Wer hat Angst vor dem großen Gleichmacher?
Der von Wilhelm Amman, Georg Mein und Rolf Parr herausgegebene Tagungsband „Globalisierung und Gegenwartsliteratur“ zeigt, wie vielfältig Literatur zur schärferen Konturierung einer umstrittenen Kategorie beitragen kann
Von Monika Stranakova
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte – missbrauchte – und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre“, schrieb Ulrich Beck 1998 in seinem im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Buch „Was ist Globalisierung?“. Auch wenn ein Teil dieser Behauptung nicht minder für Becks eigenen Versuch, zur Klärung der Diskussionen beizutragen, gilt, hat der Soziologe bis heute Recht behalten. Beck fasste zwar erstmals mehrere Dimensionen des Phänomens – die ökonomische, ökologische, politische, gesellschaftliche und kulturelle – gleichzeitig ins Visier, führte uns damit dessen Komplexität und Mehrdimensionalität sowie die Überkommenheit der tradierten politischen Herangehensweisen vor Augen, doch einen Vorschlag für die politische Gestaltung der Globalisierung bot er nicht wirklich. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sind seitdem um eine Konzeptualisierung des Gegenstandfeldes bemüht, aber nach wie vor weit von einem transdisziplinär gültigen Begriff entfernt. Dass die Nationalstaatsfixierung die Beschreibung „transnationaler“ Phänomene behindert, hat man längst erkannt, und auch von einer unkritischen, fortschrittsoptimistischen und kompromisslosen Bejahung der Globalisierung kann spätestens seit der Weltfinanzkrise wohl nicht mehr die Rede sein.
Die Globalisierungsprozesse in ihrer Komplexität zu reflektieren, vermag durchaus auch die Literatur. Diesem Beziehungsverhältnis sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Dezember 2008 bei einer Tagung an der Universität Luxemburg aus unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen. Im Mittelpunkt ihres Interesses standen die Einsichten, die die Literatur in die „Verschiebungen der Grundlagen unseres kulturellen Wissens“ eröffnet: Anhand vorwiegend deutschsprachiger Texte der Gegenwartsliteratur wurde nicht nur untersucht, wie Globalisierung als Thema und Gestaltungsprinzip auftritt, sondern auch erörtert, wie sich das Verständnis von Literatur und Autorschaft unter den globalisierten Rahmenbedingungen verändert, was wiederum die Frage nach neuen theoretischen Konzepten von Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft nach sich zieht. Nachzulesen sind die Beiträge nun im von Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr herausgegebenen Sammelband „Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven“.
Dass es sich bei der Globalisierung um einen Prozess handelt, der der gesellschaftlichen Entwicklung seit längerem innewohnt, zeigt der Eröffnungsbeitrag von Claudia Liebrand. Ausgehend von Goethes Konzept der Weltliteratur, das die Goethe’schen Erfahrungen der Vernetzung und der Transnationalisierung zu erfassen versucht und sich wegen seines fragmentarischen Charakters als ein „widersprüchliches und besonders komplexes Konstrukt“ bezeichnen lässt, geht die Autorin den Parallelen nach, die es trotz der Unterschiedlichkeit damaliger und aktueller Phänomene punktuell gibt. Nichts steht ihr dabei ferner als Goethe zum Globalisierungstheoretiker zu machen. Er fasziniert sie als „prophetische[s] Sprachrohr der Globalisierung“. Als solches hätten ihn Karl Marx, Fritz Stich und Theoretiker der Postmoderne verstanden, meint Liebrand, auch wenn ihre Rekonstruktionsversuche wegen der Offenheit der Goethe’schen Aussagen äußerst heterogen ausfallen: Während sich Weltliteratur in der materialistischen Lesart, wie es bei Manfred Koch treffend heißt, „aus dem planetarischen Expansionsdrang des Kapitals“ ergebe, präsentiere sich Goethes Idee in der humanistisch-utopischen Nachkriegsnarration Fritz Stichs als moralische Aufgabe der kulturellen Aussöhnung der Völker und Einigungsgedanke. In alteritätstheoretischen beziehungsweise postkolonialen Diskussionszusammenhängen, für die hier exemplarisch die Äußerungen Fawzi Boubias und Homi K. Bhabhas stehen, werde Weltliteratur wiederum im Sinne eines frühen kulturelle Differenzen betonenden Abwehrkampfes gegen Hegemonisierung, Homogenisierung und Kulturangleichung verstanden. Einig ist man allerdings in einem wesentlichen Punkt, auf den Hendrik Birus schon andernorts hingewiesen hat, dass nämlich Goethes Begriff der Weltliteratur „weder in quantitativer Hinsicht (‚alle Einzelliteraturen umfassend‘) noch in qualitativer (‚die besten Werke aus ihnen‘) angemessen zu fassen“ sei. Ihm ging es vielmehr darum, dass die „Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken“.
Seit Jahren hält sich im Literaturbetrieb hartnäckig das Gerücht, dass deutschsprachige Schriftsteller zu drängenden Themen der globalisierten Gegenwart zu wenig zu sagen hätten. Dass dem nicht so ist, belegen die hier behandelten Autoren (und Texte). Gemeinsam ist ihnen angesichts der neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten ein „verändertes Weltverständnis“, das sie als sensible Seismografen (welt-)gesellschaftlicher Entwicklungen ausweist. Grundsätzlicher Natur sind dagegen die Unterschiede, die sich aus den jeweiligen literarischen Gestaltungen der Thematik ergeben.
So verwendet etwa Ilija Trojanow, der sich in seinen Reisereportagen ausdrücklich zur Mobilität und Vernetzung der Kulturen bekennt, den Begriff Globalisierung, wenn überhaupt, im (globalisierungs-)kritischen Sinne. Gleichzeitig werden Mobilität und Diskontinuität, etwas widersprüchlich, auch als Ursachen für die Gefährdung der kulturellen Vielfalt angesehen. Obwohl er in seinem Roman „Der Weltensammler“, wie Gregor Streims detaillierte Ausführungen belegen, motivisch und begrifflich auf das Konzept der Hybridität anspielt, werden Hybriditätsmodelle nicht im Diskurs des Postkolonialismus verhandelt. Der Autor entwarf seinen Romanhelden Francis Richard Burton als „Vertreter einer neuen privilegierten Schicht kosmopolitischer Bewohner der globalisierten Welt“, der sich entsprechend Trojanows Vorstellungen von kultureller Heterogenität als Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Einheiten beispielhaft auf den Wechsel kultureller Codes – nicht im Sinne einer „Verwirrung“, sondern des „Nacheinanders der Rollen und Identitäten“ – versteht.
Matthias Politycki wiederum verortet sein Schreiben in Abgrenzung von der US-amerikanischen Kulturhegemonie und sucht in seinen Essays nach einer genuin europäischen Literatur. Grundpfeiler seiner Poetik der Globalisierung sind nach Bernd Blaschke der Tourismus als Erfahrungsform (hier sein Kuba-Aufenthalt als Schlüsselerlebnis) und seine Beobachtungen zur Rollenverteilung zwischen Zentrum und Peripherie, für die er breite Darstellungsformen und literarische Mittel findet. Nicht zuletzt geht es in seinen Texten um die Konstruktion moderner Subjektivität unter dem Einfluss globaler Erfahrungsräume, um europäische Selbstzweifel und Identitätskrise versus kubanische Vitalität.
An Goethes Doppelstrategie als Publizist, „Weltbewohner“ und zugleich „Weimaraner“ zu sein, fühlt sich der Leser bei der Lektüre jener Ausführungen erinnert, in denen das Spannungsverhältnis zwischen „Metropole“ und „Provinz“ beziehungsweise „Globalität“ und „Lokalität“ aufscheint. Auf diese Strukturverbundenheit und die sich daraus ergebende kulturelle Dynamik, sowie die Art und Weise, wie Literatur diese Gegentendenzen aufgreift und für sich konzeptuell nutzt, eventuell sogar auf einer höheren Ebene reflektiert, gehen unter anderem Julia Bertschiks Überlegungen zur internationalen Popliteratur ein. Während die neue Popliteratur in Deutschland bereits Teil eines historisierenden akademischen Diskurses geworden ist, so ihre These, findet das wie eine „Glokalisierungsmaschine“ funktionierende Phänomen beim osteuropäischen und asiatischen Leser regen Zuspruch. Demgegenüber verliert der lokale Akzent in den aktuellen Stadtdarstellungen an Bedeutung. Wie die vielschichtigen Narrationen von Terézia Mora und Katarina Hacker zeigen, sind für die Autorinnen die Metropolen Berlin und London als globalisierte Stadt, als deterritorialisierter Sozialraum der Netzwerkgesellschaft interessant. So ergab Christian Siegs Vergleich von Moras Roman „Alle Tage“ mit Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, dass die Montagetexte bei Mora kein Lokalkolorit mehr transportieren, sondern Ausdruck der Fremdheit sind, die die Hauptfigur gegenüber ihrem Aufenthaltsort empfindet.
Ähnliches macht Wilhelm Amann mit Hilfe Martin Albrows Modell der „socioscapes“ für Katarina Hackers Roman „Die Habenichtse“ sichtbar. London wird hier als eine „global city“ dargestellt, in der soziale Beziehungen nur lose an ein lokales Umfeld gekoppelt sind und zunehmend transnational und in virtuellen Räumen stattfinden. Die Rede von der „Gemeinschaft der Fremden“ im Simmel’schen Sinne ist auch für Hackers globale Elite zutreffend, wie es an ihren ambivalenten Reaktionen auf die zu den Globalisierungsverlierern gehörende Nachbarsfamilie abzulesen ist.
Betrachtet man die Gegenwartsliteratur als Teil der Medienkultur, rücken die zunehmend auch den Buchmarkt bestimmenden inhaltlichen und formalen Paradigmen der Marktwirtschaft und die darauf reagierenden Marketingstrategien ins Blickfeld. Die kulturelle Imagination und Konstruktion von Autorschaft wird inzwischen von den elektronischen Medien wesentlich mitgeprägt, wenn auch, so die Autoren zweier Beiträge einhellig, in Deutschland nicht deren Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden (siehe hierzu auch den Themenschwerpunkt „Verlage und Literaturkritik im Internet“ in der Dezember-Ausgabe von literaturkritik.de). Anke S. Biendarras und Thomas Ernsts Einschätzung basiert auf der (voneinander unabhängigen) Analyse zweier Medienformate der literarischen Kultur im „World Wide Web“, die von ihnen als performative Inszenierungsformen betrachtet werden – Autorenwebseiten und Weblogs.
Die Sichtung 25 persönlicher, nicht vom Verlag unterhaltener Webseiten zeitgenössischer Autoren in Deutschland und den USA – fälschlicherweise wird hier der Vergleich mit den nordamerikanischen Tendenzen mit einer post-europäischen beziehungsweise globalen Perspektive gleichgesetzt – ergab, dass deutschsprachige Schriftsteller (ausgenommen der Jugend- und Unterhaltungsliteratur) ihre Seiten „primär als ‚Visitenkarte‘“ nutzen und ihre Leser „auf professionelle Weise informieren“. Sie hinken in Sachen Innovation, Interaktivität und Imagepflege ihren amerikanischen Kollegen hinterher, die mit ihren Lesern selbstverständlicher via Internet kommunizieren, sie untereinander geschickt vernetzen und nicht selten zum Austausch über Kontinente hinweg animieren. Die Gründe dafür liegen, wie Biendarra einräumt, teilweise außerhalb des Einflussbereichs der Autoren. Ähnliches gilt laut Ernst für die digitale Genrehybride Weblog: Zwar werden „Litblogs“ neben den sich als Netzliteraten inszenierenden Bloggern auch von etablierten (Offline-)Autoren genutzt, doch auf sehr heterogene Weise und selten zur „Selbstoptimierung“. Als avancierteste Form der Nutzung hebt er Gemeinschaftsprojekte mehrerer Autoren hervor, da diese kollektive Literaturproduktion im Medium Buch so nicht realisierbar wäre.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes geben also nicht nur einen Einblick in das breite Spektrum der vielschichtigen Beschäftigung des literarischen Diskurses mit Globalisierungsphänomenen, sondern es gelingt den Autoren auch überzeugend, die Leistungen der Schriftsteller im Hinblick auf die Transformationsprozesse, die die Globalisierung generiert, zu verdeutlichen. Das Vorverständnis davon, was Lokales, Regionales, Nationales und Kontinentales heute bedeutet, wird auch von dichterischen Imaginationen herausgefordert und neu akzentuiert. Die Vielfalt der thematischen Schwerpunktsetzung, formalen Gestaltung oder des Selbstverständnisses der Autoren, oder aber die sich unterschiedlicher globalisierungstheoretischer Perspektiven und Ansätze bedienenden wissenschaftlichen Fragestellungen und Herangehensweisen, mit denen man das Verhältnis „Globalisierung und Gegenwartsliteratur“ in diesem Buch zu beschreiben sucht, lassen die Schreckensszenarien einer schleichenden Vereinheitlichung der Kulturen fraglich erscheinen. Die zahlreichen Querverbindungen, die sich glücklicherweise zwischen den einzelnen Beiträgen ergeben, machen die Lektüre zusätzlich lohnenswert.
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