Unzeitgemäße Untersuchungen: Möglichkeiten und Grenzen der (historischen) Rezeptionsanalyse
Helmut Kortes Standardwerk zur systematischen Filmanalyse ist in einer erweiterten Auflage erschienen
Von Tobias Kurwinkel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHelmut Kortes „Einführung in die Systematische Filmanalyse“ gehört in die Reihe der Einführungswerke zur Filmanalyse und findet ihren Platz zwischen den Büchern von Werner Faulstich und Thomas Kuchenbuch, um zwei klassische Vertreter dieser Buchreihe ohne Reihentitel zu nennen. Das Buch des Göttinger Emeritus für interdisziplinäre Medienwissenschaft liegt nun in einer vierten, neu überarbeiteten und erweiterten Auflage vor. Grund genug sich zu fragen, was die Neuauflage dieses ‚Einzeltitels‘ rechtfertigt und worin die Erweiterungen liegen.
Kortes Standardwerk zur Filmanalyse unterscheidet sich von den anderen Klassikern vor allem in der Nutzung von quantifizierbaren Verfahren und darauf aufbauenden grafischen Darstellungsweisen für die filmimmanente Analyse. Ausgangspunkt ist dabei immer die Transkription, die formal-inhaltliche Protokollierung des filmischen Ablaufs, um am Ende einen „präzisen und überprüfbaren Interpretationsrahmen für die qualitative Gesamtanalyse zu erhalten“.
Dieser methodische Analyseansatz unterscheidet sich von denen der Filmkritik und „primär literarischen Filminterpretationen“ insofern, da er die Simultaneität verschiedener Faktoren während des „ganzheitlichen Wahrnehmungsvorgangs“ der Filmbetrachtung in ein „überschaubares Nacheinander“ auflöst und in weiteren Schritten das Zusammenspiel der einzelnen Elemente untersucht.
Eingebettet ist diese „Objektivierung des eigenen Filmerlebnisses“ im „Spannungsverhältnis von historisch-gesellschaftlichen Einflüssen und den realen Rezeptionen“.
Abgesehen von der Filmrealität, welche die Ermittlung aller am Film selbst feststellbaren Daten, Informationen und Aussagen meint, geht Helmut Kortes Systematische Filmanalyse von drei weiteren Dimensionen aus: Der Bedingungs-, Bezugs- und Wirkungsrealität. Die Berücksichtigung aller vier Dimensionen oder Untersuchungsbereiche hängt, wie Korte betont, von der Fragestellung sowie dem Untersuchungsgegenstand ab.
Die Grenzen dieses Ansatzes liegen in der Analyse von historischen Filmen. Der vierten Auflage hat Helmut Korte deshalb ein Kapitel hinzugefügt, das in Form von drei Thesen die „Möglichkeiten und Grenzen der (historischen) Rezeptionsanalyse“ beleuchtet und ein Idealmodell für letztere anbietet. So erklärt er, dass die Filmgeschichte notwendig Rezeptionsgeschichte sei, dass die rezeptionsbedingte Analyse nur als eine Kette von Indizien realisiert werden könne und dass diese immer eine Gratwanderung zwischen objektiven Daten, Interpretationen und der Gefahr tendenzieller Spekulation sei.
Das auf diese Thesen aufbauende Idealmodell berücksichtigt als Kontextanalyse den zeitgenössischen Rezeptionshintergrund, als Produktanalyse Inhalt und Präsentationsstruktur des Untersuchungsgegenstandes und als Rezeptionsanalyse historische Dokumente und Hintergrundinformationen.
Das „Arbeitsbuch“ ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teile stellt die Grundlagen des filmanalytischen Ansatzes vor, der zweite Teil wendet diesen in Beispielanalysen von Hans-Peter Rodenberg („Zabriskie Point“), Peter Drexler („Misery“), Helmut Korte („Schindlers Liste“) sowie Jens Thiele („Romeo und Julia“) an, der dritte Teil liefert eine kommentierte „kleine Bibliographie zur Thematik“, in die auch aktuelle Titel Eingang gefunden haben.
Wenngleich das neue Kapitel eine wertvolle Erweiterung des Buches darstellt und den Ansatz gelungen auf den historischen Film überträgt, wäre die praktische Anwendung in einer Beispielanalyse wünschenswert gewesen. Genügend Material ist vorhanden, schließlich hat Korte seine „historische Filmanalyse“ bereits 1978 und 1998 in Untersuchungen zum Film der Weimarer Republik ausführlich getestet.