Erzählen gegen den Tod

Eine Autobiographie von Edward W. Said

Von Martin EbelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturwissenschaftler Edward W. Said (er lehrt an der Columbia University in New York) ist eine angesehene Stimme Palästinas, vielleicht die angesehenste. Als Intellektueller, der nach eigenem Anspruch Redlichkeit immerüber "Stammesloyalität" stellt, hat er sich immer wieder zwischendie Stühle gesetzt. So gehörte er zu den heftigsten Kritikern des Osloer Friedensabkommens, weil darin die Ansprüche der palästinensischen Flüchtlinge nicht berücksichtigt waren.Andererseits geißelt er, der früher dem Palästinensischen Nationalrat angehörte und Berater von Yassir Arafat war, jetzt Korruption und Machtmissbrauch der PLO und kämpft für einedemokratische Erneuerung. Nicht am Verlorenen kleben und von Unmöglichemträumen sollten seine Landsleute, sondern Israel als Herausforderung begreifen, sich seine Effizienz als Vorbildnehmen. Den Israelis - und dem Westen - wiederum wirft er vor, die Tragödie der Palästinenser zu verdrängen und beharrt darauf, dass die Existenz des Judenstaats "auf den Grabsteinen eineranderen Gesellschaft" ruht. Für die Massenflucht in Folge des Krieges von 1948 gebraucht er gar den Begriff "ethnischeSäuberung". Said hat aber auch im vergangenen Jahr in Weimar zusammen mit Daniel Barenboim ein israelisch-arabisches Musikertreffen organisiert, wie um zu zeigen, dass man Stühleauch zusammenrücken kann.

Im vergangenen Herbst hat das konservative jüdische Monatsmagazin "Commentary" versucht, diese unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen: indem es sie diskreditierte.Said, so schrieb der amerikanische Journalist Justus Weiner nach ausgiebigen Recherchen, sei gar nicht, wie immer behauptet, ein palästinensischer Flüchtling, sondern in luxuriösen Verhältnissen in Kairo aufgewachsen. Saids Replik: Er habe nie behauptet, selbst vertrieben worden zu sein, sondern immer vom Leiden seines Volkes gesprochen. Ihm dieses Recht und seine Positionmit Verweis auf seine Herkunft zu bestreiten, ist in der Tatungefähr so sinnvoll wie der Vorwurf an Marx und Lenin, keineProletarier zu sein.

Die beste Antwort auf das "Commentary"-Manöver istallerdings Saids Autobiographie, die 1999 in den USA erschienund in diesen Tagen auf den deutschen Markt kommt. IhreAbfassung geschah nicht, wie Weiner behauptete, um ihm denWind aus den Segeln zu nehmen, sondern als Reaktion auf einemedizinische Diagnose. Said leidet an Leukämie. Der Blickzurück auf Kindheit und Jugend, die Rekonstruktion der eigenenIdentität begreift er als Teil seines Kampfes gegen dieheimtückische Krankheit. Erzählen gegen den Tod: Das ist eineSheherazade-Situation, die ja auch den Engländer AnthonyBurgess zum Schriftsteller gemacht hat.

Und Said, der Literaturwissenschaftler, der scharfsinnige Analytiker, der Dekonstrukteur von Mythen und Stereotypen, erweist sich als ein grandioser Erzähler. Man muss nicht gleich, wie Salman Rushdie in einer enthusiastischen Rezension, Proust, Balzac oder Joseph Conrad zum Vergleich heranziehen, um zu erkennen, dass "Out of Place", auf deutsch "Am falschen Ort", zu den bemerkenswertesten Autobiographien gehört, die inden letzten Jahrzehnten erschienen sind.

Die erste Überraschung bei der Lektüre: Um Politik geht es nicht. Als homo politicus ist Said zugegebenermaßen ein Spätberufener, und er versucht hier keineswegs, sein Engagement für die Palästinenser biographisch zu unterfüttern. Im Zentrum seiner Erinnerungen steht vielmehr eine äußerst komplizierte Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung. Die ist natürlich von den geographischen, historischen und sozialen Voraussetzungen nicht zu lösen. Said wurde 1935 in Jerusalem geboren, wohin er später auch öfter zu Ferienaufenthalten zurückkehrte und sogar einmal kurz zur Schule ging; aufgewachsen ist er jedoch in Kairo, wo sein Vater ein florierendes Unternehmen betrieb, das den ganzen vorderen Orient mit Papierwaren und Büromaschinen versorgte. Die Vorfahren des Vaters (auch die der Mutter) stammen aus Nazareth; den Vater selbst, einen Veteranen des Esten Weltkrieges, hatte es zehn Jahre in die USA verschlagen, von wo er mit amerikanischem Pass und dem Leitbild eines selfmademan zurückkehrte. Komplizierte Verhältnisse: Edward wächst als Sohn eines christlichen Palästinensers, als amerikanischer Staatsbürger, in luxuriösen und von der Umwelt streng abgeschotteten Verhältnissen in Kairo auf. Er hat keine Muttersprache, sondern zwei: englisch und arabisch. In den Schulen, die er besucht, gilt er als Exot, ja als Außenseiter; nirgendwo passt er richtig hin: weder zu den kleinen ägyptischen Muslimen noch später zu den amerikanischen Highschool-Boys im Internat von Mount Hermon.

Viel verstörender auf die Psyche des jungen Edward wirkt sich aber der zutiefst ambivalente Einfluss der beiden Eltern aus. Die Signale, die von ihnen ausgehen, sind auf unentwirrbare Weise widersprüchlich. Die Mutter strahlt Wärme und Zuneigung aus, aber auch starke negative Impulse: "Zwischen ihrem stärkenden, sonnigen Lächeln und ihrem kalten Unmut oder ihrer anhaltenden, abweisenden Missbilligung lebte ich als Kind zugleich glücklich und hoffnungslos elend, niemals nur das eine oder das andere." Der Vater wiederum "verkörperte eine verheerende Kombination aus Macht und Autorität, rationalistischer Disziplin und unterdrückten Gefühlen". Hinter seiner Leistungsethik, seiner steten Forderung, "sein Bestes zu geben" und "niemals aufzugeben", verbirgt sich eine tiefe Lebensangst, die sich in einem Nervenzusammenbruch und Depressionen entlädt - und, was den Sohn betrifft, in einem Erziehungsprogramm, das unweigerlich einen schweren Neurotiker hätte hervorbringen müssen, wenn sich nicht glücklicherweise die Lebenskräfte von Kindern manchmal doch als stärker erweisen als das, was man ihnen antut. Edward wird einem rigorosen Regiment unterworfen. Jede Minute wird verplant, jede Regung, ja jeder Körperteil wird kontrolliert, kritisiert, korrigiert. Weil er angeblich Plattfüße hat, muss er metallene Einlagen tragen. Zum Schutz des Magens wird ihm sommers wie winters eine wollene Decke um den Bauch gewickelt. Umgekehrt wird dem kurzsichtigen Schüler eine Brille verweigert, damit sich die Augen nicht "daran gewöhnen". "Mit zwölf wurde mir mitgeteilt, die zwischen meinen Beinen sprießenden Schamhaare seien nicht 'normal', was mein ohnehin extremes Unbehagen an mir selbst erst recht steigerte. Die heftigste Kritik betraf jedoch mein Gesicht und meine Zunge, meinen Rücken, die Brust, die Hände und den Bauch." Mehr nicht? möchte der halb amüsierte, halb entsetzte Leser hier fragen.

Noch dem Studenten, der gerade in Princeton sein Examen ablegt, kauft der Vater in einem orthopädischen Spezialgeschäft ein Korsett - und der Einundzwanzigjährige akzeptiert widerspruchslos diesen Übergriff, ebenso wie, in derselben Zeit, die väterlichen Prügel. Dass der Vater, dass beide Eltern ihre eigene Lebensangst auf den einzigen Sohn projizieren und mit ihrem grotesken, pseudowissenschaftlichen (und von allerlei Ärzten gestützten) Erziehungsdrill zu kompensieren versuchen: Das begreift das Opfer dieser Schikanen natürlich nicht. Für Edward steht nur fest, dass etwas, ja alles an ihm "falsch" sein muss, wenn er auf derart umfassende Art "umgebaut" werden soll.

Als Kind kann er nur mit einer Spaltung seiner noch unentwickelten Persönlichkeit reagieren: in "Edward", das Objekt der Umformungsbestrebungen, und ein "Ich", das chaotischen inneren Impulsen unterworfen ist und sich erst in einem mühsamen Prozess finden und behaupten kann. Der Autor dieser Autobiographie hat diesen Prozess erfolgreich abgeschlossen - unter anderem auch durch die am Schluss des Buches formulierte Erkenntnis, dass er eine labile und mobile Identität einer stabilen, aber auch starren vorzieht. Ein Zeichen dieses erfolgreichen Abschlusses, zugleich die menschlich stärkste Leistung dieses Buches ist die Fähigkeit, den Erziehungsterror nachzuerleben und zugleich sein Zustandekommen zu erklären, also die Perspektive des drangsalierten Kindes wie die der Eltern, die es auf so verheerende Weise "bloß gut meinen", einzunehmen. Said sitzt also auch hier auf beiden Stühlen. Literarisch erzielt er damit einen verblüffenden Effekt: Diese Autobiographie ist auch von enormer Komik. Der Vater, dieser bewunderte Erfolgsmensch, der geniale Kapitalist, ist zugleich voller liebenswerter Schwächen und Schrullen. Köstlich etwa die Schilderung seiner kläglichen Versuche, sich als Vogeljäger zu betätigen. Oder die Einkaufsgänge, bei denen er regelmäßig maßlose Bestellungen aufgibt (seine Frau wird das Gelieferte ebenso regelmäßig zurückschicken). Oder der theatralische Auftritt am Bett seines Sohnes, in dessen Pyjama er "keine Spur von feuchten Träumen" gefunden hat: Ein unwiderleglicher Beweis, dass er sich "selbst befleckt", was unweigerlich die prophezeiten schrecklichen Folgen (Haarausfall, Rückenmarksschwund, Schwachsinn) nach sich ziehen wird. Edward ist natürlich niedergeschmettert und akzeptiert ein Urteil, gegen das es keinen Einspruch gibt: "Ich befand mich bereits auf dem Weg ins Verderben, vielleicht gar zur Glatze." In solchen Sätzen von Woody-Allen-Format zeigt sich das versöhnliche, ja lebensrettende Potenzial des Humors: Er ist eine Form der Weisheit.

Titelbild

Edward W. Said: Am falschen Ort. Autobiografie. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
ca 350, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3827003431

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