Hans Magnus Enzensberger und die Sichtbarkeit des Autor-Übersetzers

Im Fall der Lyrikübersetzung ist jene Konstellation von besonderem Interesse, in der ein Autor und ein Übersetzer in einer Person zusammenkommen. Hans Magnus Enzensberger ist ein solcher Autor-Übersetzer

Von Claus TelgeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus Telge

Für Hans Magnus Enzensberger ist das Übersetzen, wie er in „Geisterstimmen – Übersetzungen und Imitationen“ (1999) schreibt, schon immer eine „Passion“ gewesen, die wenig mit der Lohnarbeit des beruflichen Sprachmittlers gemein hat. Übersetzen heißt, Einblick in die Machart eines Textes zu bekommen. Es offenbart seine „wunderbaren Erfindungen und die heimlichen Mängel, die Zaubertricks und die Marotten, die technischen Höhenflüge und die blinden Stellen“.

Diese praktische sowie überaus eindringliche Form der kreativen Text- und Schreibkritik versetzt den Autor-Übersetzer in die Rolle eines „brüderlichen Egoisten“, der seine „Opfer“ gezielt nach den eigenen Präferenzen auswählt. Raul Schrott spinnt diesen Gedanken in seinem Übersetzerporträt Enzensbergers, verfasst für die Zeitschrift „Du“ vom September 1999, weiter: Übersetzen ist immer Sprachbereicherung. Man übersetzt, um „sich einer Tradition zu versichern oder einer Gegenwart. Um über diese Ausgriffe den Mittelpunkt einer eigenen Ästhetik zu bestimmen. Um den Vorrat an Metaphern wieder aufzufüllen.“

Umgekehrt bedeutet dies aber, dass in der Übersetzung auch die „Marotten“ des Autor-Übersetzers verzeichnet sind, der sich in die Übersetzung mit einschreibt. Es entsteht ein Beziehungsgeflecht aus Text, Fremdtext und eigener Ästhetik, das sich sowohl aus der Korrespondenz zwischen Original und Übersetzung als auch der Korrespondenz zwischen Übersetzung und poetischem Schreiben des Autor-Übersetzers speist. Armin Paul Frank (1993) hat diesen dialogischen Prozess, als die Öffnung eines „Grenzbereichs zwischen Übersetzung und Poetologie“ beschrieben.

Für eine Erkundung dieses Grenzbereichs lohnt es sich, Schrotts und Enzensbergers Gespräch „Mutmaßungen über die Poesie“ (1999) zu folgen. Beide teilen die Auffassung, dass das wesentliche Kriterium einer Autor-Übersetzer Übersetzung ihre Lebendigkeit ist. Demgegenüber sehen sie die philologische Übersetzung, die zwar notwendig und in der Regel durchaus akkurat, aber in ihrer Beschaffenheit letztlich leblos sei und keinen Anklang in einer breiten Leserschaft finde. Oder wie Enzensberger es bereits im „Museum der modernen Poesie“ (1960) ausdrückt: „was nicht selber Poesie ist, kann nicht Übersetzung sein“. Er befürchtet, dass eine Überfrachtung mit vermeintlichen philologischen Standards, dass zu übersetzende Gedicht in der Bewegung zwischen den Sprachen „erdrosselt“. Um dem Vorzubeugen, braucht es oft einen „Dichter“, der, neben den im günstigsten Fall vorhandenen Kenntnissen der Sprache, aus der er übersetzt, über eine spezielle Sensibilität für die Sprache verfügt, in die er übersetzt. Denn gelangt Dichtung in Übersetzung erst mit erheblicher Redundanz in einen anderen literarischen Diskurs, so liegt der Grund in vielen Fällen darin, dass noch keine Sprache dafür existiert. In der Regel muss diese erst ein Autor-Übersetzer erschaffen. Übersetzung ist kein reproduktiver, dem literarischen Schreiben untergeordneter Akt. Welchen Stellenwert die Übersetzungen einnehmen, zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass in der Erstausgabe des „Museums“ das Original jeweils klein gedruckt neben der Übersetzung steht. Ein Verfahren, das Joachim Sartorius in seinem „Atlas der modernen Poesie“ (1995) übernimmt.

Mit den Autor-Übersetzern unter den insgesamt 65 Übersetzern versammelt Enzensberger „fast alle bedeutenden poetischen Begabungen, die es zur Stunde in Deutschland gibt“. Explizit nennt er Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried, Helmut Heißenbüttel, Stephan Hermlin, Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow und Nelly Sachs. Die Texte dieser Ansammlung von Autor-Übersetzer Übersetzungen sollen hier mit dem von Lawrence Venuti (2010) verwendeten Begriff der „Poet’s Versions“ gefasst werden. Das Genre der „Dichterversionen“ kennzeichnet ein besonders eigenwilliger Umgang des Übersetzers mit dem de- und rekontextualisieren der Zeichen seines Ausgangsmaterials. Die Texte, die dabei entstehen, können Übersetzung aber auch Imitation oder Adaption sein oder alle diese Formen der Intertextualiät miteinander vereinen, sie aber auch von Zeile zu Zeile nach Belieben abstreifen und wieder neu aufnehmen. So legte etwa Ezra Pound mit „Cathay“ (1915, altenglisch für China) eine faszinierende Übersetzung aus dem Chinesischen vor, ohne jegliche Kenntnisse dieser Sprache. Er verließ sich ganz auf eine von ihm entwickelte imaginistische Methode, mit der er Form und Inhalt der Gedichte durch die für ihn piktografisch erscheinende Beschaffenheit der chinesischen Sprache erschloss. Auch wenn Pound in der Übersetzung von Eva Hesse im „Museum der modernen Poesie“ vertreten ist, wäre er wohl mit einem solchen Vorhaben an Enzensbergers Auswahlverfahren gescheitert. Denn – und hierfür steht es bis heute unter dem Vorwurf des Eurozentrismus – japanische und chinesische Poesie findet keinen Eingang in das „Museum“, da die „verschiedenen Sprachstrukturen“ eine derartige „Interferenz“ aufweisen, die eine Beurteilung der Übersetzung unmöglich macht. Letztlich beeinflussen drei Kriterien die Auswahl der Gedichte. Zuerst stehen sicherlich Enzensbergers rein subjektive Entscheidungen, die ein anthologisches Verfahren immer mit sich bringt. Zweitens verlangt er von den Autoren einschlägige internationale Rezeption und drittens das Vorhandensein „brauchbarer Übersetzung“, ohne die die „Weltsprache der modernen Poesie“ gar nicht zu denken ist. Hier sticht eine deutliche Vorliebe für die Dichterversionen ins Auge. Unter den Autor-Übersetzern des „Museums“ befindet sich ja außerdem eine nicht minder poetische Begabung, nämlich der Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der sich überaus zahlreich am Akt der Sprachschöpfung für die zu übersetzenden Texte beteiligt. Er übersetzt unter anderem Rafael Alberti, Luis Cernuda, E. E. Cummings, T. S. Eliot, Miguel Hernández, Octavio Paz, Charles Simic, Wallace Stevens, César Vallejo und William Carlos Williams.

Sein erstes Opfer

In der chilenischen Ikone Pablo Neruda findet der junge Autor-Übersetzer sein erstes „Opfer“. Die Ausbeute dieser Begegnung wird 1955 in Alfred Anderschs Zeitschrift „Texte und Zeichen“ veröffentlicht, begleitet von dem Essay „Der Fall Pablo Neruda“. Neben den zwei Gedichten „lock lied“ und „erinnerungen an die schrecken der jugend“ in Hans Benders und Walter Höllerers „Akzente“ ist dies Enzensbergers erster Schritt in die literarische Öffentlichkeit der BRD. Das ethische Einfordern Lawrence Venutis (1995) nach der Sichtbarmachung und Stärkung der Position des Übersetzers, um dadurch einer kulturellen Domestizierung und sprachlichen Glättung von Fremdtexten entgegen zu wirken, erscheint hier im Kontext der Autor-Übersetzer Übersetzung in einem anderen Licht. Zunächst besitzt der Autor-Übersetzer in vielen Fällen ohnehin ein höheres Maß an Sichtbarkeit, sowohl auf textueller als auch kontextueller Ebene, als der Berufsübersetzer. Im Fall des jungen Hans Magnus Enzensberger verhält es sich sogar so, dass weniger der Autor als der Autor-Übersetzer über den Akt der Übersetzung an Sichtbarkeit gewinnt. Jeder Autor, so Enzensberger in den „Mutmaßungen über die Poesie“, muss sich sein Publikum auch immer selbst erschaffen. Stellt man diese Aussage neben seine Ausführungen zum Autor-Übersetzer im „Museum“, verlangt die Übersetzung nicht nur das Erschaffen einer eigenen Sprache, sondern auch die Erfindung ihres Kontextes. Der Autor-Übersetzer wird zu einem Agenten des übersetzten Autors und sich selbst und verhilft dem Text so zu seiner Lebendigkeit.

„Der Fall Pablo Neruda“ kann als ein Einblick in die Werkstatt des Autor-Übersetzers Enzensberger gelesen werden. In seiner Untersuchung zur Autorinszenierung von Enzensberger weist Ludwig Fischer (2001) auf die imposante Wirkung dieses weltliterarischen Ausgriffs des noch unbekannten Promovenden hin. Gleich im ersten Satz klagt dieser einen verbreiteten „europäischen Provinzialismus“ an, der den Blick auf die „iberischen Stimmen Amerikas“ verstellt. Was dann im Anschluss als eine Einführung in die Dichtung Nerudas beginnt, wird immer mehr zu einer literarisch-ästhetischen Bestimmung des Verhältnisses von „poésie pure“ und „poésie engagée“ am Beispiel des chilenischen Autors. Für dessen „Residencia en la tierra“ ist sein Übersetzer voller Bewunderung, sieht er darin doch einen Ausweg aus dieser engstirnigen Dichotomie, die für sein essayistisches Schreiben – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Adornos Auffassung von Lyrik und ihrer gesellschaftlichen Funktion – in den 1950er- und 1960er-Jahren weiterhin beschäftigen soll (Charlotte Ann Melin, 2004). „Der Fall Pablo Neruda“ diagnostiziert jedoch einen eklatanten Bruch im lyrischen Werk Nerudas, festgemacht an dessen Versepos „Der Große Gesang“. Enzensberger erkennt zwar dessen literarische Qualität, sieht ihn aber abdriften in die „poésie engagée“, was letztlich in „hymnische[n] Anrufungen Stalins“ mündet. Dennoch signalisiert er durchaus Verständnis für Nerudas politische Wandlung, begründet in dessen Politisierung im Spanischen Bürgerkrieg und in seinem Heimatland. Er beschreibt seinen Gang vom Senator der Kommunistischen Partei Chiles zur literarischen Ikone des internationalen Kommunismus und entwickelt daraus eine Debatte, die zugleich die europäischen Intellektuellen zutiefst betrifft, da sie größtenteils von einer Symbiose von Marxismus und Romantik im Dienste der kommunistischen Revolution träumten. Und hier liegt auch der Kern des sozusagen „exemplarischen“ Falls Neruda. Am Ende des Essays sehnt sich Enzensberger einen Dichtertypus herbei, der „nicht die Poesie zur Magd der Poesie, sondern die Politik zur Magd der Poesie […] macht“. Ein „Dichtertypus“, den sich der Autor-Übersetzer bald darauf anschickt mit seinem Debüt „Die Verteidigung der Wölfe“ (1957) zu verkörpern.

Enzensbergers Bewunderung für Nerudas frühe „Dichtkunst“ liegt dessen „entschiedene Negation aller poésie pure“ zugrunde. Er belegt dies mit dem Verweis auf Nerudas berühmtes Manifest „Sobre una poesía sin pureza“ (1935), das den Ursprung aller Dichtung im Begriff der „Unreinheit“ verortet und zitiert über eine halbe Seite aus seiner Übersetzung, voller Anteilnahme für eine Poesie, die nach „Urin und nach weißen Lilien riecht“. Hierfür konstruiert er das Genre der „poésie impure“. Seine eigenwillige Wahl der Übersetzung von „sin pureza“ und „poesía impura“ mit „poésie impure“ ins Französische verortet „Residencia en la tierra“ daher in dem von ihm mit initiierten Diskurs über „poésie pure“ und „poésie engagée“.

Der Autor-Übersetzer Enzensberger unternimmt hier eine Rekontextualisierung der Gedichte Nerudas. Diese betrifft nicht nur die Gedichte aus „Residencia en la tierra“, sondern auch die Debatte, die Neruda in seinem Umfeld um Federico García Lorca, Vicente Aleixandre und Raphael Albertí in der Zeitschrift „Caballo verde para la poesía“ – in der auch „Sobre una poesía sin pureza“ erscheint – initiiert: wie kann politisches und poetisches im Gedicht ins Gleichgewicht gebracht werden, ohne Verzicht auf die intensive und dunkle Bildlichkeit der Symbolisten und Surrealisten?

Überblendungen

Diese Debatte findet sich am Anfang des „Museums der modernen Poesie“ im ersten Abschnitt „Augenblicke“ wieder. Das „Museum“ beginnt mit Ingeborg Bachmanns Übersetzung von Guiseppe Ungarettis „Mattina“ („Morgen“), ein Wahrnehmungsgedicht über das Überwältigt-sein des poetischen Moments. Darauf folgt Juan Ramón Jiménez mit „Ich entblätterte dich“ („Te deshojé“) und Pablo Neruda „Ein Tag ragt hervor“ („Un día sobresale“). Genau jener Jiménez, seines Zeichens Vertreter der spanischen „poesía pura“, der Neruda mit vernichtenden Kritiken und Anfeindungen überzog und dem die Bildlichkeit der „Misthaufen“ und „Abflussrohre“ von „Residencia en la tierra“ zuwider war, ein Urteil, das er später revidierte.

Nerudas „Sobre una poesía sin pureza“ kann auch als Reaktion auf Jiménez gelesen werden. Christoph Rodiek (1997) sieht in diesen Textmontagen ein intertextuelles Beziehungsgeflecht, das einerseits einen Dialog zwischen den einzelnen Texten und ihren Übersetzungen eröffnet und andererseits transkulturelle Vergleiche ermöglicht, allerdings immer unter dem Vorzeichen einer „poetischen Weltsprache“. Eigentlich der perfekte Ort für die Platzierung von Enzensbergers Übersetzungen, möchte man meinen. Alle Übersetzungen Nerudas im „Museum der Modernen Poesie“ stammen allerdings von einem anderen Autor-Übersetzer, nämlich Erich Arendt, Vermittler der spanischsprachigen Moderne im literarischen Feld der DDR. Arendt hatte 1953 den „Canto General“ des Stalinpreisträgers für Volk und Welt ins Deutsche übersetzt. Eine „verlässliche“ Übersetzung, so Enzensbergers Urteil in „Der Fall Pablo Neruda“. Arendts Übersetzung des von Enzensberger so hochgeschätzten „Aufenthalt auf Erden“, erscheint indes 1960 beim westdeutschen Verlag Claasen in Hamburg. Ein Briefwechsel zwischen Arendt und Enzensberger dokumentiert, dass Arendt den Anspruch erhebt, alleiniger Übersetzer Nerudas zu sein. Umso mehr ist er darüber erbost, dass Enzensberger einen Vertragsentwurf an Neruda schickt, indem er sich als autorisierter Übersetzer ausgibt. Es liegt daher nahe, dass, Stefan Wieczorek (2004) zu Folge, die Rechtslage es Enzensberger untersagt hat, seine Übersetzungen, die ja vereinzelt bereits in „Texte und Zeichen“ erschienen waren, für das „Museum“ zu verwenden.

Für Arendt ist bei der Übersetzung Nerudas die Vermeidung eines „Versachlichen seines Stils […] zu einer aus einer technischen Zivilisation stammenden Modernität“ (1963) unerlässlich. Dies führt im „Museum“ dazu, dass das Spannungsverhältnis zwischen Jiménez und Neruda sich nicht in Gänze entfalten kann. In der Tat wirkt Arendts Übersetzung von „Ein Tag ragt hervor“ einer sprachlichen Gegenwärtigkeit entgegen. So übersetzt er die erste Zeile „De lo sonoro salen números“ mit „Aus des Ursprungs Erklingen gehen Zahlen hervor.“ Hier zeigt sich in der Hinzusetzung des sächsischen Genitivs eine überhöhte Ästhetisierung der Sprache. Das Ergänzen des „Ursprungs“ in der Übersetzung verleiht dem „Klingen“ eine archaische Konnotation, die sich so durch das gesamte Gedicht zieht.

Karl-Heinz Barck (1974) bemerkt, Arendt habe „an den Hölderlinschen Pindar-Übersetzungen […] die Möglichkeit einer Erweiterung der Grenzen der deutschen Sprache studiert“, was vor allem die Inversion betrifft: „Die Vokale versinken, als Blüten niederfällt das Weinen („Las vocales se inundan, el llanto cae en pétalos“). Mit der siebten Strophe „[a]us dem Schweigen steigt die Seele auf / mit augenblicklichen Rosen / und in der Tagesfrühe entblättert sie / und ertrinkt, erdgewandten Gesichts, im tönenden Licht“ findet sich sogar ein intertextueller Bezug zur sakralen Schönheit des Augenblicks bei Jiménez: „Ich entblätterte Dich wie eine Rose, um deine Seele zu erblicken.“ Auch wenn die Rose hier im Kontrast zu Jiménez Schönheit und Schmerz vereint und vom „Kot“ und „Schmutz“ der „poesía sin pureza“ befleckt ist, atmet das übersetzte Gedicht doch eher den „Geruch des weißen Flieders“ als des „Urins“. Arendt entrückt die Sprache seiner Übersetzung in eine Überzeitlichkeit, die die Differenz zu einer „sachlichen Modernität“ zu bewahren sucht, begründet in einer mythischen Wahrnehmung von Zeit und Raum, die auch in seinen „Flug-Oden“ (1957) vorherrscht. Er sieht in Neruda eine Art idealtypische Verbindung von politischem Gedicht und ästhetischem Kunstwerk, die er aber – im Gegensatz zu Enzensberger – im „Großen Gesang“ in ihrer Vollendung vorfindet. Dort, so Arendt, wo Neruda „in der Gegenwartsthematik“ nur „poète engagé“ ist, „verlieren manche Strophen an Dichte, sind sie nicht Zeugnis seines dichterischen Schaffens“.

Raul Schrott attestiert einem solchen Verfahren abschätzig etwas „pseudoreligiöses“ und sieht in Enzensbergers Übersetzungen den Versuch, unmittelbar nichts als „Sprache zu sein“, ohne jeglichen Gestus von „Totalität oder Immortalität“. Substituieren wir also nun Arendts „Ein Tag ragt hervor“ mit Enzensbergers Übersetzung „Ein Tag tritt hervor“. Sie erscheint 1968 in dem Band „Poésie impure“, eine Sammlung von Gedichten Nerudas, ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Hans Magnus Enzensberger. Hier zeigt sich erneut die programmatische Bedeutung, die er dieser Begrifflichkeit 1955 beigemessen hat und die 1968 nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat. Der Klappentext erläutert, dass „poésie impure“ „etwas anderes als der Gegensatz zum ästhetischen Begriff der „poésie pure“ meint, nämlich die Alltäglichkeit der Dinge, von denen „diese Dichtung redet“. Vor allem meint der Begriff nicht „poésie engagée“. Ebenso nimmt die beigefügte Erläuterung Stellung zum Verhältnis von Autor und Autor-Übersetzer: „Die Gegenüberstellung offenbart Gleichstimmigkeit, Gleichgewichtigkeit – die Übersetzung ist nicht sekundär, der deutsche Poet gibt dem chilenischen, der jüngere dem älteren nicht nach.“ In seinem Nachwort macht Enzensberger die zentrale Metapher Nerudas aus: „[e]l roto“. Eine Metapher des „Schmutzes, der verrotteten, verbrauchten […] Dinge“. Besonders angetan ist er vom rhythmisierenden „Tonfall“ der Gedichte, ständig im Wechsel befindend zwischen vermeintlichen Banalitäten und feierlichem Gesang.

Enzensberger übersetzt die erste Zeile von „Ein Tag tritt hervor“ mit „[a]us dem Gebraus treten Nummern, / sterbende Nummern hervor“. Auch er spürt in „sonoro“ nicht nur einen Hall, sondern ein schöpferisches „Gebraus“, dessen Resonanz im Gedicht stets diesen anarchischen Gestus beibehält und nie in Klängen oder als Klingen vernehmbar ist, sondern sich als brausender „Schall“ ausbreitet, in dem die „Vokale“ nicht „versinken“, sondern untergehen. Werden „gargantas anegadas“ bei Arendt zu „wasserfüllte[n] Kehlen“, sind sie bei Enzensberger „ersäufte Gurgeln“. Ferner findet Enzensberger in „Ein Tag tritt hervor“ die von ihm als zentral angesehene Metapher Nerudas: „Sieh, wie der Rost seine Lider hebt“ („Ved cómo se levantan los párpados del moho“). Arendt behält zwar, im Gegensatz zu Enzensberger, den Plural bei, wählt aber anstelle von Rost eine rein klanglich orientierte Variante, in der die elementare Landschaft nicht durch die Einwirkungen des korrodierenden Metalls getrübt wird: „Seht, wie sich die Augenlieder des Mooses heben“. Enzensbergers Übersetzung öffnet sich der Dunkelheit des profanen und elementaren in „Un día sobresale“, durch einen Sog sprachlicher Unmittelbarkeit, die diametral zu Arendts mythischen Evokationen verläuft. Im Sinne von Enzensbergers „poésie impure“ hätte „Ein Tag tritt hervor“ im „Museum der modernen Poesie“ einen weitaus stärkeren Kontrapunkt zu Ungaretti und Jiménez gesetzt. Insbesondere die intertextuelle Referenz auf Jiménez käme so gar nicht zu Stande, denn Enzensberger übersetzt „[d]esde el silencio sube el alma / con rosas instantáneas, / y en la mañana del día se desploma, / y se ahoga de bruces en la luz que suena“ schlicht mit „[die] Seele steigt auf aus dem Schweigen / mit plötzlichen Rosen / und lässt sich fallen in die Morgenfrühe des Tages, / und ertrinkt, zusammenkauert, / im rauschenden Licht“. Die Seele „entblättert“ sich nicht, sie „lässt sich fallen“, deutlich näher an der sinkenden Bewegung von „se desploma“, und sie tut es „zusammengekauert“ und nicht „erdgewandten Gesichts“. Die Übersetzung wohnt stets der jetztzeitigen Augenblicklichkeit der Substanzen bei, nicht ihrem mythischen Selbstbezug.

Enzensberger gesteht im Nachwort von „Poésie impure“ freimütig, dass er sich für die Texte entschieden hat, an denen er „am meisten gelernt und gewonnen habe“. Die Textauswahl folgt der Anordnung von „Residencia en la tierra“ nicht. Dies sei seine Form des Dankes an einen Dichter, ohne den er die „eigene Arbeit nicht denken könne“. In „Geisterstimmen – Übersetzungen und Imitationen“ beschreibt Enzensberger, dass man am übersetzerischen Werk eines Autors, das heißt an der Wahl seiner Opfer, „vielleicht sogar ein Selbstportrait eines Dichters erblicken kann“. Ein solches Selbstporträt wird, wenngleich nicht im biografischen Sinne, in der Spiegelung von Autor-Übersetzer und Übersetzung und übersetztem Autor in einem intertextuellen und transkulturellen Grenzbereich sichtbar.