Ein Alptraum in der Wildnis

David Vanns beeindruckender Roman „Im Schatten des Vaters“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

E. O. Plauen hat mit seinen „Vater und Sohn“-Bildergeschichten diese sehr spezielle und schwierige Beziehung putzig und manchmal auch treffend beschrieben, doch für moderne Verhältnisse taugen diese rudimentären Schablonen nicht. Ganz anders und in der Gegenwart unmissverständlich verankert ist dagegen der kurze, höchst intensive und nachhaltig verstörende Roman „Im Schatten des Vaters“ des 1966 in Alaska geborenen Autors David Vann. Alaska ist auch der Schauplatz der 185 Seiten, die so etwas wie eine Mega-Novelle sind, handelt es sich doch um einen Text, der nicht nur über eine unerhörte Begebenheit verfügt, sondern über deren viele, ohne dabei auch nur in die Nähe der Effekthascherei zu kommen.

Jim hat seine Zahnarztpraxis aufgegeben, sich eine Hütte in einem der vielen entlegenen Winkel Alaskas gekauft und mit seiner ersten Frau vereinbart, dass ihr gemeinsamer Sohn Roy für ein Jahr mit ihm in der Wildnis leben wird. Die romantische Vorstellung eines einfachen Lebens ohne Zivilisationsschrott ist verlockend für ihn, jedoch muss er gleich zu Anfang des Abenteuers erkennen, dass er nicht richtig ausgerüstet und nur mangelhaft vorbereitet ist. Denn das neue Leben erfordert grundlegende Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Anlegen von Holzvorräten, die nicht nur geschlagen, sondern vor allem dauerhaft trocken gelagert werden müssen. Bereits hierfür fehlen Werkzeug und Kenntnisse. Doch so schnell gibt Jim nicht auf, zumal sie auch nicht einfach gehen können, wann sie wollen. Vielmehr ist mit einem Piloten vereinbart, dass dieser ab und an nach ihnen schaut. Weiterer Kontakt mit der Außenwelt ist nur über ein schwierig zu bedienendes Funkgerät möglich. Außerdem haben sie noch ein Motorboot – das war’s. Und so beginnen er und sein 13-jähriger Sohn, der die gewohnten Rückzugsmöglichkeiten, seine Familie und Freunde und das mehrmals tägliche Masturbieren anfangs heftig vermisst, arbeitsteilig den neuen Herausforderungen zu begegnen. Vann beschreibt, wie sie einen Verschlag für das Holz bauen, wie sie angeln und die Fische ausnehmen, Bäume fällen und Essen zubereiten. Doch kaum fühlen sich Protagonisten und auch Leser einigermaßen wohl, zeigt sich zum ersten Mal die Unerbittlichkeit der Natur in Form eines Bären, der ihnen nahezu alle Vorräte wegfrisst, ihre Möbel, Kleidung und Schlafsäcke zerfetzt. Jim, den Ohnmacht und Wut gleichermaßen packen, schnappt sich sein Gewehr, lässt seinen verwirrten Sohn im Chaos zurück und kommt erst einen Tag später wieder. Den Bären, so sagt er, habe er erledigt. Roy, der ein mehr oder weniger normaler Junge ist, ein Scheidungskind, das gern unter Gleichaltrigen ist und immer häufiger an Mädchen denkt, kommt mit seinem ihm sehr fremden Vater nicht zurecht. Der liegt nachts lange wach – die kleine Hütte hat nur einen engen Schlafraum für beide –, wimmert und weint, gibt sich seiner Seelenpein, seinen Ängsten und Traumata hin, ohne die Wirkung auf seinen Sohn zu bedenken. Dann und wann spricht er mit ihm über diese Angstzustände, über seine emotionale und sexuelle Abhängigkeit von seiner zweiten Frau, die ihn verlassen hat und mit einem anderen Mann zusammen lebt. Roy versteht all das nicht, er kann und will dem Vater kein adäquater Gesprächspartner sein. Am Morgen ist dann alles immer wieder verschwunden, die Dämonen der Nacht muten wie Hirngespinste an, so munter bereitet Jim für Roy und sich ein kräftigendes Frühstück vor, damit sie sich dann daran machen können, eine Grube für die Einlagerung der Wintervorräte anzulegen oder weiteres Holz zu machen. Der hochgelobte Autor, der heute in Kalifornien lebt und Professor an der University of San Francisco ist, hat mit „Im Schatten des Vaters“ keinen Roman geschrieben, der dem momentan hierzulande sehr populären „Landlust“-Trend entspricht. Es geht ihm nicht um das Thema des Aussteigens, auch wenn Jim das mit diesem Jahr im Sinn hatte. Nein, Vann zeigt mit diesem schonungslosen Text, dass Väter und Söhne sich nur verstehen und somit auch respektieren und annehmen können, wenn sie kontinuierlich Kontakt zueinander haben, wenn sie bereit sind, sich auszutauschen und zu öffnen. Jim, beinahe widerlich in seiner Selbstbezogenheit, weiß davon nichts, begreift es auch nicht und will seine Schuld nun mit diesem großen Abenteuer begleichen. Ein fataler Irrglaube, denn auch er kennt seinen Sohn nicht, was zu einer grausamen Tat führt, die den Fortgang des Buchs förmlich auf den Kopf stellt. An dieser Stelle gibt der Rezensent zu, in einem Konflikt zu sein, da die Auflösung einerseits zwingend notwendig ist für weitere Ausführungen, andererseits viel von der Spannung und der Überraschung vorwegnimmt. Nur soviel: Roy stirbt. Nun ist Jim völlig aus dem Häuschen, weiß nicht, was er tun soll, ohnmächtig zerstört er alles, was ihm in die Hände kommt, so auch das Funkgerät. Mit der in einen Schlafsack eingewickelten Leiche macht er sich per Boot auf, um irgendjemanden zu finden. Er bricht eine Blockhütte auf, findet ein paar wenige Vorräte, spricht in völliger Verwirrung mit sich und seinem toten Sohn, macht sich Vorwürfe, überlegt, wie er das alles Roys Mutter beibringen soll. Viele Wochen später taucht dann die Polizei auf, nimmt ihn und die halb verweste Leiche mit. Natürlich ist seine Geschichte unglaubwürdig, natürlich hat niemand Verständnis für ihn. Jim, ein Antiheld der jüngsten amerikanischen Literaturgeschichte, ein gebrochener Mann und Verlierer, bricht dann zu seinem letzten Abenteuer auf.

„Im Schatten des Vaters“ ist ein sehr mutiger Text, mit dem der Leser seine inhaltliche Mühe hat. Sprachlich besticht der von Miriam Mandelkow sehr gekonnt übersetzte Roman durch seine Prägnanz und Reduktion auf das Wesentliche, ohne dabei hermetisch oder kryptisch zu werden. Vann legt viel Wert auf exakte Beschreibung von Tätigkeiten und Abläufen, ist gleichermaßen stark in der Beschreibung von Seelenzuständen und Gedanken seiner Figuren. Nach Roys Tod und dem Schock darüber fällt der Text scheinbar ab, da Jim nun alleine ist und keine Gegenfigur mehr hat. Doch der Autor fängt dies bravourös auf, indem er Jims völlige Überforderung und seinen blinden Aktionismus zum Zentrum dieses Abschnitts macht. Lediglich der Schluss, das Wiedereintauchen in die Zivilisation, der gewohnte Kontakt mit Menschen, Infrastruktur und sogenannter Normalität, wirkt schwächer, wobei dies dem harten Kontrast von Wildnis und Zivilisation geschuldet ist. Hier liegt ein Stück Literatur vor, dessen Thema den Leser sofort packt und ihn zu vielerlei Gedanken und Reflexionen führt.

Titelbild

David Vann: Im Schatten des Vaters. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
184 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422298

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