Das archimedische Prinzip gefunden?

Gert Scobel versucht, Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kennen Sie das sogenannte „Fliegenglas“, in dem gefangene Fliegen hilflos herumschwirren und den Ausgang nicht finden, obwohl der draußen stehende Betrachter ihn sofort erkennt? Ähnlich ergeht es oft Menschen, die sich in dem Gestrüpp von Problemen und Begriffen verirren, meint der Philosoph Ludwig Wittgenstein und rät, der Philosophie zu vertrauen, die zu gedanklicher, sprachlicher und begrifflicher Klarheit verhilft. „Was ist dein Ziel in der Philosophie?“ fragt der Philosoph. Antwort: „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen.“

Auf Ludwig Wittgenstein bezieht sich auch der Fernsehmoderator Gert Scobel in seinem neuen Buch „Ausgang aus dem Fliegenglas“, in dem er sich redlich bemüht, wie der Untertitel verheißt, Religion und Vernunft miteinander in Einklang zu bringen. Wahrlich keine einfache Aufgabe, vor der mancher heutzutage kapitulieren würde. Scobel macht es sich allerdings auch nicht leicht und verzichtet auf schnelle, griffige Antworten. Er holt weit aus und da er nicht nur äußerst beredt, sondern als Jesuitenschüler und Grimme-Preisträger auch sehr belesen ist, greift er auf etliche Koryphäen aus der Philosophie, der Theologie und anderen Bereichen zurück, springt von Platon zu Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, von der Neurobiologie zu Sören Kierkegaard, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, von Blaise Pascal zu Martin Luther und vielen anderen, selbst Albert Camus und den Dalai Lama lässt er aufmarschieren und zitiert aus alten und neuen Werken. Gleichwohl sind, trotz mancher gedanklicher Anstrengung, seine Ausführungen überwiegend anregend und spannend zu lesen.

Zunächst reflektiert der Autor über Vernunft und die Grenzen der Erkenntnis, vermittelt einen Überblick über das, was wichtige Denker im Laufe der Jahrhunderte dazu gesagt haben, skizziert Verschiebungen im Vernunftbegriff und stellt fest, dass Vernunft wie auch Religion und Glauben Ergebnisse kultureller Definitionsprozesse sind und dass der Mensch, ob gläubig oder nicht, eine denkende Fliege ist, die den Ausweg aus dem Fliegenglas sucht, sich aber damit abfinden müsse, dass es für ihn, also für uns alle, keine vom Menschen losgelöste Welt gibt und dass Glauben und Religion wie auch Vernunft, Wissenschaften und Philosophie mit den Grenzen und Begrenztheiten des Lebens zu tun haben. Scobel vermittelt Einsichten in die Funktionsweisen der Vernunft und unterscheidet strikt zwischen Verstand und Vernunft. Letztere beruht nicht wie der Verstand auf Erfahrungen und ist auch nicht auf Gegenstände in der Welt ausgerichtet – für die Naturwissenschaft reicht es allerdings aus, sich mit dem zu befassen, was der Fall ist –, sondern auf Ideen, wie etwa auf die Idee der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Guten, Seele oder Gott, denn auch Gott ist, zumindest für Kant, eine Idee. Jedenfalls lasse sich Gott nicht denken als ein Objekt der Welt. „Das ist das Göttliche unserer Seele, dass sie der Ideen fähig ist“, heißt es im Nachlass des kritischen Philosophen Kant.

Wenn Gert Scobel dann jedoch auf Seite 171 immer noch fragt „Wie also soll man vernünftig sein“, so kommt einem unversehens der Seufzer von Johann Wolfgang Goethes Faust in den Sinn: „Da steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zu vor.“ Aber lassen wir uns nicht beirren, der Autor ist ja schließlich mit seinen Überlegungen und Ausführungen auch noch lange nicht am Ende.

Gläubige wie Nichtgläubige, lesen wir weiter, müssten wohl oder übel mit der Komplexität des Lebens zurechtkommen. Doch welche Faktoren tragen dazu bei, die Grundlage für ein glückliches Leben zu legen? Worauf kann man sich verlassen?

Im Westen herrscht überwiegend die Meinung vor, dass die Welt des Glaubens und die Welt der Vernunft nicht miteinander vereinbar seien. Tatsächlich gibt es wissenschaftlich kaum zu belegende Annahmen über das Leben nach dem Tod, über die Unsterblichkeit der Seele oder die Wiedergeburt sowie über die Abstammung und das Wesen des Menschen ebenso wenig eine alle Menschen überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins. An eben diesen Fragen entzündet sich immer wieder der religiöse Funke. In der Vergangenheit wurde nicht selten die Vernunft auf dem Scheiterhaufen verbrannt, merkt Scobel an. Mittlerweile dürfte die Behauptung der Theologen, dass allzu viel Vernunft ein Zeichen für das Handeln des Teufels sei, sich längst überholt haben. Vor Jahrhunderten wäre es indes schwer gewesen, wenn nicht sogar undenkbar, die „großen Fragen“ ohne jeglichen Bezug auf Gott beantworten zu wollen, in einer Zeit also, in der angeblich alles voller Sinn war und in der selbst das Böse innerhalb der religiösen Ordnung seinen sinnvollen Platz hatte. Doch nach der von Max Weber konstatierten Entzauberung der Welt, nach Säkularisierung, Pluralisierung und Fragilisierung wird die Suche nach einem wirklichen Halt, der Glaube an Gott immer schwieriger und das Gefühl der Gottverlassenheit, die zugleich einen Verlust an Gewissheiten mit sich bringt, immer größer. Was uns dabei vor allem Angst macht, ist das Werden und Vergehen.

Was aber heißt Glauben? Und was hat es mit der angeblichen Rückkehr von Religion auf sich und mit unserer Sehnsucht nach Erlösung oder mit der Idee der Verheißung? Ist alles nur eine Illusion, wie Freud behauptete, fragt sich der Autor und stellt fest, dass wir Gott trotz alledem offensichtlich nicht loswerden.

Bevor er jedoch ein Resümee zieht, diskutiert er noch verschiedene Gottesbeweise, lotet alle möglichen und unmöglichen Tiefen und Untiefen aus, macht auf Denkfehler aufmerksam und warnt vor dem Mumifizieren lebloser Gedankenhülsen. Nietzsche nannte diesen Vorgang „Ägyptizismus“. Fürwahr, Scobel hat es sich nicht leicht gemacht. Zuweilen hat man allerdings den Eindruck, dass er über Gebühr problematisiert. Und zu welchen Schlussfolgerungen gelangt er schließlich?

Der Verfasser schlägt einen Aspektwechsel vor, damit wir in den Blick bekommen, was wir bisher übersehen haben. Zudem könnten wir uns mit Hilfe der Vernunft, nicht des Verstandes wohl gemerkt, über die Baumgipfel des Irrtums erheben, um einen anderen Zugang zur Welt und zu den offenen Fragen zu bekommen, auch wenn unserem Erkenntnisvermögen gewisse Grenzen innewohnen.

Vielleicht sind wir im Hinblick auf die letzten Fragen Dichter, wie Nietzsche meinte, der übrigens seinen Zarathustra sagen ließ: „Ach, es gibt so viel Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich nur die Dichter etwas haben träumen lassen.“ Selbst Goethe, Nietzsche, Franz Kafka und auch Robert Musil haben sich mit diesen Problemen auf je eigene Weise auseinandergesetzt.

Zu einer anderen Perspektive verhelfen uns, meint Scobel, vor allem Gleichnisse. Dabei könne das Unsagbare durchaus erfahrbar werden. Immerhin sei das eine Möglichkeit, „die der Vernunft ebenso wenig widerspricht, wie sie ihr entspricht oder entspringt. So eröffnet der religiöse Blick am Ende einen, wenn auch nicht den einzigen Weg zu einer Wirklichkeit, die sich zeigt. Ihn zu gehen ist weise. Und mehr als Weisheit haben, wenn es die Bewältigung des alltäglichen Lebens mit seinen Sorgen und Ängsten angeht, weder Religion noch Vernunft zu bieten.“

Hat Gert Scobel damit das archimedische Prinzip beziehungsweise den Stein des Weisen gefunden, um so Religion und Vernunft miteinander in Einklang zu bringen? Das möge jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Titelbild

Gert Scobel: Der Ausweg aus dem Fliegenglas. Wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
463 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100702142

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