Keine allein seligmachende Interpretation

Wie Dichter sich des Philosophen Nietzsche bemächtigten

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dichter haben Nietzsche anders wahrgenommen als Philosophen. Während sich Philosophen um die richtige Deutung seiner Werke bemühten, stellten ihn Dichter in den großen poetischen Welt-Diskurs und erkannten als erste, dass mit Nietzsche ein neues Zeitalter der Welt-Deutung begann. Wer nun wissen will, wie und welche Schriftsteller den Philosophen für sich entdeckt und rezipiert haben, erhält durch den Band von Bruno Hillebrand einen knappen, doch recht erhellenden Einblick in Nietzsches Wirkungsgeschichte innerhalb der Literatur des 20. Jahrhunderts. An exemplarischen Einzelfällen verdeutlicht der Ordinarius für Literaturwissenschaft an der Universität Mainz, wie sich die Literaten des Philosophen bemächtigt haben, und versucht nebenbei zu ergründen, warum Nietzsche als Philosoph Künstler und Schriftsteller seiner Zeit und der nachfolgenden Epochen so nachhaltig beeindruckt hat.

Vielleicht weil sie, vermutet Hillebrand, ohnehin dem ewig Innovativen huldigen und von Nietzsche neue Orientierung erhofften, nachdem die christliche Religion ihre Wirkungs- und Überzeugungskraft eingebüßt und zuviel Irrationales in Dogmen festgeschrieben hatte. Gottfried Benn dichtete damals: "Der Schöpfungskrone gehn die Zinken aus". Bekanntlich habe "das Sacrificium intellectus", merkt Hillebrand an, "die Emanzipation des abendländischen Bewusstseins um Jahr hunderte verzögert." Zudem seien große literarische Werke immer nur ein Angebot, kein Diktat und alles andere als ein Dogma, was wiederum Nietzsches Auffassung entsprochen habe, dass eine "allein seligmachende Interpretation" nicht zu haben sei, da eine sinnlose Welt ständig nach neuen Deutungen verlangt. Nietzsche, der unser Weltbild so gründlich verändert hat wie Kopernikus und Einstein zu ihrer Zeit, fand wohl auch deshalb begeisterte Aufnahme bei Künstlern und Dichtern, weil er das Leben rückhaltlos bejahte und der Kunst hierbei einen hohen Stellenwert einräumte. Wie kaum ein anderer Denker hat Nietzsche mit seiner aphoristischen Schärfe und der ungeheuren Sprengkraft seines Werkes die Moderne beeinflusst und den literarischen Modernismus initiiert, den Futurismus, Expressionismus (gerade für Expressionisten war der Zarathustra eine wahre Fundgrube) sowie den Dadaismus.

Nicht alle freilich waren der neuen Wahrheit gewachsen, die besagt, dass es keinen absoluten Standpunkt gibt, sondern nur ein unendliches Angebot an persönlichen und perspektivischen Ansätzen von Weltdeutung. Aber lediglich den Begabten, betont Hillebrand, sei der Sprung in die eigene Stillage gelungen. Die anderen seien Epigonen geblieben und hätten von Nietzsche in erster Linie Schlagworte übernommen, den "Übermenschen" zum Beispiel, "den Willen zur Macht", die "blonde Bestie".

Hillebrand begreift Nietzsches Rezeptionsgeschichte als ein Stück Kulturgeschichte, die gesellschaftlich mit allen Verwerfungen und Banalitäten des Kaiserreichs als Initialzündung beginnt, wobei nicht nur der Vitalismus des Philosophen faszinierte, sondern auch seine mitreißende Sprache. "Es war ein Überwältigtwerden durch Sprache, ein Berauschtsein ohne rechtes Begreifen."

Allerdings war die frühe literarische Nietzsche-Rezeption oft recht oberflächlich. Man las ihn nicht sehr aufmerksam und verstand seinen Deutungsansatz oft nicht richtig. Dafür war man schnell begeistert, zitierte ihn nach Belieben und nahm ihn viel zu wörtlich. Vielfach wurde Nietzsches Philosophie verfälscht und verdreht, etwa ins Antisemitische wie in Hermann Conradis Roman "Adam Mensch"(1889), während der bald einsetzende triviale Übermenschenkult nicht selten einem infantilen Verhalten zur Rechtfertigung diente. In seichten Romanen, Gedichten und Moralauffassungen versickerte Nietzsches Denken, so bei Michael Georg Conrad, Adolf Wilbrandt, Paul Heyse, und einer Reihe anderer Schriftsteller, deren Namen man heute kaum noch kennt. Nietzsche wurde trivialisiert und banalisiert, auch durch romanhafte Schwärmereien, wie die der Gräfin zu Reventlow. Richard Dehmel schrieb in jungen Jahren einen sentimentalen "Nachruf an Nietzsche". Hochmütig reagierte 1907 Johannes Schlaf mit seinem umfangreichen Buch "Der Fall Nietzsche. Eine Überwindung" auf den Philosophen. Julius Hart wiederum unterstellte Nietzsche, er habe polnisches Blut in seinen Adern und sei mithin von einer "minderwertigen Rasse". Zum Kreis der frühen Nietzsche-Verehrer gehörten hingegen Christian Morgenstern, Graf Keßler und Rudolf Pannwitz.

Schon 1894 fand Nietzsche Aufnahme im Brockhaus: als "Stilist ersten Ranges, als Dichter eines neuen Dithyrambusstils". Andererseits sah sich Max Dauthendey, als er in einer deutschen Universitätsbuchhandlung den Namen Nietzsche erwähnte, einem ungläubigen Publikum gegenüber, das die Existenz eines Philosophen dieses Namens glattweg bestritt.

Die Dichter, die um die Jahrhundertwende zu wirken begannen, und jene, die ihnen unmittelbar nachfolgten, zählten zu den Generationen, die von Nietzsche am stärksten geprägt wurden: Reinhard Johannes Sorge, Georg Heym, Gottfried Benn, Ernst Stadler, Stefan Zweig, Robert Musil, Carl Sternheim, Georg Kaiser, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Thomas und Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Für sie war Nietzsche der Leidende und Triumphierende oder, wie Benn es später aus drückte: "Das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie." Nach fünfzig Jahren resümierte Benn, dessen spätere Prosa übrigens ohne Nietzsche nicht denkbar ist: "Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen, breittrat - alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitiv Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese... Er war, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche." Thomas Mann wiederum konstatierte 1947 am Ende seiner lebenslangen Nietzsche-Auseinandersetzung: "Wahrlich, nach einer Gestalt, faszinierender als die des Einsiedlers von Sils Maria, sieht man sich in aller Weltliteratur und Geistesgeschichte vergebens um."

Nach dem Zweiten Weltkrieg, führt Hillebrand weiter aus, war bei den jüngeren Literaten Nietzsche eigentlich kein Thema mehr. Was ab 1955 im deutschen Sprachraum über ihn literarisch geäußert wurde, schlug sich in Marginalien, Zitaten, Randnotizen nieder, die kaum der Rede wert sind. Hillebrand erwähnt in diesem Zusammenhang Alfred Andersch, Thomas Bernhard, Arno Schmidt, Paul Celan, Friedrich Dürrenmatt - dieser las Nietzsche in einem Café, während er die Schule schwänzte -, Max Frisch, Heiner Müller, Ernst Meister, Ingeborg Bachmann und Peter Handke. Seit einigen Jahren indessen ist das philosophische Interesse an Nietzsche erneut erwacht. Gegenwärtig beschäftigen sich bei uns vornehmlich jüngere Literaten mit Nietzsche, so Durs Grünbein und Matthias Politycki. Auch im Ausland wird der Philosoph von Romanciers immer noch zur intellektuellen Ausschmückung der eigenen Werke benutzt, zum Beispiel von William Gaddis, Milan Kundera und Harry Mulisch.

In Frankreich haben sich André Gide, André Malraux, Albert Camus und in Italien D'Annunzio mit Nietzsche befasst. In England benutzte George Bernard Shaw den Philosophen als Hintergrund für eine Liebeskomödie mit ironischer Zuspitzung des Übermenschen. Auch das Frühwerk von James Joyce, sagen Kenner, zeige deutlichen Einfluss von Nietzsche, obgleich Nietzsches Name darin nicht vorkommt. In Amerika, wo der Overman oder Superman vor allem in den Medien in Mode kam, wurde der Philosoph von Jack London, Theodore Dreiser und Eugene O'Neill literarisch verwertet.

Titelbild

Bruno Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000.
160 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3525340206

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch