Das ischt Kunscht?

Tim Krohn spazifizottlet durch die Schweizer Berg- und Sagenwelt

Von Stefanie Regine BrunsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Regine Bruns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Roman "Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte" erweckt der Tim Krohn die längst vergessene Heimatliteratur zu neuem Leben. Als Schauplatz seiner Geschichte wählt der junge Deutsche, der im Kanton Glarus aufgewachsen ist, die Schweiz der Gründerjahre. Eben jene abgeschiedene, enge Welt zwischen Alm und Alp, Käs und Kuhreiher. Aber eben auch jene Welt der unheimlichen Sagengestalten, Hexli und Gschpängschterli.

Hier sind auch die Quatemberkinder zu Hause, die anders sind als andere Menschen, weil sie nicht nur inmitten der Menschen leben, sondern gleichzeitig auch in der wundersamen Welt der Sagen und Mythen. Ein solches Quatemberkind ist auch der Melchior, genannt der Melk, der als Waisenkind beim Doktor Tuet aufwuchs. Sein Vater, der Fänz, bezwang einst ein Pestweib. Die Pestbeule, die er aus dieser Begegnung davontrug, sperrte er in ein Wandloch - auf Anraten des Doktors, der mit dem Teufel, dem Hörelimaa, paktierte. Nach einigen Jahren öffnet der Fänz auf Drängen seiner Frau, die die Beule aus dem Haus haben will, den Verschlag wieder. Die Pestbeule springt ihm daraufhin ins Gesicht und tötet ihn. In der allgemeinen Aufregung verschwinden oder sterben auch alle anderen Familienmitglieder - bis auf den Melk, der fortan beim Doktor Tuet lebt und als Vehbub auf der Alp arbeitet. Seine Jugend verbringt er auf der Dräckloch Alp bei rauhen Sennen, Kühen und geheimnisvollen Gschpängschterli. Hier lernt er auch das Vreneli, ein freches "Ummegumpi und Ummenfenderi" kennen, das die Gestalt eines Füchsli, Gämsli oder Hexli annehmen kann und dem Melk das Zaubern beibringen will.

Der Melk wirkt stets nachdenklich, ruhig und verträumt, ganz im Gegensatz zu den wilden Sennen, die sich eines Tages eine "Hudlenbaabe", eine Lumpenpuppe, basteln, die alsbald lebendig wird und ihnen zu Diensten ist, bis sie die Kühe totmelkt und dem Gunggel Sepp die Haut abzieht. Eine Lawine setzt den schaurigen Ereignissen auf Dräckloch schließlich ein unerwartetes Ende.

Als das Vreneli nach dramatischen Ereignissen verschwindet, bricht der Melk zu einer rastlosen Reise durch die Schweiz auf. Auf der Suche nach seiner Herkunft treibt es ihn schließlich bis nach Venedig. Unterwegs begegnen ihm vielerlei merkwürdige Gestalten, so z.B. eine russische Popentochter, die auf dem Weg ist, ein Mann zu werden, um das Mädchen ihrer Träume heiraten zu können. Melk bändelt mit einigen Hexen an und schließt einen Pakt mit dem Teufel, der ihn zum Wunderdoktor werden und damit in Konkurrenz zu Doktor Tuet treten läßt. Erst als er im fernen Italien, ohne Gefühl und Erinnerung, sterben will, bringt ihn ein Zauber zurück nach Hause. Hier begreift er schließlich, daß all sein Sehnen allein dem verschollenen Vreneli galt.

Krohns neuer Roman ist weder als kitschige Folklore abzutun, noch ist er als eine Parodie der heilen Alpenwelt zu verstehen. Vielmehr verbindet er das längst vergessene Genre der Heimatliteratur mit modernen Elementen. Die Erfindung des Kunstdialekts "Glarnertüütsch" ist dabei sicherlich das auffälligste und das entscheidende Merkmal des Buches. Wenn auch zu Beginn das häufige Nachschlagen der Helvetismen und Sennereiausdrücke (im angehängten, umfangreichen Quatember-Wörterbuch) die Leselust mindert, so entwickelt diese Sprache mit der Zeit doch ihren ganz eigenen Charme. Die Verbindung zwischen oftmals grausigen, archaischen Geschehnissen und dem verniedlichend wirkenden Dialekt macht die Stärke dieses Romans aus. Lautmalerische Ausdrücke wie z.B. Dittitolg, Gfogg, Preesi usw. passen sehr gut zu den rauhen Bergen und den kauzigen Menschen in ihren Dörfern.

Tim Krohn streut geschickt Schweizer Sagenmotive in die Handlung des Romans ein, so daß der Leser einiges wiedererkennen oder auch neu erfahren kann. Wer diese elaborierte Kunstsprache nicht scheut, erlebt sie als ein seltenes und seltsames Stück Heimatliteratur.

Titelbild

Tim Krohn: Quatemberkinder.
Eichborn Verlag, Frankfurt 1998.
208 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3821806702

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch