„Eine Art Bürgerkrieg“

Ein unvermutet aktuelles Hörbuch zur Geschichte des gescheiterten Versuchs, im fränkischen Wackersdorf eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage zu bauen

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Rezension sollte eigentlich ungefähr so anfangen: „Das kleine gelbe ,Wapperl‘ mit dem Sonnengesicht führte plötzlich wie eine optische Proustsche ,Madeleine‘ aus der U-Bahn in die ferne Vergangenheit der Bundesrepublik. Plötzlich war alles wieder da: die Menschenmassen mit diesen und vielen anderen Buttons (so hieß das damals), Palästinenserschal, erregte Diskussionen und Geschrei, Polizei in zunehmender Uniformierung zu Dino-ähnlichen Mutanten, um besondere Coolness bemühte Politiker und Technokraten, die die Welt im Griff haben wollen, die Wut über scheinbar unüberwindliche Bauzäune, der schwarze Block, etc. Überraschend, dass es ältere Menschen sind, die in Erinnerung an diese jahrelangen Auseinandersetzungen heute wieder die Atomkraftwerke in Frage stellen, weil die Regierung die Verlängerung der Laufzeiten beschlossen hat.“

So oder so ähnlich wäre die aktuelle Beziehung hergestellt gewesen, um dieses überraschende Hörbuch von Angela Kreuz und Dieter Lohr vorzustellen. Allgemeine kulturelle Beobachtungen und Überlegungen über die frühere Anti-AKW-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre und ihren historischen Kontext hätten die Rezension ebenso ergänzt.

Der 11. März 2011 hat diese Absicht in eine völlig neue Perspektive gestellt: In der der Atomtechnik inhärenten äußerst langfristigen Perspektive ist nach der Fast-Katastrophe von Three Mile Island (Harrisburg/USA) und der Katastrophe von Tschernobyl (sowie zahlreichen weiteren Ereignissen unterhalb der globalen Wahrnehmbarkeitsschwelle) mit den Vorgängen in den japanischen AKW-Meilern in Fukushima ein weiterer Schritt in der Erkenntnis der Gefahren und Unbeherrschbarkeit dieser Technologie nicht theoretisch, sondern real gemacht worden. Während in Tschernobyl ca. 30.000 Tote als unmittelbare (!) Folge des Unfalls vor 25 Jahren angenommen werden müssen, ist die Bilanz der Kernschmelze in Japan bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes (20. März 2011) noch nicht abzusehen.

Das für den Deutschen Hörbuch-Preis 2010 nominierte Hörbuch aus dem rührigen Regensburger Verlag LohrBär gewinnt plötzlich eine ungeahnte Aktualität: Die Autoren dieses spannenden Hörbuchs haben die langfristige Relevanz des Themas erkannt und bieten – ohne dass sie dies beabsichtigen konnten – einen eingehenden Kommentar zur aktuellen Lage. Nicht als fast schon nostalgischer Blick zurück auf Vorgänge in der ,alten‘ Bundesrepublik, sondern die in meist gemächlich süddeutsch-gutturalen Dialekten vorgetragenen Erinnerungen unterschiedlichster Teilnehmer erweisen sich nun als Einblicke in die über zahlreiche Generationen hinweg auch in die Zukunft hinein reichende Gegenwart dieser Technik und die ihr adäquaten staatlichen Strukturen, die je nach (Wind-)Lage ihr hässliches obrigkeitsstaatliches Gesicht erkennen lassen.

„Fahrradspeichenfabrik“ – das war der Vergleichsmaßstab des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß, um das Gefährdungspotenzial der im oberpfälzischen Wackersdorf bei Schwandorf geplanten riesigen Wiederaufbereitungsanlage für nuklearen Abfall zu klassifizieren. Diese derbe Missachtung der Ängste und auch des Expertenwissens der Bevölkerung war ein wichtiges Moment in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Staatsgewalt als Vollzieher der Wünsche der Atomindustrie und den lokalen wie auch überregionalen Betroffenen, die sich mit zahlreichen Aktionen zur Wehr setzten. In den Interview-Ausschnitten des Hörbuchs fallen Ausdrücke wie „Widerstand“, „Bürgerinitiative“, „Halbwertszeit“, „Anhörungsverfahren“, „Erörterungstermin“, „Hüttendorf“, „Chaoteneck“, „Reizgas“, „an’n Zaun gehen“, „Schneller Brüter“, „Atommafia“, die wohl aus ihrem diskurspraktischen Dornröschenschlaf in der Zukunft wieder aufgeweckt werden dürften.

Von der frühen Planung über das Abholzen des Waldareals und der Einrichtung des Bauzauns bis zum Bau erster Gebäude lassen die zahlreichen Befragten die wichtigsten Etappen des rechtsstaatlich bedenklichen Vorhabens anschaulich zu Gehör kommen. Neben Journalisten, Aktivisten, Hausfrauen, Richtern, emeritierten Professoren und anderen sind es der Landrat Schuierer, die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier (CSU), aber auch die Linksökologin Jutta Dithfurth, der Musiker Wolfgang Rolf Niedecken von BAP oder Anne Haigis, die an ihre jeweils eigenen Erfahrungen mit dem Projekt der WAA und dem oberfränkischen Widerstand erinnern.

Damit wird zugleich eindringlich eine Anatomie jenes Geflechts von obrigkeits- und atomwirtschaftlichen Interessen aufgedeckt, die sich (fast) immer zu Ungunsten der Bevölkerung manifestieren. „Wackersdorf“ wurde zum Inbegriff eines größenwahnsinnigen Vorhabens im Rahmen der untauglichen Versuche, das Problem des atomaren Abfalls durch „Wiederaufarbeitung“ einer scheinbaren Lösung zuzuführen. Gegen den überraschend massiven Widerstand über mehrere Jahre hinweg (mit zwei Toten) verlor sich nach dem Ableben von Franz Josef Strauß die Durchsetzungskraft der bayerischen Staatsregierung und der Atomindustrie recht bald, so dass kurz vor der Wiedervereinigung der Baustopp verhängt und die Umnutzung der Fläche als Industriepark realisiert wurde. Entscheidenden Anteil an der Herausbildung des Bewusstseins der Gefahren hatte 1986 der Super-GAU von Tschernobyl, der den Widerstand gegen die Phrasen der Politiker und der Industrie von der mantrahaft vorgetragenen „Sicherheit der Atomanlagen“ sowie gegen die polizeilichen Maßnahmen so eskalieren ließ, dass die Betreiberseite selbst höchst überrascht war. Heute ist der Wald zerstört, aber Wackersdorf eine reiche Gemeinde mit über 2.000 Beschäftigten auf dem Gelände der früher geplanten WAA.

Im Nachhinein wundert sich einer der Befragten, dass es keine „Aufarbeitung der Wiederaufarbeitung“ gab. Es fand keine nachträgliche Diskussion über das Geschehene und seine Bedeutung für die Betroffenen auf beiden Seiten und für die Gesellschaft Westdeutschlands insgesamt statt (wobei Atomanlagen ja per se über die in ihrer Nähe liegenden Grenzen hinaus zu diskutieren sind). Die Einsicht in die Dringlichkeit einer solchen Reflexion über die Atomkraft und ihre gesellschaftlichen Folgen ist durch das von der Merkel-Regierung gekündigte Ausstiegsvorhaben und die Ereignisse in Fukushima nun wieder jäh aufgebrochen. Der „déja-vus“ ist seit dem 11. März kein Ende mehr.

Titelbild

Angela Kreuz / Dieter Lohr: Der Fahrradspeichenfabrikkomplex.
LOhrBär-Verlag, Regensburg 2009.
2 CDs, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783939529088

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