Der Wanderer und seine Stätten

Eine Topographie Friedrich Nietzsches

Von Thomas WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht." So beschreibt sich Friedrich Nietzsche um 1878 in seinem Buch "Menschliches Allzumenschliches", das den äußerlichen wie inneren Wandel des Philosophen während dieser Zeit bezeugt. Denn die Aufgabe der Professur in Basel für ein unstetes Leben als reisender Schriftsteller geht einher mit dem Übergang von der monologisierenden Kulturkritik eines unzeitgemäßen "Philogen der Zukunft" zu den aphoristischen Streifzügen in die entlegensten Winkel des europäischen Geistes. Unzweifelhaft hat sich das Wechselspiel von Krankheit und Genesung tief in das Leben und die Philosophie des wohl meistumstrittenen Denkers der Moderne eingeschrieben. Angesichts einer geradezu überbordenen Metaphorik um Meer und Hochgebirge, Klima und Landschaft, mag auch die Frage berechtigt sein, inwiefern die Wanderungen des heimat- und staatenlosen Nietzsche von Naumburg nach Sils-Maria, zwischen Alpen und Mittelmeer, ihren literarischen Niederschlag in seinem "Versuch einer neuen Weltauslegung" fanden: Es ist bekannt, dass ihn der größte und schwerste Gedanke von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen angeblich "6000 Fuss über dem Meere, jenseits von Mensch und Zeit" befallen hatte und dass seine Hoffnungen auf ein neues Europa Hand in Hand mit der Verachtung des Deutschen Reiches und seiner dekadenten Kultur gingen.

Zusammen mit dem Architekten und Fotografen Donald L. Bates hat sich der an der DePaul University of Chicago lehrende Philosophieprofessor David Farrell Krell auf eine Reise durch Leben und Landschaften des "guten Europäers" Nietzsche gemacht, um ein opulentes Porträt der Stätten seines Suchens vorzulegen. Ausgehend von dem Anliegen, "ein Gespür für die Beziehung zwischen Werk und Entstehungsort zu wecken", haben die Autoren zahlreiche zeitgenössische und aktuelle Aufnahmen mit zum Teil wenig bekannten Selbstzeugnissen und Texten des Philosophen und Dichters zusammengestellt. In vier Kapiteln zeichnet der durch Studien zu Nietzsche, Heidegger und zum Deutschen Idealismus bekannte Krell die wichtigsten Stationen des "Nomaden-Denkens" (G. Deleuze) nach, die jeweils von einem "Portfolio" eindrucksvoller Fotografien und von aussagekräftigen Brief- und Werkzitaten ergänzt werden. Vom "geliebten Vaterhaus" in Röcken (Sachsen), eingezwängt in die "Naumburger Tugend" zwischen Mutter und Schwester, über die berühmte Internatsschule Pforta bis zu den Studienjahren in Bonn und Leipzig prägten sich dem frühen Genie zahlreiche Bilder und Orte ein, die den Kosmos des späteren Wanderers in Licht und Schatten illustrierten. Doch erst der Abbruch der allzu zeitigen Karriere als klassischer Philologe eröffnet eine zehnjährige Periode der Flucht und Sehnsucht, intensivster Arbeit und tiefsten Leidens, das in Wahnsinn und Paralyse enden sollte.

Nietzsches Reisen waren nie frei und ungebunden, auch entsprachen sie nicht dem Motto eines später so populären Reisetagebuches des Kulturphilosophen Hermann Graf Keyserling, wonach "der kürzeste Weg zu sich selbst um die Welt herum führt". Die häufig wechselnden Aufenthalte zwischen Schweizer Hochgebirge und Italien - wo er am 3. Januar 1889 auf dem Marktplatz von Turin zusammenbrach - und die ständige Rückkehr ins Haus der Mutter, in dem der sieche Lehrer des Übermenschen bis zu ihrem Tod gepflegt wurde, um anschließend von der treuen Schwester als Kuriosität des eigenen Archivs in Weimar vorgeführt zu werden, spiegeln die Suche nach der "grossen Gesundheit" und die Schwierigkeiten zu "werden was man ist". Von dem Bedürfnis getrieben, Orte zu finden, die sein Schreiben und Denken gleichsam physiologisch ermöglichen sollten, begab sich Nietzsche oft an seine körperlichen und geistigen Grenzen. Gleichzeitig stieß er dabei auf Fragen, die unserer Gegenwart zum Schicksal geworden sind.

Krell und Bates gehen nicht so weit, Nietzsches wichtigste Ideen - den Willen zur Macht, die Ewige Wiederkehr, den Übermenschen, die Unschuld des Werdens, den Perspektivismus etc. - dem direkten Einfluß landschaftlicher und klimatischer Impressionen zuzurechnen. Dennoch sei es unmöglich, "diese Gedanken von dem Ort, an dem sie gedacht wurden, zu trennen". Besonders aber "Also sprach Zarathustra" (1883-1885) beschwört die schöpferische Symbiose aus beschädigtem Leben, inspirierenden Gegenden und musikalischem Denken, das zur Therapie einer ganzen Epoche angetreten war. Das Weltverhältnis des klassisch gebildeten Nietzsche entspricht am ehesten noch jenem dunklen Konzept vorsokratischer Physis, für das die Trennung in Natur und Kultur wenig Sinn macht, da dort ein dichtes Netz von Lebensbezügen um eine leibliche und irdische Vernunft gewebt scheint. Obwohl der halbblinde und chronisch leidende Nomade Nietzsche niemals die Metropolen des modernen Europa: Berlin, Paris oder London, ja nicht einmal Griechenland zu Gesicht bekam, war er ein Europäer der Sinne und des Leibes; - sein freier Geist aber verhinderte, dass er (wie so viele seiner guten und schlechten Leser) an der Scholle haften blieb.

Die vorliegende deutsche Fassung von "The Good European" (University of Chicago Press 1997) ist mehr Bildband als wissenschaftliche Biographie, doch entschädigen Krells mitreißend geschriebener Text und Bates' expressive Fotografien für eine leider nur oberflächliche Interpretation der philosophischen Schriften Friedrich Nietzsches. Durch den "topographischen" Zugang ergibt sich jedoch eine weitere interessante Perspektive auf jenes schier unerschöpfliche Gesamtwerk jenseits von Kunst und Wissenschaft.

Titelbild

David Farrell Krell / Donald Bates: Nietzsche Der gute Europäer. Die Landschaften seines Lebens. Eine Biographie in Bildern und Selbstzeugnissen.
Knesebeck Verlag, München 2000.
255 Seiten,
ISBN-10: 3896600613

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