Erzählen bis Wladiwostok

Peter Bichsel lässt uns bei der Lesung seiner „Transsibirischen Geschichten“ zusteigen, wo immer wir wollen

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Literaten, die zunächst Erzähler sind und dann erst Schriftsteller: Johann Peter Hebel, Nikolaj Gogol, Heinrich von Kleist. Ihr Erzählton, nicht der Stoff oder das Thema, ist es, der uns in ihren Bann zieht. Der Schweizer Peter Bichsel, der 1986 mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet wurde, zählt auch zu ihnen. Nicht von ungefähr ist dieses Erzählen mit der kleinen Form verbunden, die sich nicht aus dem Interesse am Stoff speist, sondern von gedanklicher Zuspitzung lebt. In diesem Sinne hat Bichsel einmal gesagt: „Ich glaube, der Sinn der Literatur liegt nicht darin, dass Inhalte vermittelt werden, sondern darin, dass das Erzählen aufrechterhalten wird.“

Gemeint ist damit gerade auch das nichtliterarische Erzählen im Alltag, dem der Fabulierer Bichsel näher steht als manch anderer; der mündliche Erzählgestus ist vielen seiner Texte eingeschrieben. Es ist daher ein Glücksfall, wenn wir den Schweizer Erzähler und seine Geschichten nun auch wirklich hören können. Und es ist kein Nach-Hören wie so oft bei Hörbüchern und Mitschnitten von Autorenlesungen, sondern – mit einer Ausnahme – das Hören von bisher Unveröffentlichtem. Die Doppel-CD versammelt Gelegenheitstexte, die der Autor als Zugaben bei seinen Lesungen vorzutragen pflegt und die oftmals mit ihm befreundeten Persönlichkeiten des Literaturbetriebes wie Siegfried Unseld, Klaus Wagenbach, Klaus Roehler oder Peter Härtling gewidmet sind.

Erlebtes nimmt hier anekdotisch Gestalt an, ohne je kolportagehaft zu wirken. Das Unseld-Porträt entpuppt sich unversehens als Korollarium zu Bichsels Werk, wenn plötzlich von der Entstehung der Geschichtensammlung „Zur Stadt Paris“ die Rede ist. Durchgehendes Motiv dieser Geschichten ist die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn: „Es kann sein, Transsibirien breitet sich zwischen Solothurn und Olten aus – eine gedankenreiche Unendlichkeit. Beide Bahnhöfe, den von Solothurn und den von Olten, kenne ich. Da und dort steigt Peter Bichsel aus und ein. Er schreibt nur während der Fahrt, weil er nicht anders kann, wenn er auf Fahrt in Fahrt ist“, schreibt Peter Härtling im Booklet. Die acht Geschichten, im Mai und Juni 2010 in Luzern und Langenthal bei Lesungen mitgeschnitten, sind eine ideale Ergänzung zur gedruckten Sammlung „Eisenbahnfahren“ (2002 in der Insel-Bücherei erschienen); dort kann man auch die komplexeste und längste Geschichte „Die mehreren Peter von Matt oder kampanischen Nationalgesichter“ – zugleich eine Hommage an den prominenten Schweizer Germanisten wie an Jean Paul – nachlesen.

Titelbild

Peter Bichsel: Transsibirische Geschichten. Live im Kleintheater Luzern und Chrämerhuus Langenthal.
2 CD.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2010.
24,00 EUR.
ISBN-13: 9783905825237

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