Der dickleibige Roman „Das Scherbengericht“ inszeniert ein brisantes Zusammentreffen. Im Hochsicherheitstrakt der kalifornischen Strafanstalt Choreo treffen um die Jahreswende 1977/78 unverhofft ein berühmter Filmemacher und der Mörder von dessen Ehefrau aufeinander. Unter falschen Namen und unterschiedlichen Masken wahren sie vorerst ihre Anonymität, doch während sie gemeinsam den Hochsicherheitstrakt sauber halten, reift das gegenseitige Erkennen. Während der eine, Remo Woodhouse (alias Roman Polanski), sechs Wochen für Sex mit einer Minderjährigen absitzt, wird Scott ,Charlie‘ Maddox (alias Charles Manson) das Gefängnis nicht lebendig verlassen. Die beiden könnten sich nicht ungleicher sein, dennoch haben sie Gemeinsamkeiten. Sie messen beide nur rund 1,55 m, lieben junge Mädchen und sind leibhaftige Ikonen der Popkultur: moderne Helden, an denen sich das Schicksal der Götter respektive das Scherbengericht der Mitmenschen vollzieht. (Eine Abstimmung mittels beschrifteten Tonscherben entschied im alten Athen darüber, ob unliebsame Zeitgenossen aus der Stadt verbannt wurden.)

Sowohl Remo wie Charlie fühlen sich ungerecht behandelt – als Opfer von Intrigen und Verschwörungen. Remo glaubt sich schuldlos von einer jungen Göre hintergangen. Und Scott, der seine Sektenmitglieder zu grauenhaften Morden angestiftet hat, sieht sich zu Unrecht kriminalisiert von einer weißen bürgerlichen Machtclique. Seine paranoiden Ziele, ein Rassenkrieg namens „Hurly Burly“ (frei nach dem Hexenspruch in William Shakespeares „Macbeth“), seien rein politisch motiviert, behauptet er. Die Morde an Sharon Tate und anderen Oberschichtsweißen sollten einen Aufstand des schwarzen Plebs provozieren, den Charlie mit seiner Sekte in einem Erdloch überstehen wollte, um danach als strahlender Retter der Welt ein neues weißes Regime zu errichten.

Van der Heijden rekonstruiert diese historischen Tatsachen mit minutiösester Genauigkeit und lässt sie listig in eine literarische Fiktion ausfransen. Wesentlich trägt dazu der „deus ex machina“ Apoll bei, der intrigant seine Weltrevolution anzetteln will. Sein prophetisches Gespür hat freilich gelitten. So wählte er 1969 ausgerechnet den missratenen Hippiemusiker Manson als Propheten aus und spielte ihm eine Bootleg-Platte mit einem mysteriösen Beatles-Song zu, „Hurly Burly“. Mit verheerenden Folgen, wie wir wissen. Jenen Hexengesang ernst nehmend, mutierte Charlie zum Schrecken von Los Angeles. Sein „heiliger Krieg“ legitimierte jede Grausamkeit. Auch nach Jahren der Haft verteidigt er sie mit nervtötender Inbrunst. In Choreo versucht Remo ihn zu provozieren, um dahinter zu kommen, weshalb seine Frau sterben musste. Die Antwort bleibt letztlich dürftig, immerhin sticht er in einem Wutanfall in eine zentrale Wunde: Charlie kann kein Blut sehen.

Als Aushilfs-Gefängniswärter beobachtet Apoll unter dem Namen Spiros Agraphiotis die von ihm angezettelte Konfrontation.

Während die beiden also Exkremente aus den Toiletten fegen und die Boden wischen, rekapituliert Remo im Tausch sein hängiges Gerichtsverfahren, das ihn zum Verfolgten eines bigotten Richters und einer rufschädigenden Medienkampagne macht. Popkultur, Terror und Verführung mischen sich in diesem Roman zu einer gleichermaßen lächerlichen wie brodelnden Mixtur, die Verschwörungstheorien zelebriert und Mythen produziert. Hippiekult und Hollywood umgarnen diesen alptraumhaften Wahnsinn; dunkle Zeichen, Signale und Tattoos munkeln allenthalben Mysteriöses.

Derlei zu beschreiben ist van der Heijdens unbestreitbare Spezialität. Im Wechsel von Gespräch und Rückblenden breitet er das Innenleben seiner zwei Helden mit penibler Detailliertheit aus. Hier der europäische Jude und Holocaust-Überlebende, der mit Filmen wie „Chicano Town“ (alias „Chinatown“) und „The Vampyre Destroyers“ (alias „Tanz der Vampire“) Weltruhm erlangt hat, mit seinen Mädchen-Eskapaden aber auch die Öffentlichkeit verwirrt. Da der völlig irrsinnige Charles Manson, der seine Komplexe im Blut anderer ertränkt, dessen Anblick er selbst nicht verkraftet.

Van der Heijden demonstriert eine unbändige Sprachkraft, er schreibt mit ausschweifender, praller Sinnlichkeit und zugleich jederzeit beherrscht und luzide. Dabei schreckt er nicht davor zurück, mit schonungsloser Konsequenz „in die Breite“ zu erzählen (wie er es explizit schon im Zyklus „Die zahnlose Zeit“ tat). Indem er Charlies krude Gedankengänge durch alle möglichen Windungen scheucht, lässt er beinahe auch seine Leser daran irrewerden. Dieser Irrsinn hat hier aber System.

Deshalb kann es nicht überraschen, dass der literarische Alptraum über beinahe 1.200 Seiten fast zwangsläufig Längen erzeugt und vom Autor mit einer Überfülle von Zeichen und Motiven orchestriert wird. Trotzdem: Kaum einer bewahrt selbst bei Spannungsabfall eine solche literarische Kraft und Intensität wie van der Heijden. Er schraubt sich in Remos Kopf hinein, wenn dieser in der finsteren Isolationszelle den Mord an seiner Frau durch die Mangel der eigenen Gedanken dreht und zu einem hauchdünnen Erinnerungsfilm plättet und dennoch Spannkraft behält. Ja, van der Heijden lässt sich hier zur literarischen Hybris verführen: Er protokolliert „die einsamsten zwanzig Minuten in der Geschichte der Menschheit“ aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes. „Paul“ nennt Remo seinen ungeborenen Sohn, der im Bauch der Mutter unverletzt überlebt; zwanzig Minuten sind die Zeitspanne, die ein Fötus nach dem Tod der Mutter weiterlebt. Van der Heijden bewegt sich hier hart an der Grenze zum Geschmäcklerischen, doch Witz und Lakonie verhindern, dass er sie überschreitet. Ein kleines Meisterwerk in sich.

Charlies vom Wahn diktierte Revolte zielt darauf, die Lebensrichtung zu drehen, die Angst vor dem Tod in eine Angst vor der Geburt umzupolen. „Paul“ widerspricht dieser kruden Lehre – doch Movo, der eigentliche Held des „Homo Duplex“-Zyklus, scheint sie zu bestätigen. Im „Scherbengericht“ taucht er nur am Rande auf. Apoll alias Spiros Agraphiotis fungiert zuhause in Holland als Vormund für den vierjährigen Jungen, der seit seiner Geburt schlechte Füße hat. Deshalb wird sich Tibbolt Satink später Movo nennen, was für „moeilijke voeten“ (schwierige Füße) steht: sein ödipales Kainsmal und Ergebnis einer Zangengeburt.

Die Movo-Tapes

„Test! Test…! Ecce homo. Ich probiere meinen Stift aus. Berichtigung: Ich probiere mein Diktiergerät aus. Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?… Eeesel! Ich probiere… was ist das Echo von Ecce homo?“ Mit diesen Worten hebt der nunmehr 24-jährige Tibbolt Satink im Sommer 1997 zu einem langen Selbstgespräch an, das „die letzte Phase meiner Karriere als anderer“ beglaubigen soll, die Verwandlung in eine neue Gestalt: Movo.

27 Jahre später, im Jahr 2024, erregen diese Tonbänder das brennende Interesse von Gott Apoll, der, etwas heruntergekommen, weiterhin umhergeistert und immer noch nicht von seinem Orakeln lassen kann. Nach seinem Abstecher nach Kalifornien 1977/78 lebt er wieder in den Niederlanden. Mittlerweile nennt er sich QX-Q-8. So lautet die Nummer einer Überwachungskamera, die er 1997 am Autobahnknotenpunkt Hellegatsplein hat montieren lassen.

Der orakelnde Intrigant Apoll und der gehbehinderte Tibbolt Satink bilden ein Doppelgespann, das van der Heijden in den „Movo-Tapes“ abwechslungsweise zu Wort kommen lässt. Apoll zieht dabei die Strippen, doch Satink beweist irdischen Eigensinn. Wessen Perspektive sich am Ende durchsetzt, wird sich später erst herausstellen.

„Die Movo-Tapes“, als Prolog bezeichnet, legen als erstpublizierter Band des „Homo Duplex“-Zyklus das Fundament zu diesem ambitiösen Gesellschaftspanorama der Gegenwart, in dem der Autor zuerst einmal die Erzählfäden auslegt, ohne dass er ihr Ende schon bis in die feinsten Verästelungen hinaus kennen würde. Voraussagen lässt sich nur, dass sich das Schicksal auch an diesem neuen Ödipus erfüllen wird. In welcher Form, bleibt allerdings offen, denn Apolls prophetische Sehschärfe hat abgenommen.

Sein jüngstes Orakel bezieht sich auf ein Ereignis, das am 23. März 1997 tatsächlich stattfand, als die traditionell verfeindeten Hooligans von Ajax Amsterdam und Feyenoord Rotterdam aneinander gerieten. In dieser „Schlacht von Beverwijk“ fand der Ajax-Anhänger Carlo Picornie den Tod. Das fordert Rache. Ein halbes Jahr später, am 31. August 1997, kundschaftet Satink alias Movo einen Ort dafür aus. Am „Knotenpunkt Hellegatsplein“ südlich von Rotterdam findet er ein ideales Gelände, ein von der Straße nicht einsehbares Stück Ödland an einer doppelten Verzweigung von zwei Straßen und zwei Wasserwegen. Einzig eine Überwachungskamera – eben QX-Q-8 – gibt ihm Anlass zur Sorge, allerdings könnte sie auch „als Erkennungszeichen für unser Picknick“ dienen, denkt sich Movo. Mit dieser in Aussicht stehenden Schlacht zwischen „Adamern“ und „Erdamern“ erneuert van der Heijden auf verblüffende Weise die historische Konkurrenz zwischen Theben und Korinth. Keine Feindschaft ist in den Niederlanden schärfer als die in Hooligankreisen symbolisch auch als Krieg zwischen Juden und Arabern ausgetragene Feindschaft. „Die Movo-Tapes“ enden allerdings vor dem blutigen Zusammentreffen.

In seinem Ödipus redivivus legt es van der Heijden nicht auf eine deckungsgleiche Wiederholung an, auch wenn die mythologischen Kernfiguren und -motive erkennbar sind. Die Sphinx beispielsweise lässt sich in Willy Cankrien erahnen, von dem es heißt, dass er „die Welt in Rätseln und Rebussen einfangen und sie den Menschen vorlegen“ muss. Das ist seine Rolle in „Zora’s Palace“, der Stammkneipe der Rotterdamer Hooligans. Hier begegnet man auch Tonnis Momberg, ihrem Chef. Er und seine Frau Zora, die den Laden schmeißt, lernten sich 1973 bei den Dreharbeiten zu einem billigen Pornofilm kennen.

Dieser Strang der Geschichte wird von Apoll, der als Fotograf mit von der Partie war, mit schreiender Lakonik erzählt. Van der Heijden demonstriert hierbei seine Meisterschaft im akribischen, doch stets beweglichen, pulsierenden, zuweilen auch satirisch zugespitzten Beschreiben. Die gestochen scharfe Schilderung, wie sich Tonnis und Zora beim abgefilmten Geschlechtsakt näher kommen, wird zum ernüchternden Exempel einer gesellschaftlichen Totalökonomisierung, die sich alles und jedes, erst recht die Liebe, unterwirft. Und dennoch stiftet diese instrumentierte Begegnung eine Beziehung, die anhalten wird. Ihre Frucht, der Sohn Reinier, ist fast auf den Tag genau gleich alt wie Tibbolt Satink, allerdings gehört Reinier zu den Erdamern, Tibbolt aber ist ein Adamer. Am Knotenpunkt Hellegatsplein werden sie sich begegnen.

„Die Movo-Tapes“ bilden den Auftakt zu einem grandiosen theatrum mundi, das durch Sprachkraft, Intensität und Kompaktheit überzeugt. Jeder Satz, jede erzählerische Volte macht spürbar, dass es dem Erzähler um alles geht, auch wenn er sich über längere Strecken scheinbaren Nebensächlichkeiten hingibt; van der Heijden ist ein Meister der subtil verzögerten Spannung. Die Erzählfäden hält er stets souverän in den Händen. Seine Figuren charakterisiert er nicht psychologisch – Freud bleibt eine Randnotiz –, er verankert sie vielmehr ganz im gesellschaftlichen Kontext. Hier offenbaren sich die tieferen Beweggründe ihres Tuns – oder sie bleiben ein Geheimnis. Das gilt letztlich auch für den kleinen Titanen Movo, der eine „Karriere als anderer“ anstrebt.

Die Verstellung, heißt es bei Nietzsche, „ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist“. In diesem Sinn und Geist will Movo den „Softie Satink“ in sich überwinden, ihn zum Bösen anleiten, ja ihm gar die Bürde des Todes abnehmen. „Wenn ich in die Nähe des Schicksals gelangen will, muss ich ein anderer werden als der, der ich bin“, redet er sich ein. Doch dieser Versuch wird scheitern, weil Satink selbst schon der andere ist: außer sich. Ruhelos fährt er durch die holländische Randstad, „ein stümperhafter Vierfüßler, der seine Behinderung unter dem Panzer eines Autos verbirgt“, und vertraut währenddessen dem Diktiergerät seine intimen Erinnerungen und seinen verzweifelten Mutwillen an.

Kulminationspunkt in diesem Gedankenstrom ist die verrückte Idee eines „Weltstreiks“. Weltweit sollen sich die Menschen gegen „die Bedingungen auf der Erde“ zur Wehr setzen. Sie sollen sich willentlich im Bösen üben, sich gegenseitig abschlachten, um die Not so lange zu steigern, bis „Gott, sollte Er existieren, von selbst aus Seinem Himmel der Arroganz hervortreten“ würde. Darin erneuert sich Charlies „Hurly Burly“-Rassenkrieg aus dem „Scherbengericht“.

In einem Gespräch hat van der Heijden, der Nietzscheaner, gestanden, dass er dieser fantastischen Idee eines Weltstreiks durchaus etwas abgewinnen könne. „Ich denke, dass meine Ideen über die Gesellschaft am besten verwirklicht sind in diesem Weltstreik. Das sind alle gegen einen, alle gegen Gott. Und der ist wahrscheinlich nicht da. Aber man ist so böse auf alles, was schief geht in der Welt, dass man ihn zwingt, hervorzutreten, man ist so böse, dass man Gott dazu zwingt, dass es ihn gibt, dass er als Entität hervorkommt.“

Im „Homo Duplex“ werden all der Hass und all die Rachlust symbolisch in der Hooliganschlacht am Hellegatsplein explodieren: Ein Kampf von wild gewordenen Horden „gegen die condition humaine tout court“. Und Movos „Krönung seiner Laufbahn als anderer“.

Nietzsche geistert allenthalben durch „Die Movo-Tapes“. Stilistisch klingt immer wieder van der Heijdens anhaltende Vorliebe für Louis-Ferdinand Céline und seine „Reise ans Ende der Nacht“ an. „Homo Duplex“ als ganzes und „Die Movo-Tapes“ als Prolog dazu sind die Summe einer berauschenden Passion. Die originelle literarische Wiedergeburt des Ödipus-Mythos demonstriert eine meisterhafte Synthese aus Sinnlichkeit und Präzision, aus kulturkritischer Ironie und nietzeanischem Pathos, aus apollinischer Klarheit und dionysischem Aufruhr.

Treibsand urbar machen

Zwischen den beiden dicken Wälzern erschien (nebst dem noch unübersetzten Buch „Mim“, worin van der Heijden die ödipale Kernszene zwischen Sohn und Mutter beziehungsweise Gattin beschreibt) 2008 das Nebenwerk „Treibsand urbar machen“. Dieses bildet womöglich einen Endpunkt des noch ungeordneten Zyklus. Die Handlung spielt im Jahr 2023, kurz nach Movos Verschwinden, und ist der Sophoklei’schen „Antigone“ nachempfunden. Van der Heijden übernimmt deren Handlung in eine phänomenale Kneipenszene, in der das klassische Pathos mit Witz in Stammtischdialoge über „ach, der Mensch“, dieses großartige vernunftbegabte Wesen, übersetzt ist. Das Stück endet im völligen Desaster: Tod und geistiger Zerrüttung. Doch van der Heijden wartet hier abermals mit einer Volte auf, die Movos Geburt, wie wir sie aus den „Movo-Tapes“ kennen, als falsche Fährte entlarvt. Der Nebel lichtet sich und öffnet den Blick auf neue Nebel. Wie die alten Mythen, so erzeugen auch die neuen immer wieder Wahrheiten in Form von Legenden, Gerüchten, Verschwörungstheorien. Nichts ist wie es scheint. Deshalb hat van der Heijden seinen Namen als Autor dieses Zyklus offiziell in „A. F. Th.“ umbenannt.

P.S.: Dass van der Heijdens Bücher ungeachtet ihrer Sperrigkeit auch auf Deutsch in staunenswerter Kraft erstahlen, ist das Verdienst der Übersetzerin Helga van Beuningen. Ihr gelingt es vorzüglich, in die detailversessenen Settings einzutauchen, sie zu begreifen und so den deutschen Lesern begreifbar zu machen. Das ist Sprachkunst vom Allerfeinsten.

P.P.S.: Einblick in den Schreibprozess van der Heijdens geben seine nicht minder verrückten Tagebuchaufzeichnungen unter dem Titel „Engelsdreck“ (auf Deutsch erschienen 2006). Darin heißt es: „Homo duplex muss einfach mein Meisterwerk werden – und das wird es auch, pass nur auf!

Titelbild

A.F.Th. van der Heijden: Die Movo-Tapes. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
763 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419236

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Adrianus Fr. Th. van der Heijden: Treibsand urbar machen. Movos Erben.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt, M. 2008.
148 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224298

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Adrianus Fr. Th. van der Heijden: Das Scherbengericht. Eine transatlantische Tragödie.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
1200 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783518421406

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