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Dieter Lamping klopft nochmal die Grundlagen und Nützlichkeiten der „Idee der Weltliteratur“ ab

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literaturwissenschaft kennt berühmte Fragen. Ihre berühmteste ist: Was ist Literatur? Diese Frage kann dann noch weiter spezifiziert werden: Was ist die Grenze, die Texte der Literatur angehören lässt? Wer entscheidet, wer urteilt, und nach welchen Kriterien über die Zugehörigkeit einer Erzählung zur Literatur? Wie kann eine Textmenge von einer anderen Textmenge unterschieden werden?

Die Abgrenzung von Literatur und Nicht-Literatur ist das vielleicht größte immer noch anstehende Problem der Literaturwissenschaft, schreibt Klaus Weimar im Reallexikon: „Literatur hat derzeit je nach Zusammenhang eine Reihe von unterschiedlichen und unterschiedlich genau bestimmten Bedeutungen“. Das Problem, was unter Literatur zu verstehen und wie sie zu bewerten sei, ist in Deutschland seit etwa zwei Jahrhunderten an der Tagesordnung, so dass Nikolaus Wegmann die Frage stellt, ob es überhaupt das gibt, wonach gefragt wird? Seine Antwort: „Eine Wirklichkeit des Phänomens nach dem Modell einer objektiven Entsprechung zwischen der Literaturtheorie und dem, was im Phänomenbereich als Fakten- oder Tatsachenwissen kursiert, gibt es nicht – oder nicht mehr. Im gegenwärtigen nach-metaphysischen Zeitalter fehlen die dazu notwendigen fixen Orientierungs- und Beobachtungspunkte.“

Was ist dann „Weltliteratur“? Dieter Lamping hat ein Buch über Johann Wolfgang Goethes Konzept der „Weltliteratur“ geschrieben, die berühmteste Frage der Literaturwissenschaft stellt er dabei nicht. Die Frage „Was ist Welt?“ stellt er ebenfalls nicht. Warum auch, schließlich hat der Begriff „Weltliteratur“ mit dem Ende des „Kalten Krieges“ und sich intensivierender globalisierender Prozesse neue Aktualität und aufgrund seines meist eher unreflektierten und vor allem inflationären Einsatzes eine kaum mehr hinterfragbare Berechtigung gewonnen. Die Frage nach seinem Sinn stellte indes Erich Auerbach in dem Text „Philologie der Weltliteratur“ bereits 1952: Welchen Sinn hat das Wort Weltliteratur heute noch, wenn alles global (und somit, zumindest in der Sichtweise Auerbachs, homogen) geworden sein sollte? Kann es im Zeitalter der Globalisierung noch eine Nicht-Weltliteratur geben – und wie sähe diese dann aus?

Ganz abgesehen von möglichen Globalisierungsfolgen für Goethes Konzeption stellen sich aber ohnehin Fragen an den Begriff: Worin besteht die Differenz zwischen „Weltliteratur“ und „Literatur“? Wenn der Begriff einen ‚Distinktionsgewinn‘ abwerfen soll, kann Weltliteratur nur eine Untereinheit der Literatur bilden, nur einen Teil der Literatur(en) der Welt meinen. Wie ließe sich diese Untereinheit bestimmen?

Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten ein glänzendes Wort, das viele Wünsche und Projektionen einzuschließen in der Lage war und ist, wird „Weltliteratur“ in den neueren Aktualisierungen und Rezeptionen meist an politische und ökonomische Entwicklungen gebunden: sei es als Ware für den Weltmarkt, als Medium interkulturellen Ausgleichs oder als Reflexionsinstanz der Globalisierung. Lamping zeigt in seiner Studie, wie diese Aktualisierungen dabei die Reichweite von Goethes Idee einschränken: entweder auf das Zeitalter des Kapitalismus, des Postkolonialismus oder der Globalisierung. Ob diese Literatur als Weltliteratur glücklich bezeichnet sei, schreibt Lamping, erscheine fraglich: Zumindest werde damit unter Weltliteratur etwas anderes verstanden, als Goethe es getan habe. Karriere habe lediglich das Wort, nicht aber die Idee Goethes gemacht.

Nach Goethe ist Weltliteratur so zu verstehen, dass „die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken“ („gesellschaftlich wirken“ übersetzt Lamping dabei unter Verweis auf Victor Langes Aufsatz „Nationalliteratur und Weltliteratur“ mit „gemeinsam literarisch tätig sein“ – wobei das ein wenig kurz gegriffen scheint). „Einander kennen lernen“ meint hier nicht nur (schriftlichen) Austausch, sondern in erster Linie direkten Kontakt, Besuch: Das gesellschaftliche Wirken wird, so Goethe 1828, „aber mehr durch Reisende als Korrespondenz bewirkt, indem ja persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt das wahre Verhältnis unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.“

Goethes Idee einer Weltliteratur ist damit von zeitgenössischen Entwicklungen beeinflusst: Nicht nur die neue politische und ökonomische Ordnung Europas nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und der Aufhebung der Kontinentalsperre erleichtert den literarischen Austausch, die Zirkulation der Gedanken, sondern auch technische Neuerungen: „die sich immer vermehrende Schnelligkeit des Verkehrs“ durch „Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation“. Ihre Schnelligkeit mache Weltliteratur gar „unausbleiblich“.

Es ist ein nicht zuletzt pädagogisches Projekt: die fehlbaren Literatoren sollen einander korrigieren. Mit Rezeption, Vermittlung und Übersetzung allein ist es also nicht getan. Neben der Kenntnis von anderen Literaturen und literarischen Bezugnahmen ging es Goethe vor allem um ganz konkrete Kontakte zwischen Autoren verschiedener Nationen, um gegenseitigen Besuch, um das direkte Gespräch ‚von Angesicht zu Angesicht‘, der „persönlichen Gegenwart“. Ihr traut er eine Wahrheit im literarischen Austausch zu, die Medien – damals das Buch, die Zeitung oder der Brief – nicht herbeizuführen vermögen. Das ist der grundlegende Unterschied von Goethes Auffassung von Weltliteratur zu derjenigen beinahe aller späteren Benutzer, die, so Lamping, „zunächst, ja oft ausschließlich Texte, kaum Kontakte“ meinen. Dieser Unterschied ist in Neuen-Medien-Zeiten besonders hervorzuheben.

Lamping geht in seiner akribischen und umfassenden Beleuchtung von Goethes Konzept der „Weltliteratur“ auch auf das relativ zeitgleiche Entstehen des Begriffs „Nationalliteratur“ ein: Während im Konzept der Nationalliteratur „die Verschiedenheit der Literatur betont wird, die als Begründung für deren Einteilung in einzelne Literaturen dient“, wird im Konzept der Weltliteratur „die Verbundenheit aller Literatur akzentuiert und eine Begründung ihrer Gemeinsamkeiten gegeben“. Für Lamping bilden Nationalliteratur und Weltliteratur deshalb „keine logische Dichotomie“. Sie seien vielmehr komplementär zu verstehen: „Sie akzentuieren zwei unterschiedliche, jeweils grundlegende Aspekte von Literatur.“ Es gehe nicht um eine Alternative: Weltliteratur oder Nationalliteratur, sondern Weltliteratur existiere in der Nationalliteratur. Sie sei keine Literatur für sich, sie existiere nicht neben oder über den Nationalliteraturen, sondern könne sich immer nur in Nationalliteratur realisieren. Neue Konzepte von Weltliteratur hätten demnach wenig mit der Idee Goethes zu tun; seine Idee werde verfehlt, wenn unter Weltliteratur nicht Austausch zwischen mehreren Nationalliteraturen, sondern Literatur, die an die Stelle der Nationalliteraturen tritt, verstanden wird.

Lamping entzieht sich in diesen Passagen allerdings einer Diskussion der Frage, ob es heute überhaupt noch Nationalliteraturen gibt beziehungsweise wie sich diese in sich globalisierenden Zeiten noch abgrenzen lassen könnten. Dieser konservative Zug von Lampings Studie löst sich am Ende in einem Appell an die Literaturwissenschaften auf, in ihrem Alltag mit der Internationalität der Literatur endlich ernst zu machen. Bei aller Hochachtung vor Goethe und Lamping dürften dafür aber Weiterentwicklungen des Begriffs etwa von Homi K. Bhabha, David Damrosch oder John Pizer trotz aller Kritik dennoch fruchtbarer sein als Goethes grundlegende, verstreute Bemerkungen.

Titelbild

Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2010.
152 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-13: 9783520509017

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