Magie und Vernunft

Der isländische Autor Sjón entführt seine Leser in „Das Gleißen der Nacht“ in eine märchenhafte und zugleich vernunftmäßig geordnete Welt

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Isländer Sjón, mit richtigem Namen Sigurjón B. Sigurðsson, ist ein erstaunlich vielseitiger Autor. Er schreibt Lyrik, Kinderbücher, Prosa und auch Songtexte für die Sängerin Björk. Bestens vertraut mit den europäischen Avantgarden greift er in seinem jüngsten Roman „Das Gleißen der Nacht“ auf einen historischen Stoff zurück. In Anlehnung an den isländischen Gelehrten Jon Gudmundsson erzählt er von Jónas Pálmason, der ums Jahr 1600 lebt und wegen seiner Gelehrsamkeit bei den Notabeln in Ungnade fällt. Jónas ist ein Altgläubiger im reformierten Island, deshalb erregt er besonderen Argwohn und Hass. Mit seiner Familie wird er von einem Ort zum anderen vertrieben und schließlich, unter Androhung von Strafe für alle, die ihm in irgendeiner Weise beistehen, auf ein einsames Felsenriff verbannt. So bleibt ihm die Möglichkeit einer Flucht verwehrt.

Sjón lässt Jónas Pálmason selbst sein Leben erzählen. Wir begegnen dem 60-Jährigen 1635 auf seiner Insel, vier Jahre der Verbannung liegen bereits hinter ihm. Während er über das isländische „Natterngezücht“, diese „einfältige Schar“ von Neidern und Heuchlern schimpft, sucht er seinen Frieden im Schoß der Natur. Seine Rede richtet sich an einen unscheinbaren Meerstrandläufer. Mit diesem Tier hat er als fünfjähriger Bube Freundschaft geschlossen, als ihm eine vom Himmel herab flatternde Feder beim Lesenlernen „als Lesestab“ diente.

Verachtet und gemieden, wäre Jónas ein Jahr später die Rettung dennoch fast geglückt. Für diese Episode in seinem Leben übernimmt der allwissende Erzähler selbst die Regie und erzählt, wie Jónas mit einem Schiff nach Kopenhagen gelangt, wo er wegen seiner unschätzbaren Verdienste an der Universität empfangen und sogar dem König vorgestellt wird. Dessen Verdikt, dass er vom heimischen Gericht freizusprechen sei, im Beisein des fälschlich Verurteilten, kümmert die Isländer indes nicht und Jónas wird nach seiner Rückkehr abermals auf seine einsame Insel zurückgeschickt. Bis zur endgültigen Befreiung sollte es noch einige Zeit dauern.

In „Das Gleißen der Nacht“ zeichnet Sjón das Bild eines Gelehrten an der Schwelle zur Epoche der wissenschaftlichen Vernunft. Jónas Pálmason repräsentiert den zarten Empiriker, der die Gegensätze miteinander in harmonischen Einklang bringt. Er glaubt an die göttliche Allmacht und bettet eine Erkenntnisse demütig in diese ein. Er kennt und schätzt die alten Mythen ebenso wie er ihren falschen Zauber entkräftet, wo genaues Wissen es zulässt – beispielsweise in Bezug auf das Einhorn, bei dessen legendärer Kopfzierde es sich tatsächlich um den Zahn eines Narwals handelt. Damit „ist der Marktwert der Hörner bald verfallen – für Jónas eine süße und lang ersehnte Rache, denn viele seiner Verfolger zu Hause gehörten zu den Hauptabnehmern dieser Ware.“

Ein Novalis-Zitat im Vorspann zum Roman weist auf diese Dualität hin, die in der frühen Romantik wieder auflebte. Jónas Pálmason ist ein Alleswisser, der zugleich um die Beschränktheit seines Wissens weiß. Er trägt die Ambivalenz der Vernunft in sich, im Unterschied zu seinen Widersachern, die er der „Freizügelei“ bezichtigt. Deren Moral besteht einzig darin, an Gott zu appellieren, um selbstsüchtig gegen dessen Gebote zu verstoßen. Ihre Grausamkeit ist entsprechend zügellos und unbarmherzig.

Diese Wendezeit um 1600 nimmt Sjón mit einer Sprache in den Blick, die Adäquates versucht: den Spagat zwischen leicht patiniertem Sprachkolorit und ästhetischer Modernität. Auf der einen Seite gelingen Sjón großartige Schilderungen des isländischen Winters, der den armen Jónas bedrückt und quält. Auf der anderen Seite wagt er Szenen, die Mysterien heraufbeschwören und doch rechtzeitig ins souverän Lakonische abbiegen. Dies ist besonders im wunderbaren Prolog zu sehen: Der Engel Luzifer kehrt von der Jagd zurück und findet den Himmel in Aufruhr. „Er ist tot“ lamentieren die Engel in weiser Voraussicht. Doch Gott lebt (noch), auf seinem Schoß sitzt seine neueste Kreation: der Mensch, der sich gerade ein Stück eigenen Kot in den Mund schiebt und sein erstes Wort, „Ich“, von sich gibt. Ihm sollte Luzifer huldigen, doch er weigert sich. „Dafür wurde ich aus dem Himmelreich hinausgeworfen.“

Im Original heißt der Roman „Rökkurbýsnir“ – was mit „Die Dämonen der Finsternis“ übersetzt werden kann. Von diesen Dämonen, die auch Gott töten werden, wird der Gelehrte gepeinigt, gehasst und verfolgt. Ihre hinterwäldlerische Dummheit und Schlechtigkeit gebiert finstere Träume. Spätestens bei Jónas’ Erinnerung an die freundlichen baskischen Walfänger, die 1613 auf der Insel Gastrecht erhielten, um dann jedoch des kleinen Profits willen auf grausamste Weise abgeschlachtet zu werden, fragt man sich, wer denn in diesem Stück der Teufel sei.

Sjóns Roman ist historisch und wirkt zugleich unterschwellig aktualisiert. Geistfeindlichkeit ist noch immer eine der schärfsten Waffen der falschen Siegelbewahrer der Tradition. Demgegenüber beharrt Sjón auf der Dialektik der Vernunft, was sich auch stilistisch widerspiegelt. Er hält den Stoff sprachlich in magisch-mythischer Schwebe und bettet ihn zugleich in eine unbezweifelbar moderne Konstruktion ein. Der Versuch ist riskant, doch die poetische Synthese gelingt eindrücklich und einzigartig. Mag die eine oder andere Kleinigkeit auch missraten, gemessen am hohen Einsatz fällt dies nicht ins Gewicht. Besonders beeindruckend ist dabei, wie es ihm gelingt, eine alte Geschichte zu aktualisieren, ohne ihr die historische Eigentümlichkeit zu rauben. Das macht dieses Buch in höchstem Maße anregend – über die Lektüre hinaus.

Titelbild

Sjón: Das Gleißen der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Betty Wahl.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011.
288 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100751324

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch