Darkness at the break of noon

Über Bob Dylans Zitatismus

Von Klaus TheweleitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Theweleit

Dunkelheit zur Mittagszeit (nicht Dunkelheit zur Mitternacht) beschert uns die erste Zeile von Bob Dylans Song „It’s Alright, Ma (I’m only bleeding)“ – dem Stück, das mir immer als Dylans „persönliche Nationalhymne“ erschienen ist oder, besser, als seine Declaration of Independence: Darkness at the break of noon – drei schwergewichtige Wörter: darknessbreaknoon, die einiges transportieren im Amerika des Jahrs 1965. „Darkness at Noon“ ist der amerikanische Titel von Arthur Koestlers berühmtem Roman „Sonnenfinsternis“. Das Wort „noon“ ist zusätzlich aufgeladen durch „High Noon“, den Modell-Western (deutsch: Zwölf Uhr mittags) von Fred Zinnemann, in dem Gary Cooper, verlassen von allen und nur leidlich unterstützt von seiner Frau Grace Kelly, gefordert ist zum Duell „eins gegen drei“: drei überlegene Bandidos, die die böse Eisenbahn ausspuckt an der menschenleeren Railway Station kurz vor zwölf. Song: „Do not forsake me, oh my Darling“. Dylans Formulierung break of noon ist gleichbedeutend mit High Noon, Stunde, da das Showdown anbricht, Stunde der Entscheidung „Gut gegen Böse“.

You see, something is happening here, but you don’t know what it is.
Do you, Mr. Jones?

Ich jedenfalls wusste nicht. Von Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ – dieser Abrechnung des abtrünnig gewordenen Ex-Kommunisten Koestler mit dem Kommunismus/Stalinismus – hatte ich zwar reden hören in der Schule (von einem netten antikommunistischen katholischen Englischlehrer namens Hucke). Koestlers Buch von der politischen Sonnenfinsternis (was die „Freiheitserwartungen durch Sozialismus“ betrifft) mit Dylans Songzeile in Beziehung zu setzen, wäre mir aber nie in den Sinn gekommen, 1966, als ich den Song zum ersten Mal hörte. Wer wusste schon in Deutschland, dass Koestlers Buch in den USA „Darkness at Noon“ heißt; Dylans Zeile also ein Halbzitat war.

So kam auch niemand (den ich kannte) auf die Idee, dieser amerikanische junge „Protestsänger“ würde zur Gitarre Texte montieren, nicht anders als andere moderne Lyriker – die man ja verschlang zwischen Frühstück und drei Uhr nachts als junger Lyrik-Fan zwischen Gottfried Benn, Ezra Pound, Charles Baudelaire und Dylan Thomas. Obwohl die nächsten Zeilen von Bob Dylans Song ja solches – beinah demonstrativ – nahelegen:

The hand-made blade, the child’s balloon –

– die handgeschmiedete Klinge – auf wen sollte die wohl weisen, wenn nicht auf King Arthurs oder gar Siegfrieds Schwert? Ja, natürlich, Siegfrieds Schwert aus Fritz Langs Nibelungen-Stummfilm, den hier zwar niemand kannte (niemand kennen konnte), wohl aber interessierte junge amerikanische Kinogänger im Greenwich Village, Manhattan, New York. Und beim child’s balloon sind wir absolut bei Fritz Lang: Welcher Luftballon sollte das denn sein, wenn nicht jener, den Peter Lorre, der Kindermörder in Langs „M“, dem kleinen Mädchen in die Hand drückt, das dann bald tot aufgefunden wird: Peter Lorre, einer der populärs- ten Hollywood-Stars aus der großen Schar der Emigranten, die Hollywoods Kino so sehr geprägt haben. Emigrantenbezüge.

In der folgenden Zeile von „It’s Alright, Ma“ dann Dylans kühne Überbietung von Arthur Koestlers Bild:

Eclipses both the sun and moon –

– eine Dunkelheit, die die Sonne und den Mond zugleich ausknipst: right now, im Amerika des Kalten Kriegs (& des heißen Kriegs in Vietnam). Finsternis, wohin das Auge sich wendet.

Worauf die Strophe einmündet in die erste radikale Bestandsaufnahme des politischen Moments wie des persönlichen Moments des Sängers:

You understand you know to soon / there is no sense in trying –

– zu früh kapiert (als grad dreiundzwanzigjähriger Folkmusic-Hero), dass das alles hier keinen Sinn hat; dass es die Mühe nicht lohnt: Gib’s auf, lass es bleiben. Solche Töne hatten wir, in der deutschen Diaspora, auch im Ohr, eingeprägt vom irisch-französischen Existentialisten Samuel Beckett, dem kalten, unnahbaren. Bei Dylan klang es näher, näher am eigenen Leib:

You discover that you are just one more person crying

– was hieß, und man verstand bestens: Gib nicht so an, du bist bloß einer mehr, der entdeckt, dass es zum Heulen ist. „Es“: das Leben (= America at the break of noon. Im evozierten Namen Fred Zinnemann, Regisseur von „High Noon“, außerdem der Anklang an den eigenen Namen, Robert Zimmerman, aus dem der Sänger, jüdisch, grad ausgewandert ist in den Namen Bob Dylan).

Die Reimworte der dritten Strophe: door / war / roar / before / more, klanglich alle auf „-ore“, hätte ein aufgeweckter Lyrikkopf dann ohne weiteres komplettieren können mit „nevermore“, dem aufgeladenen Reimwort der ewig nachhallenden Refrainzeile von Edgar Allan Poes „The Raven“, grad auswendig gelerntes Modellgedicht für Lyrik-Sound: Quoth the raven: nevermore. Bei Dylan:

you follow, find yourself at war
watch waterfalls of pity roar
you feel to moan but unlike before
you discover that you are just one more
person crying.

Es war also keineswegs so – und heute weiß man dies definitiv –, dass dieser smarte lockige Jüngling auf den Plattencovern, nicht mal ein Jahr älter als man selber, seine Songzeilen einfach aus den eigenen Gehirnwindungen klaubte. Er hatte gehört, gesehen und wie wild gelesen; er bastelte und montierte in seine Songs, was ihm über den Weg (und über die Leber) gelaufen war bis dahin.

Bloß: Koestler – in der kommunistischen Linken, auch der New Yorker Linken, verschrien als „Renegat“ –, was hatte Dylan am Hut mit diesem Frontenwechsler im Jahr 1965? Er hatte, mehr als ‘ne Menge. Dylan wusste, wie es sich anfühlte, „Verräter“ genannt zu werden. Gerade hatte er mit seiner vierten Platte, „Another Side of Bob Dylan“, die auf politische Folksongs geeichten Anhänger des ersten Dylan-Ruhms verstört und verärgert, da folgten mit seiner fünften Platte, „Bringing it All Back Home“, seine ersten Ausflüge in die Welt des elektrifizierten Rock: womit er für die akustischen Folkies (mindestens) des Teufels war: übergelaufen in ein feindliches Lager. Jonathan Lethem bringt Dylans Permanentverrat auf die kürzeste Formel, erinnernd an „jene, die sich in den 60er, 70er Jahren regelmäßig von ihm betrogen fühlten – Elektrisch! Country! Hausmann! Privatier! Christ!“.

Kabel wurden durchschnitten Mitte der Sechziger, es wurde gebuht und gepfiffen, und schließlich schallte Dylan die Anklage „Judas“ entgegen aus einem Konzertsaal: ihm, einem jungen ehrgeizigen jüdischen Musiker, Mitte zwanzig, der alles andere sein wollte, als grad mal „Jesus“. Einem, der vor allem Musik machen wollte; allerdings Musik aus und mit den Konturen seiner eigenen Lebensmomente, verbunden mit denen des geschichtlichen Moments. Greenwich Village war ein linkes Nest Mitte der Sechziger, mit mehr „dogmatischen“ als frei denkenden Linken.

„It’s Alright, Ma“ bringt das, was man in politischen Terms „Lagerproblematik“ nennen würde und die Loslösung von ihr, bündig auf den Punkt: That it isn’t he or she or them or it that you belong to – dass du nichts und niemandem zugehörst, weder Personen noch Parteien, nicht politischen Systemen und nicht gesellschaftlichen Gruppen. Woraus folgt, was das (geforderte) politische Engagement angeht: I’ve got nothing Ma, to live up to.

Dies alles ist existential-politisch derart klargestellt schon in diesem Song auf der Platte „Bringing It All Back Home“, März 1965, geschrieben 1964. Tatsächlich findet sich im Wikipedia-Kom-mentar zu dieser Platte der schöne Satz: „,It’s Alright, Ma‘ ist für den Kapitalismus das, was Koestlers Darkness at Noon für den Kommunismus war“; Kompliment, ein helles Ohr.

Aber, so geht Dylans Song weiter: Das macht gar nichts. Ich muss niemandem zugehören, den Folkies nicht, Joan Baez nicht, den Hobos auf dem Highway nicht und nicht den Organisationen der rebellischen Studenten, auch wenn ich mit ihnen sympathisiere; denn:

It’s alright, Ma, I can make it.

Ich komm klar, auch ohne sie und ohne das alles. Bloß: Wenn man meine Gedanken lesen könnte, würde man meinen Kopf unter eine Guillotine legen. Das ist das Risiko:

But it’s alright Ma, it’s life and life only.

Ein Bilanzsong also „im 24. Jahr“ voller persönlicher, politischer, literarischer Bezüge und selbstverständlich auch musikalischer: Denn dass „It’s Alright, Ma“ nur eine leichte Abwandlung jenes Titels ist, mit dem King Elvis zehn Jahre vorher seinen ersten Radiohit landete: „It’s Alright, Mama“, ist selbstverständlich der Garde der Rock-Autoren nicht entgangen. Aber Dylans Spannweite umfing immer schon mehr als die Felder der Blues- roots, des „American Folk Songbook“, der Rock-’n’-Roll-Poesie eines Chuck Berry oder der „American Musicals“. Auch der (zutreffende) Verweis auf die Autoren des europäischen Surrealismus deckt nicht das ganze Spektrum ab. Dylan hat seine zehn Schreibmaschinenfinger in allen Wörterseen aller Nähen und Fernen, im selben Wordpool, in dem die Lyriker der klassischen Moderne die Wässer aufleuchten ließen oder auch trübten; sodass jene Legenden-Version, die den walisischen Lyriker Dylan Thomas als Spender des neuen Namens für Young Robert Zimmerman angibt, die größte Plausibilität unter den umlaufenden Versionen hat. Zumal jener Dylan Thomas in New York als Frühvollendeter (alkoholisch) verendet war; in jenem kalten Winter-New-York, in das der junge Robert Z. aus Hibbing/Minnesota 1961 eingefallen war, um Bob Dylan zu werden. Es gab etwas fortzusetzen an der Arbeit des verehrten toten Wortzauberers.

Darüber hinaus versieht der junge Bob Dylan in „It’s Alright, Ma“ gewisse Erwartungen, die er und andere an ihn haben (oder hatten), mit einer Warnung an sich selbst. Man habe versucht, ihn hineinzuquatschen, ihn hineinzuwerben in die Position eines jener großen Einzelnen, der hinkriegen könne, was noch nie jemand hinkriegte. Sie haben gesagt, er sei der Eine, er sei

The One / That can do what’s never been done / That can win what’s never been won / Meantime life outside goes on / All around you –

Zeilen, die absolut exakt die Grandiositätsphantasien aller aufbrechenden vielversprechenden Zwanzigjährigen formulieren. Fantasien, die nicht damit überwunden sind, diese Position kühl von sich zu weisen. To do what’s never been done ist einer der Hauptantriebe aller aufbrechenden Jungen, besonders derer, die aus irgendeiner Small Town irgendwo im hinterwäldlerischen Amerika aufbrechen nach New York – mit der Absicht (oder Gewissheit) to make it there.

Heute ist Dylans Art der bezugsgeladenen Wörtervernetzung zumindest seinen Anhängern gut bekannt. Im Netz findet man, sobald eine neue Dylanplatte erscheint, nicht nur deren Texte, sondern sofort ein Riesenkonvolut an Begleittexten, die säuberlich die benutzten Quellen und eingearbeiteten Textstellen der neuen Songs aufspüren und benennen. Mit beeindruckendsten Resultaten: Im Song „Thunder on the Mountain“ auf der Platte „Modern Times“ (2006) gibt es die Zeile

I been sitting down studying the art of love / I think it will fit me like a glove –

– die Kunst der Liebe würde ihm passen wie ein Handschuh, sagt der Sänger. Der Internetkommentar vermerkt, dies sei ein Bezug auf Ovids, des alten Römers, ars amatoria, Ovids Schrift von der Liebeskunst. Bon!

Aber in der Strophe und dem ganzen Song finde ich keinen weiteren Bezug auf Ovid. Offenbar liegt heutigen Dylan-Spezis die Idee fern, dass man mit der art of love (die Dylan passe wie ein Handschuh) auch ohne Ovid-Bezug etwas anfangen könne. Was für eine Karriere des Pop-Weisen also im Feld jener Leute, die sich „vom Wort die Hand auflegen lassen“ – was wären Dylans Texte aber ohne die Stimme.

The Voice. Die Stimme ist es…die Stimme…wie man es auch dreht…dann erst die Gitarre…der Klang der Band…das Amalgam aus E-Gitarre(n), Orgel, Mouth harp, Bass & Schlagzeug, Piano oder Violine. Zuerst die Stimme…dann erst die Erscheinung… Haare, Augen, Sun glasses…die ausgeflippten Hemden…die Art, die Beine in die Gegend zu stellen…das wissende Grinsen…sooft man auch wieder hinsieht…hinhört…die Texte durchgeht… wunderbare Sachen…sicher ist Dylan der profundeste aller Songtexter…der präziseste: Your sons and your daughters are beyond your command! Welche Zeile hätte exakter die Kündigung des Generationenfriedens enthalten, die Anfang der Sechziger an die eigenen Eltern, die Eltern der Weltkriegsgeneration (der Westwelt) seitens ihrer Kinder erging: Ihr habt keine Macht mehr über uns – solche Milestones wie auch die ganze roadmap for the soul (Dylan in „Tombstone Blues“) liegt ausgebreitet da im Textkorpus…aber ohne die Stimme ist es nur die halbe Lyrik…es bleibt bei der Stimme…ihrer absoluten Unwahrscheinlichkeit…das genau ist das Wort für die Komplettheit des Ausbruchs…wie bei Billie Holiday und Elvis…das Unwahrscheinliche hält Einzug unter die Realitäten. Eine weitere solche Einzelstimme fällt mir nicht ein…vielleicht noch, für Momente, Ray Charles…King Ray…etwas Universelles einiger weniger Stimmbandbesonderheiten…überbordend von Geschichtshaltigkeit…Wissens- und Gefühlsschichten…ein höchst Seltenes, Verdrehtes, Skurriles und Allgemeines zugleich…der direkteste Weg in die Körperzentren –

She never stumbles / She’s got no place to fall:

– nicht nur die Zeile für die vollkommene Frau, die Dylan „artist“ nennt…der nichts fehlt…nein, das ist die Zeile für die Stimme selber…für den Flügelschlag des Unerhörten…und mit einem Mal Selbstverständlichen…sowie höchst Artifiziellen… etwas vorher nicht Vernommenes…ein Kondensat aus der Überwirklichkeit…ein Wunder im Physischen, das die großen, die unvergleichlichen Stimmen macht. Billie Holiday der dreißiger und vierziger…Elvis der fünfziger…Dylan der sechziger Jahre… dann lösen sie sich daraus…werden Stimmen einer Epoche… enthalten ein halbes Jahrhundert…manchmal mehr, enthalten vor allem die Sekunden, die Mikro- wie die Makrosekunden, in denen eine Generation, ein Land, ein geschichtlicher Zustand „zu sich kommen“.

Bei Dylan war zu hören, ist zu hören und wird einst zu hören sein, was jeweils aktuelle Geschichtsvernichter zu löschen versuchen aus der Aufzeichnung der Revolten der Generationen überhaupt und insbesondere der Generationen nach Weltkrieg II: die Verabscheuung des Kriegs…die Vergötterung des Sexuellen…das aushäusige Leben, „the road“…der Glaube an die Musik…die Platzierung der Kunst und der Körper über den Ansprüchen aller Polit-Realitäten…aber auch den Zusammenbruch der Illusionen.

All your seasick sailors they are rowing home…

– von hier, aus den Rillen der Stimme, werden sie es nicht löschen können. Die Unwahrscheinlichkeit der Momente einer sich drehenden Weltsituation liegt, unlöschbar festgehalten, in der Stimme von Bob Dylan. The Voice.

Amerikas tiefste Weisheit: It’s the singer, not the song, seine alte (untrügliche) Formel für die Wahrnehmung exzeptioneller Stimm- und Soundbefindlichkeiten, muss seit Dylan erweitert werden: It’s the singer a n d the song. Etwas hob an, das es in Kehlen und Songs vorher so nicht gab; eine Singer/Song-Verschlingung wie selbst bei Billie Holiday nicht; denn ihre Songs wurden von allen gesungen, Sarah Vaughan, Dinah Washington, Lena Horne, ohne dass dies Cover-Versionen gewesen wären; Allgemeingut der schwarzen Kneipen- und Dance-Hall-Szene. Die Singer/Songwriter-Koppelung war etwas anderes, unabweisbar neu. Und so unabweisbar poetisch, dass selbst Allen Ginsberg, poetischste Stimme der Beat Generation, vor Neid erbleichte und in Bewunderung ausbrach; aus der dann bald eine enge Freundschaft wurde.

Dylans Lyrics sind „surrealistisch“ genannt worden; das ist zutreffend, wenn man dies Wort angemessen auffasst. Denn mit dem Wort „surreal“ bezeichneten die französischen Surrealisten eine umfassendere Wirklichkeit: die Welten der Objekte, der Bilder, der Gefühle, der Räusche und insbesondere des Traums gleichermaßen einschließend…eine wirklichere Wirklichkeit. Diese nannten sie die surreale & in diesem Sinn ist Dylan ein Surrealist…nicht wegen ein paar „verdrehter“ Zeilen seiner Songs. Und seltsam, oder vielleicht gerade nicht seltsam, nirgendwo außer in einigen Jazz-, Pop- und Kinostücken ist diese umfassendere Wirklichkeit tatsächlich wirklich geworden oder wirklich geblieben. Dylans unwahrscheinliche Pop-Stimme ist einer der Orte ihrer vollkommenen Materialisierung…nicht zu finden in den Büchern unserer Top-Ten-Philosophie-Beamten… da ist eher kühles Valium…verabreicht Lesern, die die Power des (Sur)Realen nicht ertragen…den Klang der Wirklichkeiten… Leute, die sich zu den Denkern flüchten…und denken, da sei was…Entertainment für Anspruchslose. Ich jedenfalls tausche den ganzen Suhrkamp-Laden gegen die gesammelten Columbia Records.

Test: Man kann sicher sein, jemand, der auf Bob Dylan nicht flog, wird als Erstes sagen, wenn gefragt: Ich mag diese Stimme nicht…dann kommen Wörter wie „dies Knarren, Quetschen, Drücken, Zerren“…dies Ätzende…eine Abstoßung (Anziehung) wie nach Gravitationsgesetzen…die Ozeane & der Mond…die, die nicht der Ozean sind, folgen der Anziehung des Mondes nicht.

Von den Stimmen Frank Sinatras, Ella Fitzgeralds, Neil Youngs, der Callas wird man nur annähernd Gleiches sagen können…von der Garde der mafiösen Tenöre zu schweigen…auch nicht von den Beatles, obwohl sie nahekommen…da ist es das Ensemble…die Boy Group Electricity…der losgebundene Gitarrengaul…die vervierfachte Jugendlichkeit…unbekümmert bis in die Schuhsohlen – aber es gilt für das Becken von Elvis und seine narkotische Lippe…den Haarschwung…für Billie Holidays schwarze Stirngardenie…die melancholische Schönheit ihrer erotisierten Trauer…den Klang Song-gewordener Emanzipationsgeschichte, nicht nur schwarzer und weiblicher. Sie hat die Stimme, die den historischen Stand des menschlichen Ohrs „1939“ beschreibt, soweit dies kein kriegerischer war: „Alles was man je sagen wollte, hatte sie schon gesagt, schöner, genauer.“ Dieser Satz von Amiri Baraka behält seine Gültigkeit; wie für Dylan 1965.

Auch die (Selbst-)Anklage hat niemand klarer und schmerzhafter formuliert und moduliert als Dylan. Zeilen, ausdehnbar auch hier auf „die ganze Generation“: We must have been mad. Wir wussten nicht, was wir hatten. Bis wir es weggeschmissen haben.

Unter Verwendung genau dieser Zeilen hat Greil Marcus im Jahr 1974 eine surreale Bühnenvereinigung der Existenzen von Elvis und Bob Dylan phantasiert: „Alles in allem bleibt nur noch ein Moment, den ich gern erleben würde; eine Offenbarung, die irgendwie Elvis’ Geschichte abrunden würde. Elvis käme auf die Bühne. wie er es immer getan hat; das Gebrüll des Publikums würde ihn umtosen, wie es das immer tun wird. Nach einer Weile würde er mit einem Song von Bob Dylan anfangen. Er würde langsam singen und alles, was er hat, in den Song hineinlegen: ,must have been mad‘, würde er klagen, ,didn’t know what I had – Until I threw it all away‘. Und dann würde er, mit Liebe im Herzen, lachen.“

Die reale Healität (die kastrierte) sah anders aus: Elvis vegetierte im weißen Ganzkörperanzug angekettet in Las Vegas; Bob Dylan kam heraus mit „Blood On The Tracks“ und startete einen neuen Anlauf: Back to the stage. Konzerttourneen hatte er aufgegeben nach seinem Motorradunfall von 1967. 1974 sieht Elvis und Dylan jeden in seiner eigenen & beide in einer komplett anderen Welt. Aber: Wenn es überhaupt einen Zustand gibt, wo man das Weggeworfene und Verschwendete des eigenen Lebens in einer Art spiritueller Materialität wiederbekommt, ist es in solchen Stimmen und ihren Verschlingungen. Und dann wird es auch woanders noch vorkommen; so ruft, unermüdbar und untötbar, das sogenannte Prinzip Hoffnung dazwischen. Längst lebt es nur noch in Welten des Pop…Funke zur Zündung von Körpern, die ihre Umlaufbahnen suchen und wechseln… auf ewig aber verloren sind für „Ludwig vans“ und „Sofies Welten“… sich verschwendend in durch und durch weltlicher Religiosität.

Zwei weitere Stimmen in Hock- und Pop-Music kommen mir gleich nahe gekommen sind wie Dylan mit seinem Until we threw it all away. Das sind Lou Reed und die Velvet Underground – mit Nicos Stimme in „Sunday Morning“ –, wenn sie, klarwerdend nach dem Sonntag-Morgen-Kater, aufs eigene Leben blicken With all the wasted years so close behind; all die verschwendeten Jahre so dicht hinter sich; uns auf den Fersen, sozusagen.

Und dann Eric Burdon:

When I think of all the good times I’ve been wasting having good times.

(– was für eine Verschwendung guter Zeit, um gute Zeiten zu haben)

lnstead of all that drinking / I should have been thinking, – – Really? Oder „Rilly?“, wie Hobert Crumb in seine Sprechblasen schreibt. Nein, keine echte Reue. Sinnlose Verschwendung und Verausgabung, für Georges Bataille Grundkonzepte allen Lebens, sind ausgewandert aus dem ernsten und geschrumpft (oder erweitert) zu Grundkonzepten des Pop. Sie spotten der Verschwendung, sie zeugen vom unversiegbaren Reichtum jener Musiken, die zwar auch (und immer) „Traditionen“ etwas schulden, mehr aber (und immer) dem Augenblick.

Es ist der jeweilige Moment – Auftrittsmoment, Lebensmoment. geschichtlicher Moment – der, als immer verschwendeter, beim Einzelnen zu Haltbarkeiten und Gewissheiten führt. „Was brauch ich ein Prinzip Hoffnung, wenn ich durch Rock ‘n’ Roll Gewissheit habe“, dichtete Wolfgang Neuß, Mensch des genießenden Augenblicks. Er spricht von Gewissheiten, die zu Haltungen und Konzepten führen, die haltbar und verlässlich sind: bei Dylan schließlich zu einem Konzept wie der Never Ending Tour; kein Ende der Verschwendung; auch kein Ende absehbar neuer Aufbrüche und neuen Landgewinns:

And I was standin’ on the side of the road
Rain fallin’ on my shoes
Heading out far the East Coast
Lord knows I’ve paid same dues gettin’ through
Tangled up in blue

– so Dylan in diesem Titel aus den vier rätselhaften Worten am Anfang von „Blood on the Tracks“,1974, Neustart in Blue nach siebenjähriger Road-Abstinenz. „Gott weiß, ich hab mein Lehrgeld gezahlt.“

Dylans Konzertabstinenz hatte sich ergeben nach der auslaugenden Englandtournee 1966 und seinem anschließenden Motorradunfall; aber nicht nur daraus. Aus der Feststellung That it isn’t he or she or them or it that you belong to hatte sich eine Ausnahme ergeben; und zwar bei der allerüblichsten Ausnahmeposition, bei der Stellung „She“. Bob Dylan heiratet 1965 Sara Lowndes, geschieden, Mutter einer kleinen Tochter und dann Mutter der vier gemeinsamen Kinder, die Sara in den folgenden Jahren gebiert und um die sie sich, es werden Dylans Hausmann-Jahre, gemeinsam kümmern. Auch dies wird verbucht als Verrat in der Scene, eine Abkehr, die kulminiert in einem musikalischen Verrat: der Platte „Nashville Skyline“, 1970. Dylan kommt hervor aus seinen Family Years mit einer Countryplatte! Mit Johnny Cash, dem bekannten Redneck-Supporter, als Co-Sänger des ersten Stücks: „Girl of the North Country“. Abwegig! (Fand ich damals auch.)

Es ging, im Pop, von Anfang an ums Ganze. „Niemand“, bemerkt Greil Marcus zum Jahr 1965, „hörte die Musik im Radio als Teil einer separaten Wirklichkeit.“ Auch 1956, beim Einbruch von Elvis & Co., war das schon so. Aber 1965 erst recht: „Es schien, als könnte in der Arena des Pop buchstäblich alles passieren, als würde dies auch tatsächlich, Monat für Monat, der Fall sein. Das Wettrennen fand nicht nur zwischen den Beatles, Bob Dylan, den Rolling Stones und all den Übrigen statt. Die Welt des Pop befand sich in einem Wettrennen mit der Welt an sich, der Welt der Kriege und Wahlen, der Arbeit und der Freizeit, der Reichen und der Armen, der Weißen und der Schwarzen, der Männer und Frauen – und 1965 konnte man spüren, dass die Welt des Pop im Begriff stand, diesen Wettlauf zu gewinnen.“

Das ist großartig gesagt, heillos Übertrieben, also unsinnig und doch präzise wahrgenommen. Selbstverständlich wäre es auch nicht „falsch“, zu behaupten, es sei die Rockmusik gewesen, die (neben einigen anderen Unwichtigkeiten) den Eisernen Vorhang zerrissen und die Mauer zum Einsturz gebracht hat.

Pink Floyd, Lou Reed, Bob Dylan
Fighting in the captain’s tower
About who them brought the Wall tumbling down
While Joshua’s planting flowers

Die Imagery von „Desolation Row“ darf auch die Bildhaftigkeit jeder Popschreibe sein; nichts muss richtig sein, aber alles muss stimmen. Popmusik wie Popschreibe leben von einer Logik und einer Power der Momente, der politischen wie der affektiven individuellen. Deshalb ist es möglich, 1964 so gut wie 1974 oder 1988 oder 1997 oder erst 2006 zum Dylan-Fan geworden zu sein; wobei die ältere Sorte nicht unbedingt die fundiertere oder überlegene sein muss. Es geht nie um die Konkurrenz oder die Versammlung von „Meinungen“, die sind so beliebig und meist egal wie in der Polit- und TV-Welt auch. Es geht um den Treffer ins Schwarze, bezogen auf präzise Momente.

So sieht Greil Marcus Dylans Song „Like a Rolling Stone“ nicht bloß als ein brillantes Stück Musik von 1965, sondern als „den bewussten Versuch, in der Welt des Pop zu völlig neuen Ufern aufzubrechen“. In diesem Zuge zu behaupten, nichts in Amerika wäre „wie vorher“ gewesen nach diesem Song und Amerika hätte hier eine unwiederbringliche Chance nicht genutzt, ist so offensichtlicher Unsinn wie dieselbe Behauptung, aufgestellt zur Zerstörung der Twin-Towers: dass nach Ground Zero nichts mehr gewesen sei, wie es vorher war; absoluter Quatsch - aber eben doch richtig. Genau richtig. Es kommt auf den Zeitpunkt an, zu dem solches gesagt wird, auf den affektiven Moment und darauf, wer zu wem wie (und wo) spricht. Die Geschichte spielt auf einem anderen Feld, auf anderem Fundament, in einem anderen Basement, und will all so was gar nicht wissen. Die (Pop-)Entscheidung, im (kometenhaften) Erscheinen einer einzelnen bestimmten Single einen epochemachenden Einschnitt zu sehen, kann man verwerfen oder teilen. Widerlegen kann man sie nicht. Pop-Schreibe ist, daneben dass sie sachlich fundiert sein soll, immer parteiisch, eingenommen für ihren Gegenstand, willkürlich in ihren Urteilen, haarsträubend (un-)gerecht und doch auf Exaktheit aus; die Exaktheit des Pfeils, der trifft, in die Mitte der Scheibe und auch ins Herz.

Anmerkung der Redaktion: Bei dem Beitrag handelt es sich um einen redaktionell bearbeiteten und gekürzten Auszug aus dem Vorwort des von Klaus Theweleit herausgegebenen Bandes „How does it feel. Das Bob-Dylan-Lesebuch“, das im Rowohlt Verlag erschienen ist. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.