Psychoanalytische Begegnungen hinter der unsichtbaren Tür

„Das Ende der Welt“ im Debüt von Pierre Wazem und Tom Tirabosco

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich soll der Untergang der Welt sein?“, fragte sich eine namenlose junge Frau. „Nein!“, das hält sie für abwegig. So narzisstisch ist sie nicht. Und doch dreht sich in dieser Graphic Novel alles um sie. Nicht, dass sie der Mittelpunkt der Welt wäre, die gerade unterzugehen droht, aber das Geschehen der Erzählung wird zunehmend zur Versinnbildlichung ihrer inneren Vorgänge.

Es gibt zwei Vorspiele. Im zweiten sagte eine ebenso namenlose alte Frau voraus, dass es bald Regen geben werde. Man glaubte ihr nicht, doch einige Tage später sieht man die Welt schon langsam in Regen versinken. Die Situation spitzt sich zu, es bleibt nur noch wenig Zeit bis zur Katastrophe. Unbeeindruckt davon liegt die junge Frau apathisch auf dem Boden der Wohnung, die sie zusammen mit ihrem Freund bewohnt. Mit wem spricht die junge Frau? Wazem und Tirabosco wissen die Möglichkeit des Comics zu nutzen: Es müssen zwei unterschiedliche Stimmen sein, denn die einen Sätze befinden sich in einer runden Form, die anderen in einer eckigen. Auch bei der jungen Frau und ihrem Freund spitzt sich die Situation zu, denn ihre Teilnahmslosigkeit regt ihn mehr und mehr auf. Auch dass ihr Vater mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wurde und nun im Koma liegt, ändert nichts in ihrem Leben. Wohl aber die Folge hiervon: Seine Katze ist nun allein im ehemaligen Elternhaus, und sie muss sich um sie kümmern.

Wazem und Tirabosco bedienen sich klassischer Bilder und Mytheme, sie modernisieren sie aber auch und schaffen neue. Die Katze gilt seit jeher als Verbindung zum Mysteriösen. Die bestimmte Katze der Graphic Novel ist derweil beschäftigt, denn die alte Frau vom Anfang, sie hat etwas vor und ist bereits am Elternhaus eingetroffen. Die Schöpfer der Geschichte sind auch Meister der Andeutungen, die sich mitunter verdichten können und die von einem späteren Zeitpunkt aus gesehen allesamt Sinn ergeben – sowie der Auslassung, die die Fantasie anregt und den Rezipienten als Mitgestalter miteinbezieht. Wer ist die alte Frau? Und wieso sind sie und die Katze bereits aufeinander getroffen? Was meinen Katze und alte Frau in ihren Gesprächen eigentlich? Was hat es mit dem Zimmer im Elternhaus auf sich, auf das auch die junge Frau zu sprechen kommt?

Man sieht: Die Handlung wird zunehmend irreal. Eine Katze kann sprechen, und draußen vor dem Haus tummeln sich riesige Welse im flachen Wasser auf dem Spielplatz. „Was in den Tiefen verborgen ist, steigt an die Oberfläche“, sagt die alte Frau – und diese unter Umständen naiv anmutende Erläuterung bleibt die einzige im Buch. In ruhigem Schwarz, Weiß, Grau und blassen Blau geht es dem ominösen Zimmer entgegen. Nur die Katze kann sehen, was dort in einer dunklen Ecke lauert und langsam näher kommt. Deswegen braucht die alte Frau sie. Sie ist zwar eine sehr mächtige Gestalt (welche, das soll nicht verraten werden), aber auch sie hat mit dem unsichtbaren Wächter zu kämpfen, der eine ebenfalls unsichtbare Tür bewacht. Die junge Frau geht hindurch und gerät in eine irreale Welt.

Nach und nach klärt sich alles auf. Schritt für Schritt wird bei dieser Reise in die Vergangenheit, in das Unbewusste und Ungewusste sowie in das Verdrängte der erste Vorspann begreiflich, wird das Geheimnis der Familie der jungen Frau geklärt, erfährt man, was Schreckliches in dem geheimnisvollen Zimmer passierte. Die Bedeutung vieler Bildelemente wird nach und nach eingeholt, so dass einem auch beim mehrmaligen Lesen immer wieder neue Beziehungen und Bedeutungen auffallen.

Wer eine Mystery-Geschichte erwartet, der wird „Das Ende der Welt“ enttäuscht als ‚zu rational‘ weglegen. Denn bei aller Kunst, mit Bildern und Handlung Geheimnis und Bedeutung zu erzeugen, bei aller Bemühung, die Geschichte zunehmend zu irrealisieren – die vernünftige Aufklärung ist das leitende Interesse. Aber sie triumphiert nicht. Sie vertreibt nicht Dunkelheit durch Licht, sondern zeigt dem Dunkel, dass es so dunkel nicht ist und bringt es sowohl dazu, sich selbst nach seinem eigenen Bedürfnis aufzuhellen, als auch das Dunkel einladend zu machen. Mit ihrem klug durchdachten Kunstwerk ist Wazem und Tirambosco eine bewundernswerte Verschlingung von Mythos und Aufklärung gelungen.

Titelbild

Pierre Wazem: Das Ende der Welt.
Mit Illustrationen und Kolorationen von Tom Tirabosco.
avant-verlag, Berlin 2009.
119 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783939080398

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