Visionäre Zärtlichkeiten im Paradies von Gomorrha

Untersuchungen zu Utopien und zur Utopieforschung erfahren einen zyklischen Aufschwung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor etwa einem Jahrzehnt erschien eine Ausgabe von literaturkritik.de mit dem Schwerpunktthema „Utopie“. Damals war das ein antizyklisches Unterfangen. „Nicht, dass den Utopien eine Auferstehung bevorstünde“, doch wäre dem heute vielleicht nicht mehr ganz so. Immerhin erscheinen in letzter Zeit wieder vermehrt einschlägige Publikationen, die unterschiedliche Aspekte des Themas beleuchten. Drei von ihnen sollen im Folgenden vorgestellt werden. Darunter der von Reto Sorg und Stefan Bodo Würffel herausgegebene Sammelband „Utopie und Apokalypse in der Moderne“, deren Vorwort das obige Zitat entnommen ist. Bei den beiden anderen Büchern handelt es sich um die Aufsatzsammlung „Utopische Horizonte“ des bekannten Utopieforschers Richard Saage und um den dritten Band über den „Stand der aktuellen deutschen Utopieforschung“, in dem Andreas Heyer sich mit deren „theoretischen und methodischen Ansätze“ befasst.

Zunächst zu Heyers viergliedriger Untersuchung: Der erste Teil beleuchtet „die historisch motivierten bzw. angeleiteten Blicke auf die Utopie und Arbeiten, die Utopia in der Geschichte verankern“, sodann befasst sich der Autor mit „sozialwissenschaftlichen, ideengeschichtlichen und philosophischen Aufarbeitungen der Utopiethematik“, während der dritte Teil einige einschlägige Arbeiten beleuchtet. Das abschließende Kapitel wendet sich dem „immer wichtiger werdenden Bereich der neuen Technologien bzw. Konvergenztechnologien sowie den dort abgebildeten Imaginationen künstlicher Menschen“ und dem selbst ja gar nicht so neuen „Topos des Neuen Menschen“ zu. Zu Beginn der drei erstgenannten Abschnitte erörtert und bewertet Heyer jeweils einige mehr oder weniger wissenschaftliche Arbeiten zum Thema (unter ihnen die eine oder andere Dissertation, aber auch schon mal eine Magisterarbeit), um sich sodann Allgemeinerem zuzuwenden. Im ersten der drei genannten Abschnitte ist das „der utopische Diskurs der Weimarer Republik“, im zweiten „das utopische Denken“ in der Frankfurter Schule im dritten schließlich sind es „Utopie, Science Fiction und die neuen Medien“.

Im Zentrum der Untersuchung steht die Verhandlung der Frage, ,,inwieweit die nunmehr überwiegenden Spezialarbeiten das Forschungsprofil der jeweiligen akademischen Disziplin oder des spezifischen ausgewählten Themenausschnittes prägen konnten“. Zudem – und das ist vielleicht sogar das heimliche Hauptanliegen – möchte Heyer „den Begriff der Utopie sowie die entsprechenden theoretischen und methodischen Konzepte weiter schärfen“.

Utopie, Science-Fiction und Fantastik müssen dem Autor zufolge klar als Gattungen benannt und unterschieden werden, ohne zu „unterschlagen“, „dass es über alle fundamentalen Grenzziehungen hinweg Verbindungslinien gibt“. Ungeachtet der „zentralen Überschneidungen“ bestünden eben auch „zentrale Differenzen“ zwischen den Gattungen.

Als Freund terminologischer Neologismen erweist sich der Autor mitnichten. So übt er gerne deutliche Kritik, am „Begriffswirrwar“ und dem „Chaos“, deren er manche Arbeit beschuldigt, und kritisiert – zwar am Beispiel Peter Seiferths, aber doch in allgemeiner Absicht –, „wenn sich jeder Forscher seine eigene Begriffe bildet“, da dies „letztlich wirklich eine Sackgasse der Utopieforschung“ sei. Die Überlegung, dass neue Begriffe dazu beitragen können, Phänomene besser zu erklären, als das mit den bisherigen möglich war, oder dass sie durch ein neues Erkenntnisinteresse bedingt sein können, spielt für den Autor keine große Rolle.

Heyer gilt eine „Differenzierung“ zwischen Utopie und Science-Fiction als „durchdacht“, der zufolge sich „utopisches Denken“ dadurch von der Science-Fiction unterscheidet, dass es „ohne Prognostik“ auskommt. Für die Science-Fiction sei sie hingegen „geradezu konstitutiv“, wobei „Technik und Wissenschaft die bestehende Sozial- und Staatsordnung“ in der Utopie „unterstützen“, während sie in der Science-Fiction „autonome Größen“ sind. Eine Argumentation, die nicht alle überzeugen wird.

Anders als Heyer unterscheidet Saage Utopien von Science-Fiction unter anderem dahingehend, dass es letzterer „im Kontext einer eher dürftigen Rahmenhandlung vor allem um technisch-wissenschaftliche Explorationen“ geht, „in deren Mittelpunkt die individuellen Abenteuer des genialen Ingenieurs oder Wissenschaftlers stehen“, und beweist damit ein denkbar angestaubtes Science-Fiction-Verständnis, das sich gegenüber der gesamten feministischen Science-Fiction als ignorant erweist. Utopien wollen Saage zufolge hingegen zeigen, „wie eine Gesellschaft aussehen muss, in der die Menschen ein glückliches oder depraviertes Leben führen“. Doch räumt er ein, dass Science-Fiction auch „utopische Momente integrieren“ kann, während die Utopie seit einiger Zeit ihrerseites „die neueste Entwicklung der Technik nicht unbeachtet lassen kann“.

Das einheitsstiftende Moment der in Saages vorliegendem Band bis auf zwei Ausnahmen zweitverwerteten Texte besteht in dem Anliegen, das „Profil“ des „Phänomens“ politischer Utopie zu „bestimmen“, soweit sie die „neuzeitliche Geistesgeschichte“ betrifft. Das erkenntnisleitende Interesse des Autors zielt darauf, Utopien in ihren „internen Lernprozessen und Synthesen mit anderen soziokulturellen Strömungen“ sowie als Reaktionen auf „Fehlentwicklungen“ ihrer jeweiligen „Herkunftsgesellschaft“ zu „verstehen“, ohne dabei allerdings die „kritische Reflexion der Genesis und Geltung“ des Untersuchungsgegenstandes zu vernachlässigen.

In der Einleitung zählt Saage etwa 30 AutorInnen als VerfasserInnen der „wichtigsten Texte seit der Renaissance“ auf; unter ihnen sind gerade mal drei Frauen. Christine de Pizan ist allerdings nicht dabei. Vielmehr handelt sich um Autorinnen, die ihre Utopien zur Zeit der Zweiten Frauenbewegungen entwarfen: Marge Piercys ist mit „Frau am Abgrund der Zeit“ vertreten, Ursula K. LeGuin mit „Planet der Habenichtse“ und Margaret Atwood mit „Report der Magd“. Zweifellos herausragende Werke des Genres. Da Saage zufolge Utopien „exakt das vermeintliche Gegenteil der Fehlentwicklung der Herkunftsländer ihres Autors“ spiegeln, erstaunt die Zusammenstellung allerdings. Offenbar benutzt der Autor den Begriff „Utopie“ einmal als Oberbegriff für Eu- und Dystopien, einmal im Sinne von Eutopie im Gegensatz zu Dystopie.

Die in Saages Text über „das moderne Naturrecht und die anthropologische Wende im utopischen Diskurs der Aufklärung“ etwas kusorisch beleuchteten Primärtexte wurden sämtlich von Männern verfasst. Die weiteren Aufsätze in Saages Band befassen sich überwiegend mit einschlägigen Texten diverser (Anti-)Utopisten. Es sind ihrer elf an der Zahl – und auch sie wurden ausschließlich von Männern verfasst.

Ein weiterer Essay befasst sich mit der Frage nach einer möglichen „Renaissance der Utopie“. Zu ihrer Beantwortung arbeitet sich der Autor an einem von Rudolf Maresch und Florian Rözer 2004 herausgegebenen Sammelband ab, der in seinem Titel eben diese Renaissance behauptet. Saage erörtert zunächst den Unterschied zwischen der „klassischen Version“ und der „Neuen Utopie“ und sodann, wie der „soziale Träger“ einer Renaissance der Utopien aussehen könnte. Insbesondere aber interessiert ihn, „ob es der neuesten Metamorphose utopischen Denkens wirklich gelingt, aus dem Schatten der klassischen Tradition herauszutreten.“

Abschließend sei der Blick auf den eingangs erwähnten Sammelband von Sorg und Würffel gerichtet, dessen Titel „Utopie und Apokalypse in der Moderne“ bereits ein etwas anders gelagertes Erkenntnisinteresse erkennen lässt.

Den wohl erhellendsten Aufsatz hat Klaus Vondung beigetragen. Er beleuchtet die unterschiedliche Rolle, die Gewalt in Utopien und apokalyptischen Vorstellungen einnimmt. Fast nebenbei legt er zudem dar, „inwiefern die rassistische Ideologie Hitlers als apokalyptische Weltdeutung verstanden werden kann“.

Zwei Chrakteristika sind Vondung zufolge für apokalyptischeVorstellungen kennzeichnend. Einmal ein „strikter Dualismus“, der eine „radikale, auch moralisch wertende Trennung zwischen der zutiefst verdorbenen alten Welt und der vollkommenen zukünftigen“ sowie „zwischen dem ‚bösen Feind‘, der das Verderben verschuldet hat, und den Auserwählten, die jetzt noch leiden, aber bald triumphieren werden“, vornimmt. Hieraus folgt als zweites die „Überzeugung, der Erlösung müsse der Untergang der alten Welt und die vollständige Vernichtung des ‚bösen Feindes‘ vorausgehen“. Es ist eben diese Überzeugung, welche in den apokalyptischen Vorstellungen die „Notwendigkeit von Gewalt“ begründet. Daraus ergeben sich Vondung zufolge „gravierende Unterschiede“ zwischen apokalyptischen Szenarien und utopischen, deren wichtigster darin besteht, dass nur für die Apokalypse, nicht aber für die Utopie die „Zerstörung einer ‚alten Welt‘“ und die „Vernichtung eines ‚bösen Feindes‘“ notwendige Bedingungen für das „neue Gemeinwesen“ sind. Ein zweiter „markanter“ Unterschied ist Vondung zufolge, dass wiederum nur das apokalyptische Szenario, nicht aber das utopische einen „Zustand der Vollkommenheit“ anstrebt.

Einem literarischen Text wendet sich Christine Weder zu, wenn sie sich mit Ingeborg Bachmanns Erzählung „Ein Schritt nach Gomorrha“ befasst, deren Titel apokalyptische, weniger hingegen utopische Vorstellungen evoziert. Damit spielt wiederum der Titel von Weders origineller Untersuchung der kurzen Geschichte um eine Liebesnacht zweier Frauen: „(K)ein Schritt ins gelobte Gomorrha“. So geht es ihr denn auch nicht so sehr um Apokalyptik als vielmehr um eventuelle utopische Momente in Bachmanns Erzählung, die von Weder im „Kontext der Aufbruchsprogramme der 60er Jahre“ untersucht werden. Zuvor aber stellt sie einige Überlegungen allgemeinerer Art an und konstatiert etwa, dass „ungeduldige theatralische Paradiesbeschwörungen“ zwar „suggestiv, naiv, größenwahnsinnig und utopisch“ sein mögen, „doch als fantasierter Blick in eine – mehr oder weniger – wünschenswerte Zukunft immer noch interessanter“ bleiben „als der pseudo-realistische Rückblick auf eine – definitiv düstere – Vergangenheit“. Und angesichts der 68-Bewegung merkt sie in einer schönen Abwandlung des Marx’schen Überbau-Theorems an, wenn „das Herz der ‚Repression‘ im Unterleib verortet“ werde, müsse gemäß der „freudo-marxistisch inspirierte Theorien“ der Zeit „die ‚Befreiung‘ bei diesem individuellen Unterbau des Gesellschaftskörpers ansetzen“. Daher habe deren „kommendes Reich der Freiheit nach dem Untergang aller Verklemmtheiten“ denn auch vor allem ein „schönes neues Sex-Leben“ versprochen.

Zwar scheint Bachmann Weder zufolge an „Zeitphänomenen“ wie der ‚sexuellen Revolution‘ „gänzlich vorbeizuschreiben“, doch begründet die Autorin ihre Untersuchung damit, dass den „Aufbruchsbeschwörungen“ oft „ästhetische Programme“ innewohnen, sodass es „aussichtsreich“ erscheine, sie mit der „Literatur und Kunst jener Zeit, die sich ihrerseits häufig thematisch und performativ mit Aufbrüchen ins Utopische befassen“, zu „konfrontieren“. Dazu wählt sie nicht das dem Roman „Malina“ inkorporierte Märchen der Prinzessin von Kagran, in dessen Entstehungszeitraum die Studentenbewegung fiel, auch nicht das in einem Gedicht Bachmanns utopisch ans Meer verlegte Böhmen, sondern eben die um 1960 geschriebene Erzählung, deren Titel mit dem Namen der biblischen Stadt Gomorrha auf den „utopischen Ort als Fluchtpunkt des aufbrechenden Schrittes, mithin das Paradies“ verweise. Dabei entspreche „Bachmanns Beanspruchung des verruchten Namens“ „aufs Genauste“ der studentischen „Repressionskritik mit assoziiertem Befreiungsprogramm“.

Weder zufolge geht es bei den „visionären Zärtlichkeiten“ der „utopisch-apokalyptischen Liaison“ von Bachmanns Protagonistinnen gar nicht um „die Utopie gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität“, auch nicht um ein „idyllisches Ideal von Lesbos“ oder eine „schöne neue Welt der gleichberechtigten Geschlechter“, sondern vielmehr um ein „radikal anderes ‚Reich‘“, das „jenseits der Geschlechter“ liege und darum „die Geschlechterdifferenzen zugunsten der ‚Ganzheit des Menschen‘“ überwinde. Somit sei Bachmanns Erzählung „nicht spezifisch feministisch, sondern generell sexual-utopisch motiviert“.

Titelbild

Andreas Heyer: Der Stand der aktuellen Utopieforschung. Band 3: Theoretische und methodische Ansätze der gegenwärtigen Forschung 1996 -2009.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2010.
171 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783830048992

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Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2010.
338 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550593

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Richard Saage: Utopische Horizonte. Zwischen historischer Entwicklung und aktuellem Geltungsanspruch.
LIT Verlag, Berlin ; Münster 2010.
179 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783643105967

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