Auf der Suche nach den verlorenen Identitäten

Zum E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2010

Von Nora HoffmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Hoffmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch, das die 1938 bis 1991 erschienenen „Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft“ seit 1992 fortsetzt, ist schon lange eine feste Instanz der Hoffmann-Forschung. Jährlich liefert es aktuelle Beiträge auf höchstem Niveau zu Hoffmanns literarischem, musikalischem und zeichnerischem Werk sowie zu zeitgenössischen Hintergründen und weitet mit vergleichenden Studien den Blick auf neue Kontexte.

Die aktuelle Ausgabe, erstmals gemeinsam von Hartmut Steinecke und Claudia Liebrand herausgegeben, bleibt diesen Grundsätzen treu und konzentriert sich im Aufsatzteil auf die für Hoffmann zentralen Themenbereiche der Identitätsproblematik und des Traums, wobei der Fokus diesmal auf Einzelanalysen verschiedener Erzählungen liegt. Es folgen wie üblich umfassende Besprechungen der bedeutendsten Neuerscheinungen – unter anderem zum von Detlef Kremer herausgegebenen neuesten Übersichtswerk „E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung“ – mit einer Liste der Publikationen zum Autor von 2009 und 2010. Der dritte Teil informiert abschließend über Aktivitäten der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft.

Eröffnet wird der Band von Christian Baiers spannendem Aufsatz zu „Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“, der Fragen des Ich-Verlusts und Doppelgängertums (Peter Schlemihl und Erasmus Spikher als Doppelgänger des reisenden Enthusiasten; Julia und Giulietta als Doppelgängerinnen) überzeugend löst. Da Baier den Enthusiasten als tatsächlich mit Erasmus Spikher identisch begreift und beide als zwei Teile einer gespaltenen Persönlichkeit auffasst, beginnt er folgerichtig seine Argumentation chronologisch mit der „Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“. Bei der Flucht Spikhers aus Italien lasse dieser mit dem Spiegelbild einen Teil seiner Persönlichkeit dort zurück, der von der Forschung bisher als Künstler-Ich gedeutet wurde, dessen Abspaltung zum Erhalt eines im Alltag funktionsfähigen Bürger-Ichs notwendig sei. Baier nimmt hier eine Neuinterpretation vor und legt dar, dass der Sachverhalt sich umgekehrt verhält: Spikher unterdrücke in der psychologischen Lesart den bürgerlichen Teil seiner Persönlichkeit (beziehungsweise lasse ihn in der fantastischen Lesart als Spiegelbild zurück) und verlasse Italien als Künstler, der von der Gesellschaft ausgeschlossen wird – mithin als der reisende Enthusiast, der damit als fragmentarische Persönlichkeit gelesen werden muss. Mit diesem Ansatz lässt sich klären, was beim Wiedersehen des Enthusiasten mit Julia geschieht: Sein bewusster Persönlichkeitsteil erblickt in ihr die ideale Geliebte, der unterdrückte Persönlichkeitsanteil jedoch, Spikher, erkennt die gefährliche Giulietta wieder und bricht das erste Mal durch die Begegnung mit ihr teilweise aus der Verdrängung hervor, wodurch sich die Wahrnehmung des Enthusiasten verdoppelt. Anschließend erfolgt eine Annäherung des Enthusiasten an seinen bürgerlichen Anteil, die zur Materialisierung Spikhers als eigene Figur führt. Dass diese jedoch kein Spiegelbild hat, wird damit begründet, dass Spikher als Teil einer gespaltenen Persönlichkeit nur in der Wahrnehmung des Enthusiasten existiert.

Marc Klesses Beitrag befasst sich unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Psychologie des 18. Jahrhunderts sowie der romantischen Traumtheorie Gotthilf Heinrich Schuberts mit der Durchdringung von Traum und Realität in „Die Bergwerke zu Falun“. Till Dembeck und Martin Roussel analysieren „Prinzessin Brambilla“, ersterer sehr differenziert unter der Frage nach Identität als erkennbarem und authentisch vermittelbarem Persönlichkeitskern oder aber als von äußeren Umständen abhängige Maske. Zweiterer behandelt den Text mit einem von Immanuel Kant, Jean-Luc Nancys „Am Grund der Bilder“ und Jacques Derridas „Dissemination“ angeregten, in der Komplexität teils etwas diffus wirkenden Ansatz auf die Frage nach dem Zusammenhang von Einbildungskraft und Zerstreuung.

Andreas Olbrich eröffnet der E.T.A Hoffmann-Forschung einen systematischen Zugang zu zeitgenössischen Rezensionen von 1814-1822 zu Texten Hoffmanns, auf deren angekündigten Abdruck in den folgenden Jahrbüchern man gespannt sein darf. Weiter findet sich im Band ein ins Deutsche übersetzter und teils korrigierter Aufsatz der Schriftstellerin Marja Wicherkiewiczowa (1875-1962) von 1935 zur Biografie Hoffmanns während seiner Posener Zeit, insbesondere zu den berüchtigten Ereignissen um die Karikaturen auf dem Maskenball sowie zur Person Michalina Trzcinskas. Wie auch der dem etwas klischeebelasteten Aufsatz vorangestellte, umfassende Kommentar erläutert, muss Wicherkiewiczowas Text mit einiger Vorsicht im Kontext seiner Zeit betrachtet werden, und auch wenn er das Bild der Hoffmann-Forschung nicht nachträglich ändern wird, so handelt es sich doch um ein interessantes Zeitdokument.

Ausführlicher erwähnenswert scheint schließlich der letzte Beitrag des Bandes, der weiter als sonst für das E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch üblich den direkten Bezug zu Hoffmann verlässt: Myriam Burkhard liefert darin eine vielschichtige und fundierte postkoloniale Lektüre zu Fremdheitserfahrungen in Joseph von Eichendorffs „Eine Meerfahrt“, wobei die thematische Einbindung in das Jahrbuch durch das Thema des Identitätsverlustes gegeben ist. Nachdem Burkhard zunächst darlegt, wie die Erzählung sich im Sinne Edward Saids als klares Oppositionspaar überlegenes Eigenes versus unterlegenes Fremdes kolonial lesen lässt, modifiziert sie diesen sich bei einer oberflächlichen Lektüre einstellenden Eindruck schrittweise durch klare Belege für vielfältige Brüche dieser traditionellen Oppositionen und Annäherungen zwischen Fremdem und Eigenem. Durch dieses Ähnlichwerden jedoch sehen sich die Figuren in der Selbstentgrenzung der Gefahr des Identitätsverlusts ausgesetzt, die sich auch in der Dopplung von Handlung und Figuren in Rahmen- und Binnengeschichte spiegelt. Als Auslöser dieses Prozesses der Angleichung zwischen Vertrautem und Fremdem und damit der Dehierarchisierung und Dekolonisierung identifiziert Burkhard die Liebe zwischen Alma und Antonio, die vom Venusberg als Ort ohne Ordnungskategorien ausgehe.

Insgesamt bietet der Band eine spannende und vielseitige Zusammenstellung aus Aufsätzen zu einem einheitlichen Themenschwerpunkt und darüber hinausgehenden Einzelbeiträgen zu weiteren Aspekten der Biografie und Rezeption Hoffmanns, die nicht nur Hoffmannliebhabern und -forschern eine anregende Lektüre verspricht.

Titelbild

Hartmut Steinecke / Claudia Liebrand (Hg.): E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2010.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2010.
160 Seiten, 38,60 EUR.
ISBN-13: 9783503122394

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