Wir sind Bernhard

Alfred Pfabigan in der Rolle des Reiseleiters durch die apollinische und chthonische Sphäre des Bernhard’schen Kosmos in seinem Buch „Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment“

Von Verena MeisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Meis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer alles liest, hat nichts begriffen […]. Es ist nicht notwendig, den ganzen Goethe zu lesen, den ganzen Kant, auch nicht notwendig den ganzen Schopenhauer; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten Wahlverwandtschaften und wir wissen am Ende mehr über die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang zum Ende gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste Vergnügen bringt.“

Entgegen diesem Postulat des punktuellen Lesens, wie es der Protagonist Reger in Thomas Bernhards Spätwerk „Alte Meister“ äußert, ist es sehr zu empfehlen und partiell äußerst amüsant, sich mit Alfred Pfabigan auf die faszinierende Reise durch den Bernhard’schen Kosmos zu begeben. Pfabigan räumt in seiner Monografie „Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment“ auf mit zahlreichen Bernhard-Mythen, die die Forschung beherrschten und sich auch heute immer noch hartnäckig halten. Seine erschreckende Bilanz: „Wir haben derzeit kaum unverstelltes, authentisches Material für eine denkbare ‚Analyse‘ des Thomas Bernhard.“

Pfabigan scheut sich nicht, gewisse Bernhard-Leser mit unverbindlich konsumierenden Talk-Show-Zuschauern zu vergleichen. Wir sind Bernhard? Wohl kaum. Pfabigan plädiert für ein „Einlassen“ auf den österreichischen Autor, das eine gewisse Distanz wahrt und nicht in ein Verhältnis „klebriger Intimität“ übergeht: „Lektüre mit Handschuhen“ sozusagen, um „vorschnelle Intimisierungsstrategien“ zu vermeiden.

Zu den einschüchternden und bis heute „unkaputtbaren“ Säulen des sogenannten „Bernhard-Konformismus“ zählen laut Pfabigan die Zentrierung auf die Bernhard’schen „Übertreibungen“, ganz besonders die proklamierte „Ein-Buch-These“, die Übernahme des zeitweiligen Selbstbildes Bernhards vom „Geschichtenzerstörer“, die Identifikation der Bernhard’schen Figuren mit dem Autor selbst sowie die allgegenwärtige Dominanz des Traumas. In der Bernhard-Welt ereigneten sich wie im Märchen grelle, widersprüchliche, bizarre Vorkommnisse. Die Rezeption schwanke zwischen „einzigartiger Negativität“ oder dem „Humoristen Bernhard“. Pfabigan zufolge eine schwerwiegende Interpretationsfalle: Die Figuren der Bernhard-Welt seien nicht so einseitig gestrickt, wie bisher angenommen. Sie seien ambivalent, „wenn auch viele von ihnen diese Ambivalenz hinter eindeutigen Artikulationen“ verbergen würden. Vorsicht sei geboten: Wiederholung und Veränderung koexistierten in raffinierter Weise.

Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen, die selbst als ein Experiment gedeutet werden können, stehen die Prosatexte Bernhards, die Pfabigan in einen ersten „chthonischen“ („Frost“, „Verstörung“, „Ungenach“ und „Korrektur“) und einen zweiten „apollinischen“ Werkblock bestehend aus „Der Untergeher“, „Holzfällen“, „Alte Meister“ und „Auslöschung“ einteilt. Pfabigan startet den Versuch einer Neustrukturierung der Bernhard-Lektüre, die die raffinierten Verschachtelungen der Zeitebenen aufzulösen sucht. Der „Gesamttext“ bilde eine Entwicklung ab, in deren Verlauf nach einem von den Bernhard’schen Figuren ‚trail and error‘-Verfahren Probleme benannt und ‚Lösungen‘ gefunden würden. Pfabigan legt eine Art Bernhard’schen „Baukasten“ aus Figuren, sozialen Konstellationen und Konflikten frei, aus dem Bernhard seine epischen Werke zusammensetze. Der „Gesamttext“ als solcher gelesen, begünstige eine spekulative neue Sichtweise auf die Bernhard-Welt, die rückblickend auf einmal wie ein von langer Hand geplantes Literaturunternehmen wirke.

Pfabigan legt die verborgen gebliebenen Lebenslinien der Bernhard’schen Figuren frei und zeichnet ihre Wege chronologisch nach. Er eröffnet Zusammenhänge zu anderen Helden Bernhards und spinnt ein Netz der Verknüpfungen, macht das Bernhard’sche Labyrinth mit Hilfe von mythologischen Analogien, wie Apollon und Dionysos, begehbar. Auch für den Bernhard-Rezipienten gilt „Gehen“ als ein „Antidepressivum“. So passiert es, dass Pfabigan den Maler Strauch aus „Verstörung“ mal eben in die Klosterneuburgerstraße zu Karrer aus „Gehen“ versetzt, um die Zusammenhänge zwischen den Variationen Bernhard’scher Geistesmenschen zu verdeutlichen. Oder er prophezeit, dass wir die unzähligen Papiere des Arztes aus „Watten“ „in fragmentierter und zu Tode korrigierter Weise in ‚Korrektur‘ und vollendet in ‚Auslöschung‘“ lesen werden.

Neben dem die Lebenslinien der Protagonisten nachzeichnenden Ansatz richtet Pfabigan auch einen architektonischen Blick auf das Gesamtwerk: Ein wiederkehrendes Moment des verschriftlichten „Weltexperiments“ ist die detaillierte Betrachtung und Analyse der Gebäudekomplexe und Räumlichkeiten, die Bernhards Werk beherrschen: vom Turm zum Schloss über den Kegel hin zum alles überschattenden „Denkkerker“. Einziger Ausweg: wie Murau „Italiener“ werden.

Wir begleiten Pfabigan bei der Beschreitung der „Irrfahrt“ durch die Bernhard-Welt, werden erschüttert von dem „Road-Movie“ „Verstörung“, erfrischen uns an dem lebensrettenden Männerbund in „Watten“, machen einen Zwischenstopp an der Schnittstelle „Korrektur“, bis hin nach Rom als Endziel unserer Reise. Bernhards Spätwerk „Auslöschung“ ist als Lösungs- und Endpunkt in Pfabigans Analysen durchgehend präsent. Von ihm aus und zu ihm hin entwickle sich der Bernhard’sche Kosmos. Man könnte Pfabigan den Vorwurf des Zurechtbiegens auf einen vorausgesetzten Endpunkt machen, jedoch räumt er selbst ein, dass „das Entwicklungsprinzip der Bernhard-Welt kein mechanistisches sei“. Pfabigan bleibt der Architektur des „Gesamttextes“ treu, führt im zweiten Teil seines „österreichischen Weltexperiments“ eine notwendige Unterscheidung zwischen Geistesmenschen vor und nach Murau ein: „All die unglücklichen Konrads, Kollers und Karrers, die wir nun kennenlernen werden, praktizieren nur Teile von Muraus Lösung – gemessen an den Standards, die der Fürst gesetzt hat, sind sie ‚fragmentierte Geistesmenschen‘.“

Immer wieder amüsant sind Pfabigans Einsprengsel von Ausrufen, die in ihrer humoristischen Art auf wichtige Motive der Bernhard-Welt hinweisen und den Leser auf seiner Fahrt bei Laune halten: „(oh, diese Passion der Bernhard-Protagonisten für die Textilien Verstorbener!)“. Pfabigan konstatiert der Bernhard-Welt Entwicklungsfähigkeit und Nuanciertheit, die ihr bis heute meist abgesprochen wurde. Es lohnt sich, einen Platz im Pfabigan’schen Zugabteil zu buchen und sich auf die Reise durch die Bernhard-Welt zu begeben. Der letzte Satz wird sein: „Denn [Thomas Bernhard ] war unser.“

Titelbild

Alfred Pfabigan: Thomas Bernhard.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999.
450 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3552049215

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch