Lehrreiche Märchen für empfindsame Leser

Ernst-Peter Wieckenberg hat die 200 Jahre vergessene Übersetzung der „Erzählungen aus Tausend und eine Nacht“ von Johann Heinrich Voß aus dem Französischen in einer Auswahl neu herausgegeben

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Heinrich Voß (1751-1826) kennt man als kongenialen Übersetzer antiker Werke, insbesondere der homerischen „Odyssee“ (erschienen 1781) und der „Ilias“ (erschienen 1793). Dass er auch die französische Ausgabe der indisch-persisch-arabischen „Erzählungen aus Tausend und eine Nacht“ von Antoine Galland (1646-1715) übersetzt hat, war dagegen bisher wohl nur wenigen bekannt. Erschienen ist seine sechs Bände umfassende Übertragung in den Jahren 1781 bis 1785 im Verlag des Bremer Buchhändlers und Verlegers Johann Heinrich Cramer (1736-1806), um dann – mit Ausnahme eines 1811 erschienenen unerlaubten Nachdrucks – für 200 Jahre in Vergessenheit zu geraten. Hierfür ist freilich nicht nur der Verleger, der 1784 wohl neben seinem knappen finanziellen Spielraum auch aufgrund seiner schlechten Kontakte zur Presse Bankrott machte, mit verantwortlich. Auch Voß selbst, der seine Übersetzungen der antiken, griechisch-römischen Autoren höher schätzte als die der orientalischen Märchensammlung, hat mit dazu beigetragen. Darauf weist Ernst-Peter Wieckenberg in seinem Nachwort hin, die er seiner Anfang 2011 erschienenen Auswahl aus Voß’ Übertragung nachstellt.

Der Herausgeber thematisiert in seinem längeren Kommentar in einem ersten Schritt das Leben und Werk des französischen Erstübersetzers Antoine Galland, insbesondere seine Übersetzung und Bearbeitung der „Erzählungen aus den Tausend und eine Nacht“, wobei er gelegentlich auch auf die auf diesem Feld durch die Forschung noch zu schließenden Lücken hinweist. Anschließend liefert er eine kurze Biografie des deutschen Übersetzers der dem König Schahriar von seiner Gemahlin Scheherazade erzählten Geschichten und diskutiert die Frage, ob Voß den Übersetzungsauftrag deshalb angenommen habe, um seine prekäre finanzielle Lage (zu diesem Zeitpunkt bereits als Ehemann und Vater zweier Söhne) trotz oder gerade wegen der Tätigkeit als Rektor einer Lateinschule aufzubessern. Nach Wieckenberg scheinen die Zeugnisse, die hierüber existieren, eine solche Deutung zu bekräftigen, zitiert der Herausgeber doch Briefe des Übersetzers und Werke des Dichters Voß, in denen dieser von seiner Unkenntnis und noch zu erfolgenden Einarbeitung in die Materie der orientalischen Märchen spricht. Dennoch, trotz der scheinbar offensichtlichen Brotarbeit, bescheinigt ihm Wieckenberg mehr als nur einen „gewissen dichterischen Ehrgeiz“, wenn er in seinem Nachwort ausführlich darlegt, welch große Leistung Voß mit seiner Übersetzung der Galland’schen Version von „Tausend und eine Nacht“ ins Deutsche geleistet hat. Der Herausgeber erläutert Entstehungszeit und -umstände beider Übertragungen und geht näher auf das jeweilige Lesepublikum mit seinen besonderen Erwartungen an den Text ein.

Wieckenberg spricht im Falle Gallands von einem aristokratischen und dem Hof nahen bürgerlichen Publikum, betont den starken Einfluss der französischen Moralistik, wie sie Blaise Pascal (1623-1662) oder François de La Rochefoucauld (1613-1680) vertreten haben, auf den französischen Übersetzer und arbeitet die hieraus resultierende Art der Darstellung von Figuren und der Beschreibung von Ereignissen heraus: „Die mangelnde Selbsterkenntnis und die eingeschränkte Selbstverfügung sind ein Wesenszug der Figuren in Gallands Fassung des Werks.“ Bei Voß sehe es dagegen anders aus, bei ihm suche die Leserschaft in der Dichtung „Möglichkeiten der Selbsterkenntnis und der Selbstmitteilung“: „Wie das gesellschaftliche Ideal Gallands ist ihm auch dessen Psychologie fremd. Es geht ihm nicht um das von den Figuren unbegriffene Erleben und dessen Deutung mit dem Blick des Moralisten, er versucht vielmehr, dieses Erleben nachzuempfinden und darzustellen. […] Aus den affektgesteuerten Figuren Gallands versucht er Personen mit individuellen Zügen zu machen. Er mindert damit nicht ihr Leiden unter Bedrückungen und Verfolgungen, aber er läßt ahnen, daß sie unter geringfügig veränderten Bedingungen in der Lage wären, selbständig zu handeln, und so steuert er auch die Aufnahme der Erzählungen. Während Galland dem zuschauenden Moralisten ein ,Gemählde der menschlichen Sitten‘ ([Edward] Gibbon) bot, schafft er handelnde, leidende, liebende Menschen für ein mitfühlendes Publikum.“

Charakteristisch für die von Wieckenberg ausgewählten Geschichten aus dem sechs Bände umfassenden Übersetzungswerk von Voß ist, dass sie, wie jener selbst betont, „menschliches Verhalten in Extremsituationen“ zeigen: Ob es sich nun um die dramatisch verlaufende Liebesgeschichte zwischen dem persischen Prinzen Abulhassan Ali Ebn Bekar und Schemselnihar, der Favoritin des Bagdader Kalifen Harun Alraschid, handelt, oder um die grausamen, weil blutigen Erlebnisse des Ali Baba mit den vierzig Räubern, sodann um den „erwachten Schläfer“ Abu Hassan, der von seinem Kalifen die Möglichkeit erhält, für einen Tag als Herrscher zu agieren, oder schließlich um die abenteuerreichen Schicksale der „drei ausgesetzten Königskinder“, die nach bestandenen Abenteuern durch einen sprechenden Vogel über ihre wahre Herkunft aufgeklärt werden und den Auswahlband mit einem Happy End beschließen. In den hier vorgelegten „Erzählungen aus Tausend und eine Nacht“ geht es immer wieder um Figuren, die plötzlich in schwere Konflikte geraten und gezwungen werden, zu handeln und Entscheidungen zu fällen. Mit hinein spielen dabei nicht selten Neid und Eifersucht, Gier und Hass und die aus ihnen resultierenden, meist negativen Auswirkungen auf die Mitmenschen und sich selbst.

Der „Fluch der bösen Tat“ wird so immer wieder zum Thema. Einem solchen Vergehen folgt früher oder später die Bestrafung. Auch erinnert das Schicksal der Protagonisten oft an das biblischer Figuren: Unglücksfälle werden, wie es in einem der Geschichten heißt, als „Schickung“ Gottes empfunden, der die Menschen durch Leiden prüfe: „‚Wir müssen nicht murren, sondern, was von ihm kommt, in Demut empfangen.‘“ Dennoch, trotz einer solch strengen Lebenseinstellung, stehen in Voß’ Übertragung die beiden Komponenten des klassischen Grundsatzes „prodesse et delectare“, des Belehrens und Erfreuens, in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander.

Amouröse und komische Geschichten wechseln zudem ab mit Abenteuer- und Schauermärchen und geben, so wie es Wieckenberg anstrebt, einen „Eindruck von der Vielfalt der Erzählformen“ der orientalischen Märchensammlung. Der Herausgeber geht in diesem Kontext auch auf die Gründe für seine Auswahl der Geschichten ein, stellt sehr bekannte wie die des Ali Baba und der vierzig Räuber neben solche, die, wie die des „erwachten Schläfers“ und der von Abulhassan und Schemselnihar, noch oder wieder zu entdecken sind. So sei diese Edition, die etwa ein Sechstel des Gesamtwerks ausmacht, all denen empfohlen, die sich eine der ersten deutschen Übersetzungen der „Erzählungen der Tausend und eine Nacht“ in ihrer vom Herausgeber erhaltenen Ursprungsfassung erschließen möchten. Schnell gewöhnt man sich an die älteren Schreibformen und Ausdrucksweisen und wünscht sich bald mehr von der Voß’schen Übertragung zu lesen. Dieser hat Voß selbst Unrecht getan hat, als er sie, wie Wieckenberg hervorhebt, aus seiner Biografie tilgte, und zwar um sich – freilich stark geprägt von der Epoche des philhellenisch ausgerichteten Neuhumanismus – ausschließlich als Übersetzer von Werken der Klassischen Antike zu präsentieren.

Titelbild

Ernst-Peter Wieckenberg (Hg.): Ali Baba und vierzig Räuber. Erzählungen aus Tausend und eine Nacht.
Nach der französischen Ausgabe von Antoine Galland.
Übersetzt aus dem französischen von Johann Heinrich Voß.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
391 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406616082

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