Und wenn die Malteserkatze Klavier spielte und auf Französisch sänge?

Die Zeit altert schnell in Antonio Tabucchis Erzählungen, und das Schönste auf der Welt stellt sich nicht einfach ein

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weil er sein ganzes Leben lang eine falsche Haltung eingenommen hatte, tagelang vornübergebeugt schief am Schreibtisch hockend, die Wirbelsäule wie das Meer bei Südwestwind, „gekrümmt wie ein misslungenes Hörnchen“, um Bücher zu schreiben, fährt ihm auch jetzt am Bett der todkranken Tante, von Morphiumampullen und Sauerstoffflaschen umgeben, immer wieder ein stechender Schmerz aus dem vierten Wirbel wie ein Stromschlag durch den ganzen Körper. Die metaphorische Rasierklinge, die ihm den Rücken bis zum Unterbauch aufschlitzt, führt zum Verharren in einer Position, die einer Figur gleichkommt, die das Kreuz trägt. In dieser Haltung sieht der vom Schreiben geschlagene und verkrüppelte Schriftsteller das haarlose, kindgesichtige Mädchen im Rollstuhl, das in der Ferne aus der Radiologie geschoben wird, und das auf etwas antwortet, was die sie schiebende Krankenschwester zuvor zu ihr gesagt hatte. Am „Tonfall erkannte man, dass sie etwas bejahte, und zwar so, dass man ihr nicht widersprechen konnte. Sie hatte eine freudige Stimme, voller Leben (…). Das Mädchen wiederholte den Satz genau in dem Augenblick, in dem sie an ihm vorbeigingen, und beim Sprechen lächelte sie strahlend. Aber das ist das Schönste auf der ganzen Welt!“

Dieser strahlend lächelnd ausgerufene, Widerspruch nicht duldende Satz des Mädchens geht dem Schriftsteller nach, und zwar tief. „Das Schönste auf der ganzen Welt. Das hatte ein kahlköpfiges Mädchen gesagt, das im Rollstuhl saß und von einer Krankenschwester geschoben wurde. Sie wusste, was das Schönste auf der ganzen Welt war. Er hingegen wusste es nicht. Wie war es möglich, dass er in seinem Alter, bei allen Dingen, die er gesehen und erlebt hatte, noch nicht wusste, was das Schönste auf der Welt war?“

Vielleicht war das möglich, weil die Zeit (zu) schnell altert? Diese Antwort könnte jedenfalls der Titel der neun kleinen Erzählungen, die Antonio Tabucchi 2009 bei Feltrinelli veröffentlichte und die 2010 von ‚seiner‘ Übersetzerin Karin Fleischanderl übersetzt im Hanser Verlag erschienen, nahe legen. Oder sind die Protagonisten trotz aller Erfahrungen und Erlebnisse allesamt noch nicht alt genug, vor allem dem Tod noch nicht nah genug, um wissen zu können, was das Schönste auf der Welt ist?

Wenn aber nicht einmal ein alter Schriftsteller weiß, was das Schönste auf der Welt ist, was ist dann mit der Welt los? Sie ist aus den Fugen, vor allem in Italien. Denn die Frage nach dem Schönen wird noch einmal anders gestellt: „Ferrucio, flüsterte es ganz leise, erinnerst du dich, wie schön Italien war?“ In der Gegenwart der Erzählwelt hat ein Hauptmann des italienischen Heeres in einer Friedensmission Orte und Häuser zerstört; er liegt nun am Strand, wirft sich Tabletten aus einem Glasröhrchen ein und wartet auf die Abreicherung des Urans in seinem Körper. Er muss am Strand dem adoptierten Mädchen aus Peru, das die italienische Hymne auswendig kann, weil der italienische Präsident ihr eingetrichtert hat, wie wichtig es sei, die Hymne zu achten und sie so zu singen wie die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft, mit Hand auf dem Herz, erklären, dass es die arische Rasse gar nicht gibt und wie gefährlich Ideologien sind – bevor er ohnmächtig die nächsten Tabletten einwirft.

Wo ist die Schönheit, wo ist das Schönste des Lebens? Die ‚Helden‘ dieser Geschichten wissen es nicht, sie wissen auch sonst nicht viel, vor allem nicht über sich selbst, obwohl sie durch die Hölle verschiedenster Diktaturen und Kriege gegangen sind, zwischen Moskau, Tel Aviv, Ost-Berlin und New York. Sie leben in oft nebulösen, fragmentierten Erinnerungswelten nicht selten der Kindheit, immer auf der Suche nach einem Ort, der ihnen nicht fremd ist, der unauffindbar bleibt. Ortslos werden sie durch die Weltgeschichten und -gegenden getrieben, weshalb sie sich ihrer Realität immer wieder versichern müssen, so wie die Frau in der ersten Erzählung, in deren Gestalt das Berberische und der Sand des Inneren der Sahara auf die hochgezüchteten, alkoholkranken Familienclans der grands boulevards von Paris und Sankt Gallen und auf die Fontäne des Genfer Sees trifft: Sie gleitet auf einer Alpenwiese mit den Fingern durch die gelben Wildgrashalme und betastet den Boden darunter, um in etwa erahnen zu können, dass und wo sie lebt.

In solch einem Besinnungsmoment hat einer von ihnen dann aber doch noch etwas verstanden, zumindest glaubt er, dass er etwas verstanden hat, „und zwar, dass die Geschichten immer größer sind als wir, sie stoßen uns zu, und wir sind, ohne es zu ahnen, ihre Protagonisten, aber der wahre Protagonist der Geschichte, die wir erlebt haben, sind nicht wir, sondern es ist die Geschichte selbst, die wir erlebt haben.“ Die Menschen sind hier nur Material, Spielball für die Geschichte, sie werden von ihr gnadenlos und unbeherrschbar umhergetrieben und verweht.

Was bleibt, sind einzelne Momente, bedeutsame Tage, die selten sind, sei es ein bestimmter Bordellbesuch in Moskau, der Gang auf eine gelbgrasige Hochebene, der Blick in die Wolken, die Begegnung mit einem krebskranken Mädchen – oder das Spielen des Wenn-Spiels: „Und wenn ich nach Honduras führe? Und wenn ich Wiener Walzer tanzte? Und wenn ich auf den Mond flöge, um Cainos Pfannkuchen zu essen? Und wenn Caino gar keine Pfannkuchen gemacht hätte? Und wenn ich mit dem Schiff davonführe? Und wenn das Schiff bereits abgefahren wäre? Und wenn es auf meinen Pfiff hin zurückkäme? Und wenn Betta heiratete? Und wenn die Malteserkatze Klavier spielte und auf Französisch sänge?“

Licht bricht in Gestalt von Poesie immer wieder in die finsteren, schnell gealterten Zeiten hinein, und so ist es in Tabucchis Welt sogar möglich, dass auf der Berliner Karl-Liebknecht-Straße eine schöne Villa mit Blick auf Unter den Linden steht.

Titelbild

Antonio Tabucchi: Die Zeit altert schnell. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
169 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235656

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