Schumann-Fantasien

Friederike Mayröckers Prosatext über „1 Schumannwahnsinn“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der volle Titel des Textes der über 85-jährigen österreichischen Schriftstellerin lautet: „vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn“. Das Poetisch-Schillernde des Titels ähnelt dem märchenhaften Titel des 2009 veröffentlichten Gedichtbandes „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ und dem vieldeutigen Titel des Buchs über ihren Lebens- und Arbeitsgefährten Ernst Jandl aus dem Jahr 2005, „Und ich schüttelte einen Liebling“. Der Buchtitel ist fast identisch mit der Überschrift des Gedichts am Anfang des neuen Bandes: „vom Umhalsen der Sperlingswand mitten im Epheu“. Der Anfangstext beschreibt in Bildern den „Unrat“ im Kopf der Ich-Erzählerin „an jenem Tag als ER begraben wurde“. Das „ER“ meint Ernst Jandl, den langjährigen Lebensgefährten von Friederike Mayröcker.

Das Spiel mit Sprache, die Lust, neue Wörter zu erfinden, die spielerische Freude daran, Sprache in ihrem Assoziationsreichtum auszuschöpfen, den Leser in einen Sprachstrudel aus Anspielungen, Namen, stilistischen Besonderheiten, aus Bekanntem und Unbekanntem hineinzuführen, ihn zu verunsichern, ihm aber immer wieder, wie in einer Musikpartitur, sprachliche und inhaltliche „Wegemarken“ zu geben, mit deren Hilfe er sich in der Vielfalt und Differenziertheit des Textes zurechtfinden und etwas Neues entdecken kann, all das macht die Faszination von „1 Schumannwahnsinn“ aus.

Mayröcker zeigt wiederum, dass Schreiben für sie vor allem ein sprachkünstlerischer, im vollen Sinn des Wortes dichterischer Prozess ist. Die Bildhaftigkeit der Sätze, ihre Sprachpoesie und Sprachwucht lassen etwas Magisches entstehen, das den Leser in seinen Bann zieht. Dass es der Autorin im hohen Alter gelingt, Dichtungen wie den vorliegenden Band zu veröffentlichen, verdient Respekt und Anerkennung.

Das Buch besteht aus drei Teilen, einem längeren Prosatext und zwei etwa halbseitigen gedichtähnlichen Texten, die ihn wie eine Einleitung und ein Epilog einrahmen und die mit dem Haupttext über mehrere gleichlautende Zeilen eng verzahnt sind. Der Mayröcker-Leser darf sich auf kleinere und größere Sprach-Wunderwerke freuen.

„Die Pianistin mit der weggeblasenen Frisur dasz ihre Stirn sich entblöszte was ihr ein tobendes tollkühnes Aussehen verlieh – im Hintergrund der moribunde Komponist seitwärts, auf seinem Soffa, aufschreibend fieberhaft seine stammelnden Partituren, uns nicht beachtend in seinem Frühlings Wahn, und was das ‚Drechsler‘ angeht hatten wir es zuletzt im tiefen Schneetreiben besucht, damals bei rauchendem glosendem Ofen.“

Die Textstelle macht einiges deutlich, was für den ganzen Text gilt: ein „wir“, das die Schreiberin und ihren Lebensgefährten von „damals“, Jandl ist gemeint, einschließt, aber auch die Pianistin und den Komponisten, Clara und Robert Schumann; ein Verwischen aller zeitlichen und örtlichen Unterschiede zugunsten einer überzeitlichen und überörtlichen poetisch-sprachlichen Gegenwärtigkeit; ein Kreisen um das Sterben des Komponisten und sein verzweifeltes Aufbäumen dagegen mit Hilfe seiner Kompositionen; und schließlich das beobachtende und fragend-nachforschende Begleiten dieses langsamen Scheidens aus dem Leben des Komponisten durch Clara Schumann, und – auf einer anderen Ebene – durch die Ich-Erzählerin, die darin ihr Leben und Schicksal gespiegelt sieht.

Der Text enthält zahlreiche Anspielungen auf Ereignisse in Schumanns Leben. Natürlich wird der durch übermäßiges Klavierüben steif gewordene Ringfinger erwähnt, der Schumanns Pianistenkarriere ein Ende setzte; von der Geschlechtskrankheit, die möglicherweise Schumanns schwere Erkrankung auslöste, ist die Rede; immer wieder von der Nervenklinik Endenich bei Bonn, in der der Komponist die letzten beiden Lebensjahre von 1854 bis 1856 in großer Einsamkeit – seine Frau Clara durfte ihn auf Rat der Ärzte nicht besuchen – und in zunehmender Verwirrung zubrachte; von dem Selbstmordversuch 1854 spricht der Text, von Schumanns Engel-Fantasien, die seine letzte Komposition, die „Geistervariationen“, beeinflusst haben sollen, von den „Symphonischen Etüden“, von Claras weiten Konzertreisen, von Brahms – und das sind nur einige Beispiele.

Wichtig für das Verständnis des Textes „1 Schumannwahnsinn“ ist dieses Spiel um Clara und Robert Schumanns Biografie nicht. In Schumann hat, das ist entscheidend, Mayröcker nach Hölderlin-Scardanelli, dem sie in ihren „Scardanelli“-Gedichten (2009) ein Denkmal setzte, einen weiteren wahrhaften Bruder im Geiste gefunden und zum Mittelpunkt ihres Dichtens gemacht. Die Lebenssituation extremer Einsamkeit und Entfremdung verbindet Hölderin-Scardanelli, Schumann und das Ich des Prosatextes: ein Blick auf die Welt aus dem Turm in Tübingen oder der Anstalt in Endenich oder dem Fenster des Café „Drechsler“, der diese andere Welt nur ausschnitthaft, manchmal verzerrt, wiedergibt, aber von einer Sehnsucht nach dieser Welt und dem Leben „draußen“ oder der Vergangenheit „damals“ erfüllt ist.

Diese melancholische, nie fatalistisch-depressive, in ihrer schwelgerischen Bilderflut immer wieder – auf groteske Weise – euphorische Lebenssicht eint auch die Personen in dem Text „1 Schumannwahnsinn“, eine verzweifelte Traurigkeit, die geprägt ist durch eine schleichende Gemütskrankheit und den allmählichen psychischen und physischen Verfall Schumanns, durch ein hilfloses Mitleiden aufseiten Clara Schumanns und durch Alter, Einsamkeit, Verlust des Lebensgefährten und den nahen Tod der Ich-Erzählerin. Was allein den psychischen und physischen Verfall aufhalten kann, ist – „haben wir uns nicht immerzu mit unserer verrückten Liebe angesteckt“ – die Liebe oder wenigstens die Erinnerung an die Tage der Liebe. Auch die Kunst, die Musik vor allem, scheint die Vergänglichkeit des Menschen und seine Trauer überwinden zu können.

Gleich der erste Text, der dem Prosatext wie eine Einleitung, ein Präludium, vorangestellt ist, thematisiert im Motiv des Weinens – „weinen“ ist ein Schlüsselwort – und der Nacht eine melancholisch-düstere Grundstimmung. „Dasz mir die Tränen = die Honigtropfen dasz mir die Trübnisse: Dunkelrosen der Nacht“ lauten die Schlusszeilen dieses „Präludiums“. Der längere Prosatext selbst verweist bereits in den Anfangszeilen auf den Verlust nahestehender Personen:  „Wenn 1 Person fehlt (ausgespart ist) auf einer Fotografie, dann sind nur die Umrisse dieser Person zu sehen also ihre Aussparung.“

Die Ich-Erzählerin setzt sich diesem Verlust und der Trauer darüber aus und findet Trost in der Musik. Sie ist „hingerissen von den Klaviermusiken des Komponisten aus 3 Himmelsrichtungen“ und schwebt „tagelang in Musik“. „Mir geht es jetzt so sonderbar gut“, schreibt sie. Sprache, Musik und Natur werden zu einem Mittel gegen die Einsamkeit: „so wie Hungernde Baumrinde essen, so die Vereinsamten = die einsame Seele: Bücher, Sätze und Worte, die Musiken, die Abendröte, den Fliederbaum.“

Das Beispiel zeigt die Dichte und sorgfältige Komposition des Textes. Alle Sätze und Wörter, auch wenn sie zunächst disparat erscheinen, fügen sich zu einem Ganzen, sind Teil des Versuchs, Alleinsein und Verlust des Geliebten durch Sprache zu „bannen“ und ihnen, indem sie „gesagt“ werden, ihren übergroßen Schrecken zu nehmen. „‚die Luft ist voll von unseren Schreien‘ (Beckett)“ lautet eine Zeile, die, wie ein Leitmotiv, zwischen die Worte der Pianistin und des Komponisten eingefügt ist. Sie drückt das Grundgefühl der Angst, der Hilflosigkeit und der existentiellen Not aus, das die Figuren bedroht und bedrückt. „Es düstert mich, so die Pianistin, wenn ich an die Leiden des Komponisten denke“, heißt es da oder: „ach er weinte sich die Augen aus“. Auf grotesk-komische Weise liegen dabei Lachen und Weinen, Leid und Freude eng beieinander: „eigentlich alles zum Lachen dieser Kitzel des Lebens, und so nah dem Weinen verbunden.“

Mayröckers Dichten ist ein „Anschreiben“ gegen Einsamkeit, Alter und nahen Tod. Über sich selbst sagt die Autorin beim Betrachten eines alten Fotos, das sie als Dreijährige zeigt: „und auch diese Person die als etwa 3-jähriges Mädchen abgebildet ist steht am Rande des Grabes, hinfällig, dement, in skandalöser Weise vergrämt – so dasz es sie verlangt, unter Tränen, sich zuzurufen: KRÜPPEL!, RUINE!“. Und das Foto einer „toten schwarzen Katze mit glänzendem Fell“ taucht an verschiedenen Stellen im Text auf wie eine Ahnung der Unentrinnbarkeit des Todes. Es ist die bewundernswerte Leistung Mayröckers, dass sie in ihrem Alterswerk den „Trübnissen“ des Lebens, den „Dunkelrosen der Nacht“, nicht ausweicht, sondern – im Gegenteil – sie in faszinierenden Bildern versprachlicht.

In immer neuen Wendungen beschreibt der Text die körperliche und geistige Hinfälligkeit des Menschen und das Gefühl des hilflosen Mitleidens derjenigen, die, wie die Pianistin Clara Schumann, die Zerrissenheit des Geliebten erleben und bei seinem Sterben tatenlos zusehen müssen. Vom „PAPIER AUSRISZ“ ihres Herzens spricht sie und meint die Verwundbarkeit ihrer Gefühle beim Anblick des Leidens von Robert Schumann.

Der Text „vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn“ kommt daher wie ein Joyce’scher Bewusstseinsstrom, sprunghaft, voller Assoziationen, wie ein Labyrinth von Gedanken, bis in Einzelheiten hinein allerdings strukturiert durch Motive, Schlüsselwörter, Personen- und Ortsnamen, sprachliche Floskeln wie „so die Pianistin“ und „so der Komponist“, die dem Text ein Geflecht aus Sprach-Punkten und Sprach-Linien und ein festes inneres und äußeres Gefüge geben.

Trotz seiner manchmal verwirrend anmutenden Bilder und seiner Assoziationsketten ist der Text klar gegliedert. Immer wieder kehren mit dem Café „Drechsler“ und dem „offenen Soffa“, mit Düsseldorf und Endenich Orte wieder, die für die Autorin, Robert und Clara Schumann und einen „er“ – eine eindrückliche Erinnerung an Mayröckers 2000 verstorbenen Lebenspartner Jandl – bedeutsam sind.

Mayröckers Text ist ein kunstvolles Sprachgebilde aus Anspielungen und Assoziationen, das sprunghaft-mühelos und fantasievoll-selbstverständlich verschiedene Zeiten und Orte, unterschiedliche Situationen und verschiedene Personen aus weit auseinanderliegenden Jahrzehnten zusammenführt. Es entsteht eine poetische Welt aus Sprache, in der die Personen ihre Identitäten wie in einem Verwirrspiel ständig wechseln und wieder entdecken, in der das Jetzt und das Damals, das Hier und das Dort ihre Unterschiedlichkeit verlieren und eins werden. Mayröckers Welt aus Sprache schafft und erfindet sich im Prozess des Schreibens. Es ist eine Fantasie- und Traumwelt, aber auch eine Wörter-Welt, die die Wirklichkeit genau abbildet, eine Wirklichkeit aus Einsamkeit und Alleinsein und gleichzeitig einer unbändigen Kreativität, die sich dagegen mit den Mitteln und Möglichkeiten der Musik und der Dichtung auflehnt. Das letzte Wort des Textes allerdings heißt „Orkus“: Mayröckers Sprach- und Dicht-Kosmos bleibt am Ende ohne wirklichen Trost und ohne große Hoffnung auf das Leben.

„Ach! Die Waage zu finden zwischen den Lustgärten der Sprache und den Schluchten der Sprache oder Schluchzen der Sprache auch Geisterwelt“, lautet ein Satz, der als eine Art Schreibprogramm Mayröckers verstanden werden kann. Dieses meint den Versuch, die extremen Möglichkeiten, die die Sprache bereithält, auszuloten und als Ausdrucksmittel zu verwenden, um eine Sprachmagie aus Schönheit und Melancholie, Freude und Trauer zu erzeugen.

Die Welt draußen, jenseits der „erschauernden Wildnis im Schädel“, wird durch einen Blick aus dem Café „Drechsler“ wahrgenommen. Die ersten Frühlingstage werden in einfühlsamen Bildern beschrieben: „im 1. Fahnenschwenken des Lenzes, sehe man die spanisch anmutende Laube von gegenüber: das brüchige Laub welches noch nicht vom Rasen des Lenzwindes weggeblasen.“ Die Sätze bilden einen eigentümlichen Kontrast zu der „düsteren“ Stimmung der Figuren, die diesen Frühling mit seinen „weinenden Blumen“ und Sträuchern und Bäumen wie etwas Fernes, nicht mehr Erreichbares, distanziert, aber auch sehnsuchtsvoll beobachtet.

Vielleicht steht die letzte Zeile des abschließenden Textes auch für den langen Prosatext: „alles aus Einsamkeit komponiert heute ½ 5 Uhr morgens“. Es ist, als erwache die Schreiberin aus einem Traum Schumann’ scher Fantasien und Halluzinationen, aus „1 Schumannwahnsinn“, und schriebe, was sie „gesehen“ hat, nieder. Im Schreibakt wird dem Traumhaften eine unverrückbare „Gestalt“ gegeben. Der Schreibvorgang wird darin dem Akt des Komponierens ähnlich. Mayröckers Text steckt voller sprachlicher „Musikalität“ und kann mit einer Musikpartitur verglichen werden. Es gibt bereits Hörspielversionen des Textes. „1 Schumannwahnsinn“ entfaltet wohl erst beim lauten Lesen seine volle Wirkung als Sprachkunstwerk.

Titelbild

Friederike Mayröcker: vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
39 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421987

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