Vertrackte Rückkehr

Michael Grisko und Henrike Walter geben einen Sammelband über die Situation remigrierter Künstler im Nachkriegsdeutschland heraus

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 1970-Jahren erfuhr die Exilliteratur einen enormen Aufschwung sowohl auf dem Buchmarkt als auch im Wissenschaftsbetrieb, wobei der Grund für diesen Boom wohl primär im damaligen links-antiautoritären Zeitgeist zu suchen ist, der, so sein Selbstverständnis, die Versäumnisse und Verfehlungen der Vätergeneration in sämtlichen Lebens- und Geistessphären kompensieren beziehungsweise korrigieren wollte.

1970 war es, als die Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur gegründet wurde; seit 2001 firmiert sie unter dem Namen Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. Dorthin kam 1977 das Archiv Paul Walter Jacobs, der in jenem Jahr verstarb. Dieser Schauspieler, Regisseur, Intendant und Journalist ist nun Namensgeber einer Stiftung, die der obengenannten Arbeitsstelle angegliedert ist. Ihr offizieller Förderzweck: „Erhaltung, Pflege und ständige Erneuerung der vom Stifter der Universität Hamburg geschenkten Sammlungen von Büchern, Noten, Broschüren, Archivmappen und Drucksachen aller Art. Der Erreichung des Stiftungszwecks dienen: – die Durchführung oder Förderung wissenschaftlicher, archivarischer und bibliothekarischer Arbeiten mit den zum Stiftungsvermögen gehörigen Sammlungen unter Einschluß von damit verbundenen Hilfstätigkeiten und von Forschungen über den Stifter und sein Wirken; – die Unterstützung und Auswertung solcher Arbeiten durch Darstellungen für die Öffentlichkeit, insbesondere durch Ausstellungen und Publikationen.“

Laut dem Einführungsbeitrag der beiden Herausgeber zum hier zu besprechenden Sammelband hat die Hamburger Paul Walter Jacob-Stiftung Herstellung und Drucklegung dieser Publikation finanziell großzügig unterstützt. Trotzdem kann man dem Buch nur schwer liebevolle Ausstattung, aufwändige Bearbeitung oder gar einen freundlichen Ladenpreis attestieren. Es ist dies ein durchaus nicht singuläres Phänomen und ein Rätsel, dessen Entschlüsselung aber einem Rezensenten mit verlagskaufmännischer Qualifikation überlassen sein sollte.

Von den insgesamt 14 Einzelbeiträgen ist der von der Mitherausgeberin Henrike Walter verfasste über Paul Walter Jacob (eigentlich Walter Jacob, Pseudonym: Paul Walter) der längste. Zugleich ist Walters Aufsatz „Ärger im Revier: Paul Walter Jacobs Dortmunder Generalintendanz“ auch der engagierteste, insofern er durchaus nicht den Verdacht aufkeimen lässt, die Sympathie der Autorin für den in ihrem Text Geehrten lasse sich durch nüchterne Distanznahme gänzlich dämpfen.

Jacob, 1905 in Duisburg als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, Gewerkschafter und Pazifist, emigrierte ab 1933 über Amsterdam, Paris und Luxemburg nach Argentinien, kehrte 1949 nach Europa zurück und übernahm 1950 die Leitung der Städtischen Bühnen Dortmund; von 1957 bis 1962 war er Generalintendant. Nach Nichtverlängerung seines Vertrags arbeitete er unter anderem als Schauspieler, Theaterregisseur und Rundfunksprecher. Verbitterung bestimmte sein späteres Leben.

Paul Walter Jacob, so Henrike Walter, „fühlt[e] sich berufen, am Wiederaufbau der Kultur in Deutschland mitzuwirken, und [war] überzeugt, hier zusammen mit anderen ‚anständigen Menschen‘ wichtige Arbeit leisten zu können“, und litt am Ende unter „einem hohen Maß an Überdruss und Verletztheit“ angesichts „der in zwölf Jahren verdienstvoller Arbeit nicht endenden Ärgernisse“: „Der so idealistisch und hoch gestimmt den Heimweg antrat, muss schon wenige Jahre nach der Heimkehr erkennen, dass der demokratische Anstrich nur ein ‚Lack‘ ist, der an vielen Stellen die Vergangenheit kaum hinlänglich überdeckt.“

Wesentlich bekannter als die Biografie Paul Walter Jacobs ist „die große Kontroverse“ um Thomas Mann. Philipp Gut unterzieht den von vermeintlichen „Missverständnissen“ geleiteten Zwist zwischen dem remigrationsunwilligen Autor des „Doktor Faustus“ und den „Nicht-Emigranten“ einer Revision, die sich mit jenem solidarisiert und hinter den Polemiken der Protagonisten der „inneren Emigration“ das interessierte Bemühen erkennt, zwischen den „Nazis“ und den Deutschen zu unterscheiden, um sich selbst als geheime Widerständler zu stilisieren. Im Gegensatz dazu Thomas Mann: „Sein Werk, das bezeugen seine Reden […] ebenso wie die großen Romane der Zeit, allen voran der ‚Doktor Faustus‘ (1947), sind eine permanente und überaus selbstkritische Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte. Sie atmen einen Geist der Aufklärung und Gewissensprüfung, von dem in den Statements seiner Kontrahenten wenig bis nichts zu spüren ist.“

Alle Debatten zwischen den (R)emigranten und den in Deutschland Gebliebenen zirkulierten um das Problem der Kollektivschuld und – damit verbunden – um die Frage der moralischen Integrität der jeweiligen Gruppe. Wenngleich die Aufsätze dieses Sammelbandes den Blick vornehmlich auf Westdeutschland (BRD) richten, wird erkennbar, dass die Rückkehrer in der „Ostzone“ auch vor Schwierigkeiten standen, wie Gerhard Bauer („Heim in ein Bauplanquadrat? Die Stellung einstiger Exilierter in der SBZ/DDR“) darlegt. Im Unterschied zum Westen gaben im Osten allerdings „von Anfang an die Remigranten den Ton an“; doch hatten Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Anna Seghers und Arnold Zweig einige Zugeständnisse an das Regime zu machen, das sich als antifaschistisch, demokratisch und sozialistisch zelebrierte.

Beachtenswert, was Remigrantenschicksale im Osten Deutschlands angeht, ist auch das Porträt, das Helmut Peitsch von Walther Victor („Ich bin zu Hause in meiner Partei.“) zeichnet. Zum einen nämlich repräsentierte der jüdische und sozialdemokratische Publizist die DDR-typische Rezeption deutscher Weltliteratur, indem er etwa Heinrich Heine marxistisch für den „realexistierenden Sozialismus“ reklamierte. Zum anderen nahm er innerhalb des Remigrationsdiskurses eine Position ein, der man auch aus heutiger Sicht kaum Respekt verweigern wird, weil er die Kollektivschuld nicht externalisierte, sondern gerade auch für die eigene Person anerkannte. 1946 schrieb er an den Ministerpräsidenten Sachsens: „Ich habe nie aufgehört, mich zugehörig zu fühlen, […] und ich versichere Ihnen, dass ich nicht freiwillig gegangen bin, dass ich Deutschland erst verließ, als keinerlei Wirkungsmöglichkeit mehr da war und ein Zögern das Leben gekostet hätte. Nur mit dem Hute in der Hand, in tiefer Ehrfurcht vor all dem, was Ihr erduldet, können wir uns in Gedanken Euch nahen und all unsere gläubigen Wünsche und Hoffnungen sind mit Euch, die Ihr mit Recht heute die Führung übernommen habt in eine neue Zeit und Welt. Uns ziemt nur Bescheidenheit und Zurückhaltung.“

So stellt der Sammelband ausgewählte (R)emigrationsbiografien in den Schuld-Leid-und-Sühne-Kontext der Nachkriegsjahre; und so formieren sich die Aufsätze über einzelne Personen zu einem – natürlich nicht vollständigen – Bild, welches an ein wesentliches Moment der Entstehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten erinnert.

Eine Reihe weiterer – prominenter und weniger prominenter – Namen begegnet in ihnen eigens gewidmeten Beiträgen: Erika Mann, Wilhelm Speyer, Peter Weiss, Hilde Domin, Fritz Kortner, Martin Wagner und Rudolf Belling sowie schließlich Peter de Mendelssohn. Ein derartiges Vorgehen, das Schriftsteller und Künstler zum Untersuchungsgegenstand nimmt, steht freilich in Opposition zum postmodernen Dogma vom Tod des Autors, der Nichtexistenz eines Subjekts hinter dem Text und ähnlichen antipersonalistisch-dekonstruktivistischen Postulaten. Über diese wissenschaftsimmanente Situation, in der sich gegenwärtig zwei Forschungsrichtungen mit „antiautoritärem“ Anspruch gegenüberstehen, reflektiert Julia Schöll und wirft (unter Rekurs auf Elisabeth Bronfen) ein: „Die reale, existenzielle und zumeist traumatische Erfahrung verleiht dem Exil-Diskurs eine Autorität, an der keine Textanalyse vorbeikommt.“

Bei dieser Statuierung der aus „realer, existenzieller und zumeist traumatischer Erfahrung“ genährten „Autorität“ handelt es sich jedoch wohl eher um einen moralischen als um einen rein methodologischen Akt. Ohne Ethos lässt sich also Exil(literatur)forschung verantwortlich kaum betreiben. Der besprochene Band lässt keinen Zweifel daran, dass Herausgeber und Autoren diesen Befund zu bekräftigen entschlossen sind. Moralität aber nimmt nun einmal Partei. Und wir alle wünschen und hoffen, dass das, was wir für gut halten, auch wirklich gut ist.

Titelbild

Michael Grisko / Henrike Walter (Hg.): Verfolgt und umstritten! Remigrierte Künstler im Nachkriegsdeutschland.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2011.
262 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783631611913

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