Überleben im Anderen

Paul Ricœurs Nachlassfragmente „Lebendig bis in den Tod“

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Nachlass des 2005 verstorbenen französischen Philosophen Paul Ricœur (geboren 1913) fand sich ein kartonierter Umschlag mit 24 handschriftlichen Seiten, auf den Ricœur notiert hatte: „Bis zum Tod. Von der Trauer und der Fröhlichkeit. P. R.“ Diese Seiten, die vermutlich um 1995/96 verfasst wurden, sowie weitere von Ricœur selbst als „Fragmente“ gekennzeichnete handschriftliche Blätter aus dem Jahr 2004 hat Catherine Goldenstein nach dem Tod ihres Autors für eine Veröffentlichung zusammengestellt.

Sie liegen nun herausgegeben und übersetzt von Alexander Chucholowski, mit einem Vorwort von Olivier Abel und einem (sehr persönlichen) Nachwort von Catherine Goldenstein versehen im Meiner Verlag vor. In ihrem Nachwort zeichnet Goldenstein die Umstände, unter denen Ricœur diese Meditationen verfasste, nach, den Tod seiner Frau Simone 1998, seine Unruhe im Zusammenhang der Verwindung seiner Trauer über diesen Verlust, aber auch Ricœurs eigenes wachsendes Gefühl, in die, wie er sagt, eine, dem Leben so merkwürdig entgegengesetzte Zeit einzutreten: „die Zeit der Rente, des Rückzugs in seiner existenziellen Bedeutung, als Zeit des Verschwindens“. Ein wenige Wochen vor seinem Tod formulierter Brief an eine Freundin gibt in nuce die Spannung wieder, die auch die unter den Titel „Lebendig bis in den Tod“ gestellten Fragmente auszeichnen:

„In der Stunde des Niedergangs erhebt sich das
Wort Auferstehung. Jenseits der
Episoden der Wunder. Vom Grunde des Lebens
erwächst eine Kraft, die bezeugt, dass das Sein
Sein gegen den Tod ist.
Glauben Sie dies mit mir.“

„Auferstehung“ ist der Titel des zeilengetreu wiedergegebenen letzten Fragments, notiert Ostern 2005, also wenige Wochen vor Ricœurs Tod. Es berührt die verschiedenen Sinnebenen zwischen dem vom Ricœur „Ereignis“ Genannten und der Struktur des In-der-Welt-seins, die alle durch eine zentrale „Umkehrung“ charakterisiert zu sein scheinen: das Gehen vom Leben zum Tod und umgekehrt das Gehen vom Tode zum Leben. Es ist diese paradoxale Umkehrung, die Ricœur in die Mitte seiner Überlegungen rückt. Anstatt jedoch einen Sprung unmittelbar in dieses Paradox zu wagen, nähert er sich ihm indirekt, auf Umwegen, getreu der methodischen „Verzögerungstaktik“, die von Anfang an das spezifische Charakteristikum seiner Hermeneutik bildete. Danach haben wir nur einen vermittelten Zugang zu den Grunderfahrungen unserer Existenz, einen Zugang, der über die dekonstruierende Auslegung der Symbole, Bilder und imaginären Vorstellungen verläuft, in denen sich diese Erfahrungen objektivieren. Und welche Grunderfahrung ist näher und zugleich ferner als die des Todes?

Will man diese Notate, die in ihrer Flüchtigkeit, aber auch eindringlichen Insistenz in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem breiten, sorgfältig nachdenkenden, ja transparenten Schreiben Ricœurs stehen, unter eine Hauptperspektive bringen, so drängen sich zwei Aspekte in den Vordergrund: Die Radikalität, mit der sich Ricœur hier seinem Christentum, genauer: seiner „reflektierten Zugehörigkeit“ zur Gestalt Jesus Christus stellt („Bin ich noch Christ?“) sowie das, was man das Umkreisen einer „Grenze des Hermeneutischen“ nennen könnte. Auch wenn der Titel „Lebendig bis in den Tod“ das Bemühen umschreibt, den Tod als immanente Transzendenz dem Überleben im Anderen beziehungsweise der Zukunft der Überlebenden anzuvertrauen, so muss dieses Bemühen doch eine Grenze passieren, die sich als das „Schreckbild der vollendeten Zukunft“ kaum oder nur schwer in die Zeit des Lebens integrieren lässt. Denn seit den anonymen Massentoden des 20. Jahrhunderts haben wir mit es einem Tod zu tun, der den Sterbenden gewissermaßen vorgreifend in eine ununterscheidbare Masse an Toten und Todgeweihten einreiht. Der zwischen Toten und Halbtoten Sterbende, derjenige, der ausschließlich vom Bild des Todes her begriffen wird, weil der Beistand der Lebenden fehlt, stirbt allein. Er stirbt nicht im Angesicht des Anderen, sondern in der Gesichtslosigkeit der Vernichtung. Es ist dieser angesicht-gesichtslose „Blick von Außen“, gegen den Ricœur anschreibt, da er den Menschen der Erfahrung dessen beraubt, was er die innere „Gnade“ des Sterbens oder die überreligiöse Erfahrung des „Wesentlichen“ nennt.

Dieses Beraubtsein teilen wir heute – in einer ungeheuerlichen Anmaßung – mit den in den Todeslagern Umgekommenen. Denn, wie Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit der von Jorge Semprun formulierten Alternative „Schreiben oder Leben“ (Paris 1994) deutlich macht: Auch der Begriff des Überlebens erhält von hier einen anderen, abgründigen Sinn. Wer wie der Buchenwald-Überlebende Semprun durch den Tod als vollendete Zukunft hindurchgegangen ist, vermag nur um den Preis des Vergessens weiterzuleben, oder aber er wird, sich erinnernd, daran gehindert zu leben, weil sich ihm der überlebte Tod als die wahre Wirklichkeit zeigt und das Leben als „eine Illusion“. Wie diesem „Phantom“ des Todes, das alles infiziert, begegnen? Wie verhindern, dass die massa perdita der Toten realer als die Gemeinschaft der Lebenden ist?

Zum Schreckbild des Vernichtungstodes hat nach Ricœur eine Theologie beigetragen, die den Tod im Sinne von Strafe, Gericht und Opfer deutet, das heißt eine Form von Theologie, die die Problematik des Todes im Zusammenhang einer Rechtfertigung der Sünde begreift. Für Ricœur, der in der Opfertheorie „den übelsten Gebrauch überhaupt in der Intelligenz des Glaubens“ sieht, erscheint dieses paulinische Erbe nicht nur als etwas, das der Priorität des Todes im Leben Vorschub leistet (und damit seiner Phantomisierung). Es verdeckt auch eine gegenüber der Tilgung der Sünde viel radikalere Rettung: die „Rechtfertigung der Existenz“, das Leben. Wie Jesus einer nicht-paulinischen Lesart nach zu verstehen gibt, steht die Auferstehung nicht erst am Ende der Zeiten bevor; der Gläubige ist vielmehr von jetzt an „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh. 5, 24) : „Wer da sucht, seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren; und wer sie verlieren wird, der wird ihr zum Leben helfen.“ (Luk. 17, 33) So tritt dem paulinischen Christus der „Substitution“ ein Jesus des Abendmahls entgegen, der sein Leben umwillen der Anderen hingibt, nicht als Büßen-anstelle-von, sondern als „Gabe“, Hingabe an den Anderen.

Bereits in „Kritik und Glaube“ (Freiburg/ München 2009) hatte Ricœur eine horizontale Auferstehung, die im Gedächtnis der Anderen geschieht, von einer vertikalen Auferstehung in Gott unterschieden. In den „Fragmenten“ greift er dies auf, wenn er den ethischen Sinn des Dienstes Jesu als eine dienende Gabe deutet, die eine Gemeinschaft stiftet: „Das Abendmahl verbindet das Sterben (des Selbst) [und] den Dienst (des anderen) in der Teilhabe am Mahl, das den Menschen des Todes mit der in der Gemeinde versammelten Menge der Überlebenden verbindet.“

Die reziproke Gabe des Überlebenden, die den Sterbenden aus der vollendeten Zukunft des Todes befreien könnte, wäre die, ihm in seinem Sterben beizustehen, ohne diesem durch irgendwelche Bilder vorzugreifen. In diesem Beistand nähern wir uns der, wie es dem gegen jede Unmittelbarkeit sonst so misstrauischen Philosophen hier scheint, vermutlich einzigen wirklich „religiösen“ Erfahrung: dem im Sterben in seine tiefsten Gründe zusammenschießenden Verlangen zu leben. Die Trauer des Endlichen weist so durch die Phantome des Todes hindurch zuletzt in eine jähe „Rekapitulation der Existenz“ und eine dem Überleben im Anderen anvertraute „Konversion zum Diesseits“. Und doch stellen sich sogleich die Bilder, Phantome, Dilemmata und Fragen wieder ein, als hätten sie nur darauf gewartet, den, der sich hier mühsam, auf Neben-, Holz- und Umwegen zu der „vollkommenen Abgeschiedenheit“ der Mystiker vorgearbeitet hat, die dem eigenen Überlebenwollen entsagt und sich der Gnade Gottes anvertraut („Gott, mache aus mir, was Dir beliebt. Vielleicht nichts.“), erneut Besitz zu nehmen.

Auch der Leser dieser Fragmente arbeitet sich an ihnen ab. Die Übersetzung trägt zum Nachvollzug des oft zum Dickicht zusammenschießenden Textgewebes nicht immer bei, an manchen Stellen ist sie sogar eher verwirrend. So ist man auf den ersten Blick geneigt, Olivier Abel zuzustimmen, wenn er in seinem Vorwort schreibt, die Bedeutung der Fragmente in ihrem so offensichtlich vorläufigen Charakter sollte „nicht überschätzt werden“. Auf den zweiten Blick jedoch erweist sich gerade die fehlende Distanz des Autors, die als ein Zeugnis des zerklüfteten Übergangs zwischen der sterblichen Zeit des Lebens und der unsterblichen des Werkes, über deren Diskontinuität Ricœur so viel nachgedacht hat, verstanden werden kann, als besonders kostbar.

Titelbild

Paul Ricoeur: Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass. Französisch-Deutsch.
Übersetzt aus dem Französischen und herausgegeben von Alexander Chucholowski.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011.
136 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783787319848

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