H.G. Wells rettet die Welt

Félix J. Palmas Roman „Die Landkarte der Zeit“ schickt die Leser auf eine Zeitreise

Von Daniel AmmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Ammann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollten Zeitreisen dereinst möglich sein, wird man sie verbieten müssen. Touristen und Weltverbesserer würden massenhaft in die Vergangenheit strömen und die Geschichte auf den Kopf stellen. Jede kleinste Änderung im Zeitgefüge hätte ungeahnte Folgen für die Zukunft und könnte zahllose Parallelwelten ins Leben rufen. Damit es gar nicht soweit kommt, dafür hat H.G. Wells, der Erfinder der Zeitmaschine, gleich selbst gesorgt. Obwohl der Vater der Science-Fiction in Félix J. Palmas Roman erst auf Seite 180 als Figur in Erscheinung tritt, ist er der unbestrittene Held der Geschichte.

Als der wohlhabende Andrew Harrington ein Porträt der geheimnisvollen Marie Jeanette Kelly erblickt, ist es um ihn geschehen. Daran ändert auch nichts, dass es sich bei der jungen Dame in Wahrheit um eine Prostituierte aus dem Londoner Elendsviertel Whitechapel handelt. Die beiden werden ein Paar. Doch das Glück währt nicht lange, denn in diesem Herbst des Schreckens 1888 treibt der Serienmörder Jack the Ripper sein Unwesen. Die 25-jährige Marie Kelly wird sein fünftes Opfer. Acht Jahre nach dem grässlichen Tod seiner Geliebten kehrt Andrew mit einer Pistole an den Ort des Verbrechens zurück, um sich das Leben zu nehmen. Sein Cousin Charles vermag die Tat in letzter Minute zu verhindern – und hat auch gleich einen Plan, wie er den lebensmüden Andrew von seinem unseligen Vorhaben abbringen kann. Dieser müsse nur in die Vergangenheit reisen und Jack the Ripper vor der Tat zur Strecke bringen. Seit Kurzem biete die Firma „Zeitreisen Murray“ Ausflüge in die vierte Dimension an. Dem ausgefeimten Unternehmer Gilliam Murray scheint es gelungen zu sein, ein magisches Zeitloch von Afrika nach London zu schaffen. Leider macht die Attraktion für Zeittouristen erst Expeditionen ins Jahr 2000 möglich, wo eine Schar Aufständischer unter Hauptmann Shackleton den übermächtigen Maschinenmenschen eine spektakuläre Entscheidungsschlacht liefert. Um in die Vergangenheit zu reisen, so Murray, brauche man hingegen eine Zeitmaschine, wie sie Mr. Wells in seinem allseits diskutierten Roman schildere. Murray hegt den Verdacht, dass der Schriftsteller bereits eine solche Apparatur besitze. So nimmt ein Abenteuer seinen Anfang, dass die Leserinnen und Leser nach allen Regeln der Erzählkunst in Bann hält und stets aufs Neue überrascht. Kaum glaubt man, die Handlung zu durchschauen, schlägt Palma auch schon eine narrative Volte und führt seine Leser abermals hinters Licht.

Mit seinem monumentalen Roman würdigt der spanische Autor nicht nur den visionären Herbert George Wells (1866-1946) und dessen scientific romances, wie die Wissenschaftsromane damals genannt wurden. „Die Landkarte der Zeit“ ist auch eine literarische Reise ins ausgehende 19. Jahrhundert, voller zeitgeschichtlicher Bezüge und ganz im Geist seiner großen Erzähler wie Charles Dickens, Robert Louis Stevenson oder Henry Rider Haggard. Mit beliebten Motiven des viktorianischen Abenteuer- und Schauerromans versteht Palma ebenso geschickt zu hantieren wie mit Anspielungen auf moderne Hollywood-Filme à la „Terminator“ oder „Zurück in die Zukunft“. Bereits der Science-Fiction-Thriller „Flucht in die Zukunft” des Regisseurs Nicholas Meyer (1979) hatte H.G. Wells als Helden seiner eigenen Geschichte präsentiert und ließ ihn mit der Zeitmaschine hinter Jack the Ripper herjagen.

Palma breitet ein Panoptikum aus, verwebt Historisches mit Erfundenem und führt durch Londons Straßen wie durch die Kulissen eines Themenparks. Schein und Wirklichkeit geraten durcheinander und bald geht es dem Leser wie der emanzipierten Claire Haggerty, die sich im zweiten Teil des Romans in den tapferen Hauptmann Shackleton aus der Zukunft verliebt und ihm dann im Jahr 1896 über den Weg läuft. Erneut ist es der Schriftsteller H.G. Wells, der mit der Kraft seiner Fantasie das Leben eines jungen Mannes retten soll, bevor er selbst im dritten Teil der Geschichte in Todesgefahr gerät und das Schicksal der Welt in Händen hält.

Trotz epischer Breite bleibt „Die Landkarte der Zeit“ im Ton leicht und verspielt. In regelmäßigen Abständen wendet sich ein allwissender Erzähler direkt an die Leser, um etwas einzuschieben oder den Verlauf der Geschichte mit einem Augenzwinkern zu kommentieren: „Gestatten Sie mir jetzt, einen kleinen erzählerischen Kunstgriff anzuwenden“, heißt es etwa, oder: „Erlauben Sie mir, die Erzählung jetzt zu unterbrechen und Sie darauf hinzuweisen, dass das, was nun geschah, sehr schwierig zu berichten ist“. Solche auktorialen Einmischungen setzen, genau wie die plakativen Werbeankündigungen vor jedem Romanteil, ironische Pointen und kontrastieren die realistische Erzählweise.

Ob Zeitreisen tatsächlich mehr als spekulative Gedankenspiele oder nur Stoff für Fantasy-Geschichten sind, darüber sind sich selbst die Physiker noch nicht ganz einig. Auf jeden Fall scheint H.G. Wells mit seinen modernen Ideen nach wie vor die Literatur zu beflügeln. Auch der britische Schriftsteller David Lodge hat Wells jüngst in seinem Roman „A Man of Parts“ (2011) ein fiktionales Denkmal gesetzt. Palma bereitet derweil eine Trilogie vor und sieht für H.G. Wells in der Fortsetzung der „Landkarte der Zeit“ wieder eine Rolle vor. „I’ll be back“, wie der Terminator sagen würde.

Titelbild

Félix J, Palma: Die Landkarte der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
716 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783463405773

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