Nicht nur Nesthäkchen kam ins KZ

Die Geschichte von Anne Frank und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer wird in zwei Graphic Novels erzählt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Suhrkamp will in naher Zukunft Klassiker der Weltliteratur als Graphic Novel herausbringen. Ein Beitrag in der Sendung „Kulturzeit“ (3sat, 31. Januar 2011) zeigte, dass der Verlag das Medium Comic ‚zum Anfixen‘ nutzen möchte: Menschen, die eigentlich keine so genannte hohe Literatur lesen, sollen über Comics zu ihr hingeführt werden. Suhrkamp offenbart mit diesem Konzept zweierlei: Zum einen weiß der Verlag nichts über die Zielgruppe von Graphic Novels. Denn wie ein Kenner der Szene in dem TV-Feature sagte, sind Comics- oder Graphic-Novel-Rezipienten in Deutschland keineswegs Jugendliche, die sich vorwiegend für Handy-Klingeltöne interessieren, sondern kulturell versierte Erwachsene – vorzugsweise männliche – zwischen 30 und 40 Jahren mit einem hohen Bildungsgrad. Zum zweiten artikuliert sich in diesem Konzept die Verachtung für die Graphic Novel: Sie ist lediglich Mittel zum Zweck, das dazu dient, ‚Doofe‘ einzufangen. Das Ergebnis dürfte dementsprechend geraten und das Prinzip Agitprop an seinen Endpunkt bringen. Keineswegs sollen Menschen mit Mitteln der Kunst für die Politik gefischt werden, sondern für die Kunst mit den Mitteln der Kunst.

Funktionieren dürfte das nicht. Denn nachdem das Amsterdamer „Anne Frank Haus“ im Jahre 2007 die Graphic Novel „Die Suche“ herausgebracht hatte, um desinteressierten Jugendlichen die Geschichte des Nationalsozialismus nahezubringen, mussten die pädagogischen Mitarbeiter des „Anne Frank Zentrums“ in Berlin eine unerwartete Erfahrung machen: Deutsche Jugendliche lesen so gut wie keine Comics. „Die Suche“ ist ein 60-seitiger Comic, der aus der Gegenwart retrospektiv die Verfolgungsgeschichte einer niederländischen jüdischen Familie während des Nationalsozialismus erzählt. Der Comic von Eric Heuvel, Ruud van der Rol und Lies Schippers wurde viel gelobt – aber auch viel kritisiert, vor allem weil er die Judenverfolgung im Stil der belgischen „ligne clair“ gezeichnet hatte, dem sauberen, hellen, pseudorealistischen und konservativen Stil der „Tim und Struppi“-Comics.

Anne Frank

Diese Kritik hatten sich die diversen Anne-Frank-Institutionen zu Herzen genommen. Während „Die Suche“ von Heuvel dem „Anne Frank Haus“ fertig angeboten worden war, wurde die „grafische Biografie“ von Anne Frank „in enger Zusammenarbeit“ mit dieser Institution entwickelt. Die Zeichner sind diesmal Sid Jacobson und Ernie Colón, zwei Verteranen des DC-Comic-Universums. Anders als bei Joe Kuberts „Yossel“ (vgl. literaturkritik.de September 2005) schlägt ihre langjährige Arbeit an Superhelden-Comics bei „Anne Frank“ aber nicht durch. Jacobson wurde im selben Jahr wie Anne Frank geboren. Er war zunächst Chefredakteur von „Harvey Comics“ und schuf so bekannte Comic-Charaktere wie Richie Rich und Casper, das Gespenst. Mit Colón hatte er bereits vorher zusammengearbeitet: 2007 erschienen ihre Comic-Adaption des US-Regierungsberichts zu den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001, „The illustrated 9/11 Commission Report“ und im selben Jahr die thematische Fortsetzung „After 9/11: America’s War on Terror“. Im Jahre 2009 veröffentlichten sie auch schon eine Biografie als Graphic Novel, und zwar zu Che Guevara.

Anne Frank ist seit Jahrzehnten ein populärer Mythos. Sie wuchs in einer assimilierten liberalen jüdischen Familie auf. Ende 1933 beziehungsweise Anfang 1934 emigrierte ihre Familie nach und nach in die Niederlande. Dem Vater Otto gelang es auch hier, geschäftlich Fuß zu fassen. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen im Mai 1940 fielen auch die Franks unter die neue antijüdische Gesetzgebung. Zu ihrem 13. Geburtstag (12. Juni 1942) bekam Anne ihr erstes Tagebuch geschenkt. Ab Anfang Juli 1942 versteckten sich die Franks in einem Hinterhaus. Nach und nach nahmen sie auch andere Juden auf. Im Sommer 1944 wurden sie verraten und festgenommen. Miep Gies, eine der niederländischen nichtjüdischen Helfer, fand nach der Festnahme das Tagebuch und bewahrte es für später auf. Die acht Versteckten wurden in verschiedene Lager verschleppt; Otto Frank war der einzige, der überlebte. Er bekam von Gies Annes Tagebuch, nachdem er Mitte Juli 1945 erfahren hatte, dass Anne in Bergen-Belsen umgekommen war. Im Juni 1947 erschien eine erste Ausgabe des Tagebuchs in den Niederlanden. Das Versteck, das Haus Prinsengracht 263, wurde im Mai 1960 als Museum unter dem Namen „Anne Frank Haus“ der Öffentlichkeit übergeben.

Das Tagebuch wird immer wieder neu aufgelegt. Inzwischen kann man es sich auch von anderen vorlesen lassen. Zusätzlich wurden später weitere schriftstellerische Fragmente von der Autorin verlegt. Ringsherum hat sich ein ganzes Anne-Frank-Universum gebildet. Für jüngere Kinder gibt es ihre Geschichte als Bilderbuch, für alle Altersklassen als Theaterstück sowie als Film. Anne Franks Leben regte Andere an, Fiktiva über sie zu verfassen. Natürlich wurde ihr Leben mehrfach historiografisch aufbearbeitet, aber auch das ihres Vaters. Sowohl ihre Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg wurde rekapituliert, als auch ihr Versteck detailliert vorgestellt. Hinzu kommen die autobiografischen Erinnerungen an Anne Frank von Menschen, die sie kannten. Eine von ihnen erregte einiges Aufsehen, weil es die Geschichte der Anne Frank weiterschrieb – bis in die Vernichtung. Für den Schulunterricht wurden Anne Frank und ihr Tagebuch speziell aufbereitet. Die Graphic-Novel-Biografie nun ist nicht nur ein weiteres Buch zum Thema, sondern sie ist ein offizielles Projekt. Am 10. November 2010 wurde sie im Rahmen einer Abendveranstaltung in der Botschaft der Niederlande in Berlin feierlich der Öffentlichkeit vorgestellt.

Dass „Das Tagebuch der Anne Frank“ deswegen so beliebt sein könnte, weil es eine Beschäftigung mit dem Holocaust ermöglicht, ohne sich mit dem Holocaust beschäftigen zu müssen, wurde verschiedentlich geäußert. Denn all das Grauen der „Shoah“ wird hier ausgeklammert. Stattdessen ist man mit der Situation ähnlich der eines existenzialistischen Kammerspiels konfrontiert und kann sich an Anne Franks Zuversicht und ihren Spekulationen über das Wesen des Menschen delektieren. Sobald es hässlich wird, fällt der Vorhang. Auch gibt es hier nur Opfer, aber keine Täter – keine Deutschen. Mitarbeiter des Berliner „Anne Frank Hauses“ erzählen von präpubertären Jugendlichen – vor allem Mädchen –, die das Tagebuch passagenweise auswendig kennen und sich gegen jede Korrektur des öffentlichen Mythos stellen. Die Graphic-Novel-Biografie geht über das Tagebuch hinaus: Sie erzählt das gesamte Leben Anne Franks, nicht nur ihre Geschichte, bevor sie anfing, das Tagebuch zu schreiben, sondern vor allem auch den Teil ihres Lebens, als sie das Tagebuch nicht mehr weiterschreiben konnte, weil sie es bei der Verhaftung durch die Deutschen zurücklassen musste. Das Tagebuch bekommt sie erst auf Seite 69 geschenkt, also nach fast der Hälfte der gesamten Erzählung. Der Comic erzählt nicht nur die Geschichte der Anne Frank, sondern auch die ihres Tagebuchs, wie es nach dem Krieg gefunden, veröffentlicht und rezipiert wurde.

Die Graphic Novel hingegen zeigt Anne Frank nicht so, wie sie sich einen Platz in den Herzen der Deutschen erobern konnte. Rund 15 Seiten, also zehn Prozent des Gesamtumfangs, sind der Verhaftung der Versteckten und ihres Sterbens in den Lagern Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen gewidmet. Die jüdische Mona-Lisa-Ikone mit ihrem Lächeln und dem offenen Gesicht, das nichts als Zuversicht ausstrahlt, wird demontiert. Nicht nur Nesthäkchen kam ins KZ, sondern ein Mensch, dessen Leidensgeschichte dort erst richtig begann: Ihre Haare sind abrasiert, ihr Körper ist ausgemergelt und von Krankheiten gekennzeichnet, so dass sie fast nicht mehr zu erkennen ist. Aber ihren Tod sieht man nicht; er wird nur schriftlich mitgeteilt. So weit wollte man wohl doch nicht gehen.

Vor dem Tod skizzieren die beiden Zeichner die Geschichte einer Familie, die überall zurechtkommt, die rechtzeitig flüchtet, sich bemüht, sich integriert, beliebt ist und Erfolg hat. Deutlich wird die gute, ebenso einfache wie geniale Organisation von Annes Vater, der – entgegen den wütenden Angriffen von Seiten Bruno Bettelheims – seine Familie erfolgreich und lange Zeit versteckte. Fast hätten die Franks es bis zur Befreiung geschafft.

Dass das vorliegende Buch gar keine Graphic Novel ist, wird schnell klar. „Eine grafische Biografie“ hält man in Händen, klärt das Cover gleich auf. Auch eine „Zeittafel der historischen Ereignisse“ wird man ebenfalls im Inhalt finden. „Anne Frank“ ist ein Geschichtsbuch mit eindeutiger Absicht: nämlich diejenigen, von denen man denkt, dass sie sich nicht für Geschichte interessieren, mit den Mitteln einzufangen, von denen man denkt, dass diese Zielgruppe sie besonders bevorzuge. Zwischendurch werden an passender Stelle der strikt chronologisch geordneten Biografie historische Erklärungen eingeflochten: was der Erste Weltkrieg war, wie die NSDAP aufstieg, was die Nürnberger Gesetze waren, was die Kristallnacht und so fort. Historische Originalbilder, die aus den Massenmedien sowie aus Geschichtsbüchern wohl bekannt sind, werden aufgenommen und nachgezeichnet. Die brutalen Details werden nicht ausgespart, aber auch nicht zelebriert. Entsprechend den fachlichen und etwas besser informierten öffentlichen Diskursen wird die „Shoah“ nicht auf die Gaskammern von Auschwitz reduziert, sondern werden auch die Massenerschießungen sowie die Todesmärsche dargestellt. Bei der Visualisierung des Todes von Annes Schwester Margot versagt die bildliche Kraft, die vorher schon nur bedingt vorhanden war, aber vollends. Auf einem computergenerierten Hintergrund, der sich von oben (Dunkelgrau) nach unten hin (Weiß) aufhellt, sieht man die beiden Schwestern in einem elliptoiden weißen Rund. Anne kniet zusammengesackt, das Gesicht in ihre rechte Hand gestützt, vor sich, auf dem Bauch liegend, ihre tote Schwester. Dass Margot tot ist, unterstreicht die Tatsache, dass ihre Brille vor ihr liegt sowie Annes Sprechblase: „Si… Sie ist tot!“. Wie auf einer existenzialistisch leergefegten Bühne verharren die beiden Schwestern wie in einem Theaterscheinwerfer-Lichtkegel. So sah Margots Tod bestimmt nicht aus. Die Graphic Novel transponiert ihn in eine Welt der Einsamkeit, des individuellen Sterbens und Trauerns.

Häufig sind die Bilder nur Illustrationen der historiografischen Erzählung; das Visuelle und die Sprechblasen verdoppeln nur das, was in den eckigen Kästchen geschrieben steht. „Nach der einjährigen Ausbildung in einer Frankfurter Bank ging er [Annes Vater Otto Frank] 1909 tatsächlich für eine Lehrstelle bei Macy’s nach New York.“ Im Bild darunter sieht man Otto Frank von hinten an einer Schiffsreling, vor sich die Freiheitsstatue und wie er sagt: „Tja, Amerika, da bin ich!“. „Sein Aufenthalt“, so verrät der nächste Kastentext, „wurde jedoch durch den plötzlichen Tod seines Vaters im September 1909 unterbrochen“. Passend dazu sieht man Otto Frank im offenen Reisemantel, wie er gerade den Hut abnimmt, hinter sich Koffer und Taschen, vor sich seine Trauerschwarz tragende Mutter. Er: „Ich kam, so schnell ich konnte!“, sie: „Ich bin so froh, dass du da bist!“. Und so eindimensional geht es immer weiter: Nachdem die Familie in die Niederlände flüchtete, müssen alle Holländisch lernen. „Die Goslars wohnten neben den Franks und wurden zu guten Freunden, wie auch Hanneli und Anne enge Freundinnen wurden.“ Dazu sieht man die beiden genannten Mädchen hintereinander mit fröhlichem Gesicht einen Bürgersteig hinablaufen, im Hintergrund ihre gutgekleideten Mütter. Das Bild zeigt: Die Kinder haben Spaß miteinander, sind befreundet. Wie um ein weiteres Bild sparen zu können, informiert Anne mit ihrer Sprechblase, wofür diese Freundschaft unter anderem gut war: „Zusammen lernen wir ganz schnell Holländisch!“

An manchen Stellen fällt der Comic auseinander in einen sachlichen Text einerseits und Bilder andererseits, die die Emotionen der Menschen darstellen sollen, die den Bildern abgehen – die aber auch sie nicht generieren können. „Deine Klassenkameradin Betty Bloemendaal wurde nach Polen deportiert…“, wird Anne informiert. „Oh nein … Wie furchtbar…“, und: „Wir haben Glück…“ antwortet Anne, während ihr Blick zur rechten Bildhälfte schweift, wo – über einen trennenden gesichtslosen „SS“-Mann hinweg – Juden einen Güterwaggon besteigen müssen.

Deutsche werden auf zwei Arten dargestellt: Da gibt es auf der einen Seite die Dämonisierung. Hermann Göring wird bei dem historiografischen Exkurs zu den Nürnberger Gesetzen als fülliger, brutaler Haudrauf gezeichnet, merkwürdigerweise mit blonden Haaren gemalt (die „blonde Bestie“ Friedrich Nietzsches?). Bei einem weiteren Exkurs, diesmal zur Wannsee-Konferenz, sieht man im Vordergrund einen abgezehrten KZ-Insassen und im Hintergrund einen finster grinsenden SS-Mann, von dessen Augen man durch den Schatten, den sein Mützenschirm wirft, nur wenig sehen kann. Dadurch werden sie zu schwarzen Augenumrissen, und der SS-Mann tendiert ins Mephistophelische. In dem Exkurs, der die Festnahmen der in den Niederlanden lebenden Juden thematisiert, sieht man im Vordergrund einen fies grinsenden SS-Mann. Gegen diese Darstellung ist nichts einzuwenden, denn die die Juden verfolgenden Deutschen waren – nicht nur aus Judensicht – eben keine unbeteiligten Automaten, sondern hatten Vergnügen an ihrer Arbeit, die sie ausfüllte und sie die durchaus teuflisch ausführten. Zum zweiten werden Deutsche auf gesichtslose Silhouetten reduziert, die vor allem Gefühls- und Mitleidlosigkeit sowie trutziges Beharren ausstrahlen. Angesichts dieser Konterfeis werden die Vorzüge der sogenannten Dämonisierung deutlich, denn die gesichtslosen Silhouetten reproduzieren die Ästhetik, mit der die Deutschen sich vorzugsweise selber darstellten, weil sie sich so sehen wollten.

Dietrich Bonhoeffer

Auch der Band von Moritz Stetter ist eine Auftragsarbeit, und auch in ihm geht es um eine Ikone aus der Verfolgungsgeschichte des Nationalsozialismus – in diesem Fall um den protestantischen Vorzeige-Theologen Dietrich Bonhoeffer.

Dieser wurde 1906 geboren und am 9. April 1945 von den Nationalsozialisten hingerichtet. Denn schon 1933 wurde er zu einem erklärten Gegner der „Deutschen Christen“, einer kirchenpolitischen Bewegung im deutschen Protestantismus, die von der religiösen Grundorientierung des Nationalsozialismus überzeugt war und deswegen die weitgehende innere wie äußere Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit dem „Dritten Reich“ propagierte. Wegen seines Widerstandes wurde Bonhoeffer von 1933 bis 1935 als Pfarrer nach London versetzt. Doch wurde er nach Berlin zurückberufen, um in einem illegalen Priesterseminar den Priesternachwuchs auszubilden, der der „Bekennenden Kirche“ nahestand, einer theologisch heterogenen oppositionellen Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche gegen die „Deutschen Christen“ und die NS-Kirchenpolitik. Das Seminar wurde 1938 von der Gestapo aufgelöst. Während des Krieges warb Admiral Wilhelm Canaris, damals Leiter der Abwehr des Nachrichtendienstes der deutschen Wehrmacht, Bonhoeffer für geheime Kontakte mit ausländischen Kirchen an. Im April 1943 wurde er verhaftet und bis zu seiner Hinrichtung gefangengehalten.

Von dieser Inhaftierung aus erzählt Stetter das Leben des mutigen Theologen. Für das Gütersloher Verlagshaus, eines der Flagschiffe protestantischer Theorie in Deutschland, bei dem unter anderem die Werkausgabe Bonhoeffers erscheint, wird Stetter auch das Leben Martin Luthers in einer Graphic Novel erzählen. Dieser Comic soll im Herbst 2011 erscheinen. Auch dieser Verlag verfolgt das Konzept, mit einem Comic „neue Leserkreise für ein ernstes Thema [zu] erschließen“. Der Autor ist recht wenig bekannt. Seine Homepage zeigt Fragmente eigener Arbeiten und Auftragsjobs wie Plattencover und ähnliche graphische Gestaltungen, die einer erzählerischen Struktur entbehren. Im Gegensatz zu „Anne Frank“ ist „Bonhoeffer“ aber tatsächlich eine Graphic Novel.

Von seiner Zelle in Flossenbürg aus blickt Bonhoeffer zunächst auf den Tag seiner Verhaftung und dann auf sein gesamtes Leben zurück. Neben einem kleinen Ausflug in die frühe Kindheit, mit dem wahrscheinlich die ethische Prägung Bonhoeffers dargelegt werden soll, liegt der Schwerpunkt natürlich auf den Jahren ab 1933. Diese zehn Jahre sind ein konsequenter Abstieg, vom erfolgreichen Theologen mit Anhängerschar Ende 1932, der die NSDAP unterschätzt, über den Widerstand gegen die Kirchenpolitik des „Dritten Reichs“, der dann auch illegal wird, über Reflexionen über gewaltsamen Widerstand und Tyrannenmord bis zur Hinrichtung. Deutlich wird immer wieder, dass Bonhoeffer zunehmend vereinsamte – sowohl innerhalb der NS-Gesellschaft als auch innerhalb seiner Kirche. Weder die eine noch die andere wird reingewaschen: Die Deutschen jubeln Adolf Hitler zu, und die „Deutschen Christen“ erhalten bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 gut 70 Prozent aller Stimmen. Es ist Stetter gelungen, sowohl Bonhoeffers unverzagte Zuversicht, als auch dessen immer wiederkehrende Verzweiflung visuell auszudrücken. Dies liegt nicht daran, dass der Comic in Schwarz-Weiß-Bildern gehalten ist. Nationalsozialismus, Bedrohung und Gewalt werden durch verdichtete Krakellinien angezeigt. Hitler wird fast durchgehend so dargestellt. Seine Gestalt entsteht aus diesem Chaos der Bedrohung. So wird er als Emanation dunkler Triebkräfte deutlich, deren Verkörperung er war. Dabei gelingen mitunter auch richtige Sinnbilder. Aus dem Mund eines riesenhaften Hitler-Krakellinien-Gesichts ragt eine Zunge, die aus Hitler-Gruß-Armen besteht. Aus dem Führer sprechen also die Bewegung und das Volk.

Für die Opfer des Nationalsozialismus hat Stetter apersonale Schemen gewählt, die an klassische Schlossgespenster erinnern, mit fast gesichtslosen Köpfen, auf die nur weit aufgerissene Augen und Münder gestrichelt wurden. Sie sehen aus wie gequälte Seelen, die im Schmerz auffahren und vieles ausdrücken können: Angst, Schmerz, Flucht, Aufschrei. Als Bonhoeffer mit Beweisen für die Verbrechen der Deutschen konfrontiert wird, beherrschen diese Schemen eine Doppelseite, vor ihnen unten rechts halbseitengroß der Theologe, der sich offensichtlich Bilder anschaut. Es ist Stetters gestalterischem Vermögen zu verdanken, dass diese Szene durch das Entsetzen und den sichtbaren Schmerz in Bonhoeffers Gesicht an Eindringlichkeit gewinnt.

Wie im Anne-Frank-Comic auch wurden historische Bilder eingearbeitet, aus ihrer Ikonisierung gelöst und in den Fluss einer – hier wirklich – lebendigen Erzählung eingefügt. Auch finden sich Originaltexte Bonhoeffers wieder, die hier allerdings länger sind, und nicht nur wegen ihrer Länge, sondern auch wegen ihres Anspruchs sperriger ausfallen als die Passagen aus Anne Franks Tagebuch.

Auf einen dieser Texte schwebt Bonhoeffer am Ende zu. Er wird zur Hinrichtung geführt, und als er vor dem Galgen steht, verwandelt er sich in einen nackten Menschen, der durch einen schmalen lichten Korridor inmitten der Dunkelheit auf einen seiner bekanntesten Texte – „Von guten Mächten geborgen“ – zufliegt. Dies ist keine Sinngebung, weder für Bonhoeffers Leiden im Besonderen, noch das der anderen Opfer des Nationalsozialismus im Allgemeinen, sondern für Bonhoeffers Hoffnung. Die angenehme Zurückhaltung im Erzählstil behält Stetter dankenswerterweise bis zum Ende bei.

Titelbild

Moritz Stetter: Bonhoeffer. Graphic Novel.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010.
110 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783579070506

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sid Jacobson / Ernie Colón: Das Leben von Anne Frank. Eine grafische Biografie.
Carlsen Verlag, Hamburg 2010.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783551791856

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