Nachricht aus der Schreibhölle

Die Dialektik des Fortschritts in Karl Gutzkows Roman „Die neuen Serapionsbrüder“

Von Kurt JauslinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Jauslin

„Die neuen Serapionsbrüder“, 1877 erschienen, sind Karl Gutzkows letzter Roman, nicht sein letztes Wort. Das ist vermutlich sein Vorwort zur zweiten Auflage des Romans, die wenige Wochen vor Gutzkows Tod am 16. Dezember 1878 auf den Markt kam. Dieses Vorwort hat seinen Ruf als Erzreaktionär bei der Linken des Kaiserreichs nachhaltig gefestigt. Seine Forderung, die Erteilung des Wahlrechts von einem Bildungsnachweis abhängig zu machen, – „Alexander von Humboldt wählend mit gleichem Ausschlag wie der Droschkenkutscher“ als Abschreckung – hat ihm nur den späten Beifall Arno Schmidts eingetragen. Und der unverhohlene Ruf nach der Zensur – „die Debatte über die ‚Arbeit‘ auf den Kathedern muß von den Regierungen ohne Weiteres abgesetzt werden“ – ließ selbst treue Anhänger zusammenzucken. War er nicht selbst als junger Autor ein Opfer der Zensur gewesen, hatte deswegen im Gefängnis gesessen und sie jahrelang leidenschaftlich bekämpft? Gutzkow, so das nur halb nachsichtige Urteil, war ein alter kranker Mann, an dem die Zeitläufte vorbeigegangen waren, verbittert, weil er sich als Schriftsteller nicht genug gewürdigt fand.

Daran ist so viel richtig, dass er unheilbar krank war, restlos erschöpft von der lebenslangen Fron des Berufsschriftstellers, nach unzähligen literarischen Fehden von chronischem Verfolgungswahn besessen, aber gerade damit genau auf der Höhe der Zeit. Er repräsentierte die Existenz des Berufsschriftstellers unter der Herrschaft des uneingeschränkten Kapitalismus: Ein selbständiger Unternehmer, der seinen Lebensunterhalt ohne Absicherungen mit Schreiben verdienen musste, der sich selbst als einzigen Mitarbeiter auszubeuten hatte – und dies buchstäblich, bis ihm der Sargdeckel auf die Nase fiel.

Ein ruinöses Geschäft

„Der Roman“, schrieb Gutzkow in seinem Vorwort, „ist Busineß des hundertarmigen Briareus Industrie geworden.“ Unter dessen Bedingungen wurde die Romanproduktion zu einem nicht nur gesundheitlich, sondern auch ökonomisch ruinösen Geschäft. Die Arbeit an den meist dreibändigen Werken dauerte viel zu lang, bis endlich Honorare flossen, und musste durch Journalarbeiten zwischenfinanziert werden. Wer, wie Gutzkow, mit Honoraren aus Zeitungsvorabdrucken rechnen konnte, war schon privilegiert. Die Arbeitsbedingungen wurden dadurch womöglich aber noch schlechter, wie die Entstehungsgeschichte der „Neuen Serapionsbrüder“ zeigt: Gutzkow begann die Niederschrift kapitelweise für den Vorabdruck im „Berliner Tageblatt“ und der „Dresdener Presse“. Die Manuskripte wurden zuerst von seinem Kopisten abgeschrieben, dann vom Autor korrigiert und in der endgültigen Fassung des Kopisten an die Reaktionen geschickt. Während der Autor unentwegt weiter schrieb, korrigierte er zugleich die älteren Kapitel und kehrte dabei immer wieder zu früheren Abschnitten zurück. Schließlich arbeitete er gleichzeitig an der Buchfassung, an den Korrekturen für die Zeitungen, an der Korrektur der Zeitungsdrucke für die Buchfassung und an der Korrektur der Druckfahnen der endgültigen Buchfassung.

In den „Neuen Serapionsbrüdern“ reflektiert der Roman zugleich seine Produktionsweise, die von den Gesetzen des Marktes diktiert wird. Die schweißtreibende Arbeit des Schreibens, die Mühsal der Vermarktung, einschließlich der Versuche, die Rezeption der Kritik schon bei dem Erscheinen der Buchfassung zu steuern, die daraus folgende Schlaflosigkeit und Erschöpfung sollen nicht mehr als privatisiertes Beiwerk unter dem Glanz des Kunstwerks verschwinden. Sie sind der Treibstoff, der den ökonomischen Mehrwert garantiert und damit den Lebensunterhalt des Autors, sofern er die lebensgefährliche Romanproduktion überlebt.

Wer sich in diesem Metier durchsetzen will, schafft sich Feinde und wird leicht zum Reaktionär abgestempelt, zumal wenn er wie Gutzkow nicht zum Florett, sondern sicherheitshalber gleich zum schweren Säbel greift. Was Gutzkow tatsächlich beschäftigt, ist die Dialektik, die jenes Projekt bestimmt, das in der Sprache des Bürgers als „Fortschritt der Menschheit“ bezeichnet wurde. Gutzkows Attacke richtet sich nicht gegen die Demokratie, sondern gilt ihrer Verteidigung. Sie weist hin auf die Grenzen der Toleranz, die von der Demokratie gesetzt werden müssen, wenn sie sich nicht selbst aufheben will.

In Gesellschaft von „Strebern“

Gutzkow hatte ein seismografisches Gefühl für das, was er die „Tendenzen der Zeit“ nannte. Die wichtigste darunter war der Verfall der liberalen Idee, der er zeitlebens anhing. Der Neoliberalismus der Gründerzeit ersetzte die von der Verantwortung für die Gesellschaft bestimmte bürgerliche Freiheit durch den Egoismus des Bourgeois und durch das ökonomische Prinzip des größtmöglichen Gewinns. Der Markt übernahm die Herrschaft über die Gesellschaft, die Aktiengesellschaften über die Arbeit.

An die Stelle der bürgerlichen Werte trat das von Gutzkow verachtete „Strebertum“, das im Kaiserreich durch nationalistische Überheblichkeit und die Militarisierung der Gesellschaft gesteigert wurde. Die Dialektik des Fortschritts trat unübersehbar hervor: die wachsende Prosperität, die sich dem technischen Fortschritt verdankte, kam nur den Gewinnern an der Börse zugute, während die Arbeit immer wertloser wurde und die Zahl der Armen bei gleichzeitigem immensen Reichtum zunahm. Doch auch der Reichtum war nicht sicher: In der Weltwirtschaftskrise von 1873 wurden riesige Vermögen verbrannt, ein Schock, jedoch kein heilsamer, denn man machte weiter wie vorher. Die gesellschaftlich marginalisierte Arbeiterschaft beantwortete die Selbstorganisation des Kapitals durch eigene Organisationen, was in den Augen des altliberalen Gutzkow die gesellschaftlichen Antagonismen noch verschärfte. Das „Strebertum“ wurde nur anders definiert, statt beseitigt zu werden.

Ein Konzept gegen den „bürgerlichen Realismus“

Die Dialektik des Fortschritts ist das zentrale Motiv des Romans, das auf zwei getrennten, aber einander ergänzenden Erzählebenen aufgefächert wird: in der Gesprächsrunde der „Montagsgesellschaft“ der neuen Serapionsbrüder und in der eigentlichen Romanhandlung: Raisonnement und alltägliches Leben gehen ineinander über, ein ästhetischer Prozess, der Gutzkows eigentümliches Realismus-Konzept bestimmt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist demnach von einer stetig wachsenden Flut undurchschaubarer „Thatsachen“ bestimmt, die nicht mehr hintergehbar sind. Ein Urteil über Zusammenhänge und Wert der „Thatsachen“ kann nur von einem „idealen Standpunkt“ gewonnen werden. Im Roman hält Ottomar Althing daran fest und wird gerade dadurch zum „ausgesprochenen Realisten“.

Gutzkows Realismus-Konzept unterscheidet sich damit grundlegend von dem des bürgerlichen Realismus, für den die letzte Instanz immer das Urteil der Gesellschaft ist. Victoire sagt in Theodors Fontanes „Schach von Wuthenow“: „Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich.“ Wer sich dem Urteil der Gesellschaft widersetzt, kann auch beim Autor auf keine Gnade rechnen. In Friedrich Spielhagens Roman „Sturmflut“, der unmittelbar vor den „Neuen Serapionsbrüdern“ im „Berliner Tageblatt“ und ein Jahr vor Gutzkows Roman auch in Buchform veröffentlicht wurde, übernehmen die Naturgewalten sozusagen stellvertretend für die Gesellschaft das Amt des Henkers. Der Kritiker der Zeitschrift „Unsere Zeit“ vom Juni 1877 vermerkte nicht ohne Ironie: Spielhagen lasse „eine Art Windsbraut des Verhängnisses einherbrausen, welches die Zahl seiner Helden lichtet, besonders aber diejenigen, auf denen eine sittliche Schuld ruht, oder deren zerrüttete Lebensverhältnisse keinen Ausweg gestatten, aus den Reihen der Lebendigen wegfegt.“ Der Autor der „Neuen Serapionsbrüder“ setzt das Urteil der Gesellschaft außer Kraft. Auch Edwina Marloff und der Justizrat Luzius gehen nicht am Urteil der Gesellschaft zugrunde, sondern aus ihrem eigenen Recht. Das Ende des Romans bleibt offen: Es beginnt einfach ein neuer Alltag.

Die Dialektik des Fortschritts liegt darin begründet, dass die von ihm geschaffenen „Thatsachen“ ungeprüft hingenommen werden. Sie bestimmt den Alltag, ohne dass die Bürger sich dessen bewusst sind. Auch dafür liefert Gutzkow ein Beispiel: In den „Neuen Serapionsbrüdern“ lobt er Justus von Liebigs Erfindung des Fleischextrakts, weil es die Arbeit der Hausfrau erleichtert, registriert aber nicht, dass es die Küche ruinierte. Er rühmt die Kraft des Chlorals, das ihn endlich von seiner Schlaflosiskeit befreite, zugleich aber seine Gesundheit zerrüttete.

Eduard von Hartmann als Kronzeuge

Für den Philosophen Eduard von Hartmann sind solche Fortschritte, sei es auf den Gebieten des „sittlichen Bewußtseins“, der „sozialen Ideen“ oder wie hier in der Medizin, ohnehin bedeutungslos. Der unter der Herrschaft des Unbewussten leidende Menschheit bringen sie keine Erlösung: „Immer handelt es sich nur um Linderung von Uebeln, nicht um Erlangung positiven Glückes.“ Gleichwohl ist Hartmann keineswegs ein Gegner des Fortschritts. Wenn er schon nichts dazu beitragen kann, die Welt zu verbessern, so führt die ihm innewohnende Dialektik doch zu dem Ziel, den Weltprozess als Ganzes zu beenden. Je mehr der Fortschritt durch den Einsatz aller Beteiligten beschleunigt wird, umso näher rückt gemäß dem Entropiesatz der Thermodynamik der Zusammenbruch des Systems Welt.

Gutzkow zählt Hartmanns „Philosophie des Unbewußten“ in den „Neuen Serapionsbrüdern“ zu den negativen Tendenzen der Epoche, in diesem Fall verkörpert durch den Referendar Dieterici, der als „Sucher des Urproblems“ sowohl von Hartmann, als auch von der literarischen Romantik besessen ist. Hartmann ist für Gutzkow der Kronzeuge für die merkwürdig pessimistische Grundstimmung der Gründerzeit, die verunsichert durch die Dialektik des Fortschritts bleibt, der einerseits das wirtschaftliche Leben befeuerte, andererseits zu den Katastrophen der Börsenabstürze führte. Hartmanns „nihilistische Leistungsethik“ (Ludger Lütkehaus) machte ihn zum populärsten Philosophen der Epoche zwischen 1869 und 1890, in der es die „Philosophie des Unbewußten“ auf elf Auflagen brachte, wobei das philosophisch höchst anspruchsvolle Werk wohl tatsächlich kaum rezipiert wurde.

Die Sonne der Nacht – Gutzkows Modernität

Misstrauisch gegen alle weitreichenden philosophischen Systeme versuchte Gutzkow in den „Neuen Serapionsbrüdern“ seine eigenen pessimistischen Schlüsse aus der Dialektik des Fortschritts empirisch mit Zusammenhängen und Gegensätzen von mythischer und wissenschaftlicher Wirklichkeit zu begründen. In der von Jean Paul entlehnten Vorstellung einer „Sonne der Nacht“ findet er die Referenzmetapher „recht eines Bildes der Wissenschaft“. Unter der „Sonne der Nacht“ versteht Jean Paul die astrophysikalische Wirklichkeit unseres Zentralgestirns: Ohne die Erdatmosphäre müsste sie „aus einem schwarzen Himmel lodern und die gewölbte Nacht durchschneiden, aber nicht erhellen.“ Nicht die Sonne ist die Spenderin des Lichtes, sondern der „Erdendunstkreis“. Andererseits: Ohne das Sonnenfeuer könnte auch der „Erdendunstkreis“ nicht leuchten. Die Vorstellung einer „Sonne der Nacht“ ist wie jede Allegorie janusgesichtig. Sie steht für die Dialektik des wissenschaftlichen Fortschritts, für den die Sonne der Aufklärung, die in der Nacht der Unwissenheit leuchtet, nur mehr das Tagesgesicht der Allegorie ist. Die Naturwissenschaft hat ihre Nachtseite ans Licht gebracht, und diese besagt, dass unsere sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit nur auf Vorstellungen beruht, während die wahre Wirklichkeit nur aus den vereinzelten Tatsachen besteht, die sich auf die Formeln der Naturwissenschaft gründen. Das ist die Kehrseite der Allegorie, die der Geometer Marloff, selbst ein Wissenschaftler, beschreibt: „Die Sonne der Nacht, sagen Sie? Ja, ja, wenn uns die einst scheinen wird! Die Kehrseite aller Dinge! Dann ist das Meer abgelaufen! Auf seinem Grunde sieht man das Gewimmel, die begrabene Welt, Schiffstrümmer, Leichen, untergegangene Städte, Länder, die verschlungen wurden, gräuliches Gewürm!“

Das Ungenügen an den punktuellen Erkenntnissen der Naturwissenschaft war nicht nur eine Quelle für den verbreiteten Pessimismus, es äußerste sich auch in den Selbstzweifeln der Wissenschaftler. Der berühmte Physiologe Emil Dubois-Reymond, auf den sich Gutzkow für seine Darstellung in den „Neuen Serapionsbrüdern“ in einem Brief an Klara Mosson berief, hat 1872 den Widerspruch zwischen der sinnlich wahrgenommenen und der wissenschaftlichen Wirklichkeit formuliert, der sich daraus ergibt, dass wir Bilder sehen und Töne hören, während das Gehirn nur Schwingungen registriert, und: „Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus dem Zusammenwirken der Atome Bewußtsein entstehen könne.“

Gutzkows Nachricht aus seiner Wanderschreibhölle – er war zweimal umgezogen, einmal gleich bevor er „Die neuen Serapionsbrüder“ begann und danach mitten während der Arbeit – betrifft das im Streit zwischen George Berkeley und Isaac Newton formulierte Problem der Differenz zwischen Vorstellungen und Wirklichkeit. Während Johann Wolfgang Goethe sich in der „Farbenlehre“ für Berkeley entschied, hatte Immanuel Kant das Problem für gegenstandslos erklärt: Da unsere Wahrnehmung grundsätzlich Konstrukte hervorbringt, sind die Vorstellungen ebenso wirklich wie die sogenannten wirklichen Dinge. Mit der Existenz einer objektiven Wirklichkeit, die von der Naturwissenschaft postuliert wurde und die der subjektiven Wahrnehmung verschlossen bleibt, konnte Kant noch nicht rechnen. Die Modernität Gutzkows besteht nicht zuletzt darin, dass er das im Grunde bis heute ungelöste Problem für die Literatur fruchtbar gemacht hat.

Karl Gutzkows Roman „Die neuen Serapionsbrüder“ ist im Rahmen der Gesamtausgabe des „Editionsprojekts Karl Gutzkow Exeter und Berlin“ wieder veröffentlicht worden. Die wissenschaftliche Kommentierung findet sich auf der Internetseite www.gutzkow.de

Literaturhinweise

Karl Gutzkow, Die neuen Serapionsbrüder. Roman, herausgegeben von Kurt Jauslin. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe, herausgegeben vom Editionsprojekt Karl Gutzkow, Erzählerische Werke, Band 17. Münster: Oktober Verlag, 2002.(http://www.oktoberverlag.de/books/books.php?lng=1&rubr=4&numAll=11&rsId=10 )

Kurt Jauslin, Kommentare zu den ‚Neuen Serapionsbrüdern‘. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe, herausgegeben vom Editionsprojekt Karl Gutzkow. http://www.gutzkow.de; Menüpunkt: Digitale Gesamtausgabe, Werke, Erzählerische Werke, Die neuen Serapionsbrüder. Exeter / Berlin 2010.