Der Lyriker als Kosmopolit?
Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen Lyrik der 1980er-Jahre
Von Shuangzhi Li
Einleitung
Die chinesische moderne Lyrik hat in ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert zweimal große Welle der Rezeption von und Auseinandersetzung mit den fremden Einflüssen nicht zuletzt aus Europa erlebt. Dass sie auch jeweils den Zeitpunkt der Geburt und Wiedergeburt der chinesischen poetischen Modernität mitmarkiert, spricht freilich viel mehr als die zeitliche Parallelität aus. Die Suche nach einer von der gar hochartistischen konventionellen-klassischen Lyrik abgegrenzten modernen Sprache der Poesie hat von Anfang an, d.h. von dem berühmten polemischen Manifest „Über die literarische Revolution“ im Frühjahr 1917 an, auch den Anspruch der Weltpoesie für sich behauptet: „Von den hervorragenden Geistern in unserer Literatur, wer könnte sich als der chinesische Hugo, Zola, Goethe, Hauptmann, Dickens, Wilde rühmen?“ (Chen 1993). Der Wunsch auf die Anknüpfung an die europäische moderne Dichtung lässt sich teilweise bei den nachfolgenden Anstrengungen einer Bewegung der neuen Lyrik, die bis zu den 1940er-Jahren fortgesetzt wurde, realisieren. Besonders in der Anlehung an die Vorbilder des französischen und deutschen Symbolismus entwickeln zahlreiche wichtige Lyriker wie etwa Bian Zhilin, Liang Zongdei, Li Jinfa, Feng Zhi die ersten schönsten Beispiele der chinesischen modernen Lyrik, die ihrerseits einen Nachklang dieser weltweiten lyrischen Bewegung des Symbolismus im fernöstlichen Kulturraum ausmachen.
Während man in der ersten Entwicklungsphase der chinesischen modernen Lyrik einen Reiz-Reaktion Effekt im Zusammenhang der aufkommenden modernen Lyrik in der ganzen Welt beobachten kann, haben wir in den 1980er-Jahren eine ganz andere Situation. Anders ist zuerst die Zielscheibe der zweiten literarischen Revolution. Nicht mehr der tausendjährigen glorreichen und deshalb unterdrückenden lyrischen Tradition wollte man sich entziehen, sondern der ideologischen Instrumentalisierung der Poesie, die übrigens schon in den späten 1930er-Jahren keimte und nun in der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 den Gipfel erreicht hat. Und dies durch eine neue Öffnung für die poetische Welt jenseits der nationalen, kulturellen und ideologischen Grenze. Der entschiedene Abschied von einer nahezu kahlgeschlagenen Sprachwelt geht einher mit der erneuten Aufnahmbereitschaft für die Inspiration aus der nicht nur europäischen Lyrik, wo man glaubt, die authentische poetische Sprache und die neue poetologische Konzeption dadurch aufbauen zu können.
Ein anderer wichtiger und für unseren Zusammenhang noch interessanterer Unterschied zu der lyrischen Bewegung in den 1920er- und 1930er-Jahren besteht darin, dass die meisten chinesischen Lyriker zu dieser Zeit nicht wie ihre Vorgänger den direkten Kontakt mit der zeitgenössischen Lyrik der Welt durch ein Auslandsstudium oder persönliche Begegnung schaffen konnten, sondern nur durch die Lektüre der fremden Übersetzung einen imaginären Dialog mit nicht mehr zeitgenössischen Autoren zu führen versuchten. Einerseits greifen sie auf die längst bekannten Lyriker wie Hölderlin, Rilke und Baudelaire zurück, die mit neuen Übersetzungen wieder ins Blickfeld gerückt werden. Andererseits schenken sie auch zugleich den neu „entdeckten“ großen Lyriker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wie Osip Emilyevich Mandelstam, Federico Garcia Lorca und anderen Aufmerksamkeit.
Diese gleichsam anachronistische Beschäftigung mit der europäischen Lyrik prägt das Schreiben der Lyriker in den 1980er-Jahren sowohl im Stil als auch im Inhalt. Bezeichnend ist dabei die explizite Inszenierung und Gestaltung des Dialogs zwischen dem lyrischen Ich und seinem zuerkannten Vorgänger, Verbündeter, Geistverwandten. Darauf werde ich noch kommen.
Also hier geht es weniger um eine Integration in die gegenwärtigen Strömungen der Experimentlyrik seit den 1960er-Jahren oder der Alltagslyrik seit den 1970er-Jahren als um die Imagination einer gemeinsamen lyrischen Welt in der Poesie und durch die Poesie. Ohne an einer real existierenden Weltpoesie teilzunehmen zeigen die chinesischen Lyriker in den 1980er-Jahren desto mehr Pathos für eine erdichtete Verbindung mit der vermeintlichen Weltlyrik. Dahinter steht ein Selbstverständnis des Lyrikers als ein über jeglicher Trennung der Menschen stehender Erlesener, der gleichsam die Leiden der ganzen Menschheit auf sich nimmt und dadurch eine Gemeinschaft mit den seinigen bildet. Im folgenden werden am Beispiel drei der wichtigsten chinesischen Gegenwartslyriker die Bemühungen um diese poetische Welt und die Gemeinschaft der Weltlyrik nachgezeichnet, die zweifelsohne eine Besonderheit der chinesischen Stimme in der mittlerweile unübersehbaren Polyphonie der Weltsprache der Lyrik kennzeichnet.
Bei Daos „Antwort“ als Zeichen der Weltoffenheit
Die Antwort
Infam lautet das Passwort der Infamen,
Würde ist das Epitaph der Ehrwürdigen.
Schau, am vergoldeten Himmel
Treiben überall die gebogenen Schatten der Toten.
Die Eiszeit längst vorbei,
Warum herrscht überall noch das Eis?
Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt,
Warm messen sich im Toten Meer tausend Segel?
In diese Welt
Habe ich nur Papier, einen Stick und meinen Schatten mitgebracht,
Um vor den Richtern
Die Stimmen der Verurteilten zu verkünden:
Ich sage dir, Welt,
Ich – glaube – nicht!
Selbst wenn zu deinen Füßen tausend Herausforderer liegen,
Zähle mich als tausendundeins.
Ich glaube nicht an die Bläue des Himmels;
Ich glaube nicht an die Stimme des Donners;
Ich glaube nicht an die Falschheit von Träumen;
Ich glaube nicht an die Sühnelosigkeit des Todes.
Wenn es bestimmt ist, dass Meere die Dämme durchbrechen,
So lass alle Wasser der Bitternis in mein Herz hinein;
Wenn es bestimmt ist, dass Ufer sich erheben,
So lass die Menschheit ihrer Existenz neu einen Gipfel wählen.
Es ist der Schnittpunkt der Zeit und blitzende Sterne
Verschönen gerade den unblockierten Himmel,
Es sind fünftausend Jahre alte Piktogramme,
Es sind die Gestalt gewordenen Blicke künftiger Generationen.
(Beidao 1991)
Mit seinem erheblich leidenschaftlichen Ausruf „Ich-glaube-nicht“ eröffnete Bei Dao (Pseudoname für Zhao Zhenkai, geboren 1949) im Erscheinungsjahr des Gedichtes 1978 eine neue Epoche für die chinesische Lyrik, wo die Samidatlyrik seit den 1970er-Jahren mit dem Abschluss der Kulturrevolution und der Lockerung der Kontrolle in der Literatur und Kunst unter Deng in die Öffentlichkeit drängte und nunmehr mit dem Namen Menglong Shi (die hermetische Lyrik) ihre neue Formen und enorme Bekanntheit gewann. Typisch für diese Übergangsphase zwischen den totalitären 1970er-Jahren und den relativ liberalen 1980er-Jahren sind hier der rebellische Dichter-Heroismus, die immer noch kollektive Identität des lyrischen Ichs und der Gestus des zukunftversprechenden Propheten. Dies alles schon viel beredet und gedeutet. Eine neue Lesart im Bezug auf die Ich-Welt-Verhältnisse in dem Gedicht, die ich hier vorschlage, soll uns aber einen anderen Blick auf den zweiten Aufbruch der chinesischen modernen Lyrik anbieten. Ein Aufbruch in die neue Welt im doppelten Sinne.
Auf der Ebene der lyrischen Gestaltung setzt sich das lyrische Ich bald nach dem Beklagen über die gegenwärtige Falschheit und Grausamkeit in einen Weltraum, wo die geografisch weitentfernten Orte (der Kap der Guten Hoffung, das Tote Meer) herangezogen werden, ihre metaphorische Bedeutungen im Namen wieder aktiviert und zur Infragstellung der eigenen Lebenswelt bedient werden. Und weiterhin bewegt sich das lyrische Ich stets in diesem Raum, mit seinem Glaube an eine neue Menschheit der Authentizität und Unschuld ex negativo. Wobei eine Erweiterung des leidenden Subjekts immer durch die kosmischen Bilder formuliert wird, bis diese Raum-Metapher zu einer Verbindung zwischen der archaischen Zivilisation und der künftigen Generation im Bild der Sterne transformiert wird. Diese angedeutete Triade der Menschengeschichte ist insofern signifkant, als das Gedicht schließlich weit über einer bestimmten historischen und politischen Zustand hinausgeht und die neue Fundierung der Existenz der Menschenheit insgesamt appelliert.
So augenfällig die Größenfantasie der Post-Kulturrevolution-Generation, so bedeutsam diese Konstruktion des neuen Menschenideals in einem gar fantasierten Weltraum für die weitere Entwicklung der chinesischen modernen Lyrik. Neue Poesie und neue Menschenheit fallen hier zusammen und bestimmen die Beziehung mit der Ferne und Fremde. Nicht zuletzt aus Abscheu vor der überwältigenden Leitidee des Klassenkampfs samt ihrer furchtbaren Folge in der nahen Verganghenheit ist zur Zeit die Gegenbewegung entstanden, die langjährige Geschlossenheit durchzubrechen und eine Renaissance des Humanismus und der indivuduellen Freiheit im Namen der allgemeinen Menschheit aufzuschwören. Dementsprechend die Projektion der Idealwelt auf die Außenwelt. Und mehr noch ein Drang, sich einen eigenen Platz in einer übernationalen Welt zu situieren. Im Gegensatz zur Wahrnehmung der Fremdheit und der Spannung der kulturellen Differenzen in den 1990er-Jahren dominiert eine Suche nach der idealisierten Gemeinsamkeit der Menschheit in den späten 1970er- und den ganzen 1980er-Jahren. In diesem Kontext lässt sich tatsächlich eine vielbedeutende Botschaft in der Weltraum-Metapher in Bei Daos Gedichts „Antwort“ ablesen. Wie das lyrische Ich der fremdfeindlichen Ideologie und dem heuchlerischen revolutionären Idealismus den Rücken zudreht, deutet es auf eine offene bessere Welt für die ganze Menschen, allerdings besonders für seine Mitmenschen hin.
In diesem Sinne scheint es nur folgerichtig, wenn die jüngere Generation, die ab der Mitte der 1980er-Jahren in der Öffentlichkeit auftrat und den prominenten Pionieren wie Bei Dao, Yang Lian, Duo Duo, Gu Cheng Konkurrenz machte, noch mehr für die westliche klassisch-moderne Literatur, Kunst und auch Philosophie schwärmt und darauf ihre eigene Dichtung basiert. Die sensationelle Erscheinung der hermetischen Lyrik am Anfang der 1980er-Jahren, so problematisch wie sie selbst ist, erschließt sowohl konzeptuell als auch stilistisch einen neuen Horizont, der eine Aussicht auf die vermeintliche Weltlyrik in der Ferne ermöglicht und anregt. Und die wieder belebte Übersetzung- und Vermittlungsarbeit der modernen Lyrik und Literatur im allgemeinen trägt auch maßgebend zu der geläufigen Interaktion zwischen dem Lesen und Schreiben bei. Wie diese Interaktion in die eigene Dichtung einwirken kann, lässt sich an einem repräsentativen Beispiel von Hai Zi, dem Idol-Lyriker der 1980er-Jahren zeigen.
Hai Zis Identifikation mit Hölderlin als Imagination des Lyrikerverbunds
Das Unglück
– Für Hölderlin
Der Wein in der Krankheit
Ich nehme ein Krankenbett auf.
Mein Hölderlin, der darin liegt,
Das Pferd, das galoppierte wie verrückt
Quer durch das ganze Frankreich,
Ist Symbol des reinen Lyrikers, des kranken Lyrikers geworden.
Ach, der unglückliche Lyriker,
Wie sie Dich wie ein Pferd
An das Bett eines Zimmermanns angefesselt haben.
Ich weiss nicht, ob
Am Abend wo der August verging,
Der zweite Bruder Sophokles
Mit seiner Tragödie Deine Schmerzen mildern konnte.
Wenn die Schwester und Pastor
Das verhängnisvolle Vließ erhoben,
Das brennde Vließ,
Das brannte wie Schnee.
Er sagte, – keine Eile, Ihr ungeduldige Götter,
Nachdem eine letzte Hymne an die Heimat gesungen wird,
Werde ich in Euer
Dunkles und dumpfes Horn einschleichen,
Das vollgefüllte, tönende Horn,
Das zugleich die Krone und das verrücke Ziegenhorn ist: ich lege mich ab
– „zehntausende Jahre wären zu lang“
Übrig bleibt nur das Horn, die Lyrik dunkel, der Lyriker blind.
Nach dem Blut ist die Dunkelheit, die noch röter als Blut ist
Hölderlin, sag mir, wie die Dunkelheit war,
Wie sie Dich überschwemmte,
Wie sie Dich in den Armen nahm,
So wie der Strom ein Pferd verschluckt.
[…]
Welcher Gott Dich an der Hand führte über den Weg wo das Licht und die
Dunkelheit durchkreuzten?
Was für greise Mutter und verwandten Zimmermann Du am Ufer trafst?
Waren sie Illusion, oder Wahrheit?
Waren sie Schönheit oder Lüge? Düsternis oder Euphorie?
Oder die Vereinigung von Beiden: Herrschaft.
Nach dem Blut immer noch Dunkelheit, die noch rötter als Blut ist.
Ich werde Dein für immer und ewig gedenken,
Des unglückliche Bruders, Hölderlin!
(Haizi 2009)
Mit dem Abebben des Pathos des Propheten-Dichters zeichnet eine tiefgreifende Selbstreflexion über die lyrische Sprache und den Lyriker bei den sogenannten post-hermetischen Lyrikern ab. Diese verbindet sich öfters mit einer Verarbeitung ihrer Erfahrung der Lyrik vor allem aus Europa und Russland. Exemplarisch dafür ist Hai Zi (Pseudoname für Zha Haisheng, 1964-1989), dessen Lyrik seine Zeitgenossen und viele Kollegen begeisterte und durch das unermüdliche Besingen der Göttlichkeit des Lyrikers einen eigenartigen und unersetzlichen Platz in der Lyrik der 1980er-Jahren einnimmt. Diese Göttlichkeit ist seiner transformierenden Aneignung der Götterwelt bei Hölderlin zu verdanken, was er selbst in einer Rezension über Hölderlins Lyrik offen bekennt. Mit einem Imperativ bringt er auch seine Identifikation mit Hölderlin in seiner Auffassung des Lyrikers zum Ausdruck: „Als ein Dichter sollst du das Geheimnis der Menschen lieben, von Land zu Land ziehen in heiliger Nacht. Liebe den Schmerz und das Glück der Menschen. Halte aus, was auszuhalten ist, und singe, was gesungen werden muß.“.(Haizi 2009) Also eine Identifikation im Zeichen der Leiden und Liebe für die Menschen, wobei die christliche Idee der Nächstenliebe in eine gar geheimnisvolle Alleinheit der lyrischen Fantasie transponiert wird.
Solche Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Lyrikers findet man nicht selten in Hai Zis Dichtung. Die Beziehung zwischen der Anregung von Hölderlin und dem eigenen Schaffen kann sich nicht mehr veranschaulichen als in seinem „Unglück. Für Hölderlin“. Das ganze poetologische Gedicht setzt einen Dialog zwischen dem lyrischen Ich und seinem „Bruder“, also seinem Geistesverwandten Hölderlin in Szene. Die Ausführung eines ständig von Leiden und Wahnsinn heimgesuchten Dichterlebens, so wie der Titel des „Unglücks“ deutlich macht, ist im Zusammenhang der mythologischen und poetologischen Intertextualität zu einer Initiativgeschichte des „reinen“ Lyrikers verwandelt. Das Unglück, die Leiden und der Wahnsinn werden nicht nur als Voraussetzungen des reinen Lyrikers sondern seine Wesensbedingungen schlechthin beschrieben. Die vielbedeutende Verbindung des Bluts und der Dunkelheit arktikuliert anschließend und abschließend Opfer- und Gewaltfantasie, Hermetik und Heiligkeit, Macht der Poesie und Schicksal des Lyrikers in einem Zug. Die Anrede des Bruders und das wiederholte Attribut des Unglücks in der allerletzen Zeile deuten hin, dass es hier nicht bloß um eine Widmungsgedicht geht, sondern vielmehr eine imaginäre poetologische Kommunikation bis zur Identifikation. Durch eine genealogische Metapher hebt das lyrische Ich seine Bereitschaft hervor, das Schicksal Hölderlins zu teilen, mitzuleiden, mitzusingen, da es sich auf dem Weg zu einem reinen und kranken Lyriker führen will. Die ausführliche Wiedergabe Hölderlins Erlebnisse und die vielfache Anspielung auf seine lyrischen Texte erscheinen im nachhinein als eine Konstruktion einer vertrauten poetischen Welt, wo das lyrische Ich sich als Eingeweihter erlebt.
Diese im eigenen Gedicht gestaltgegebene Identifikation mit einem Dichter aus einer fremden Kultur und einer fernen Zeit, die bei Haizi ganz ausgeprägt wird, steht nicht singulär in der chinesischen Lyrik in den 1980er-Jahren. Durch diese ganz konkrete Imagination auf der poetologischen Ebene wird die Lyrik tatsächlich zu einem Medium, mit dem man die vermeintlich gleichgesinnten Erlesenen anspricht und sich mit ihnen in die Welt über allen möglichen Grenzen platziert. Während Hai Zi für diese Welt ein gemeinsames Fundament vor allem in die für die 1980er-Jahre typische humanistische poetologische Konzeption, nämlich Schreiben über die Leiden und Liebe für alle Menschen sieht, bringen andere Lyriker die Überlegungen über die Übertragbarkeit der fremden poetischen Welt in die eigene und umgekehrt mit in ihre Weltimagination, die gerade dadurch mehr Nuance und Sinnbedeutung gewinnt. Beispiel: Zhang Zao.
Zhang Zaos interkulturelle Reise durch das Schreiben
Kafka an Felice
Ich heiße Kafka. Wenn Sie sich erinnern,
Haben wir uns bei M. B kennengelernt.
Damals blätterten Sie gerade ein Fotoalbum im Licht,
Wo ein wundervoller Duft mir ins Herz reindrang.
Meine komische Lunge wendete sich Ihrer Hand zu,
Wie ein Pfau seine Feder auffächerte, um Bewunderung bittend.
Ihr Schatten zitterte auf dem Flügel des Klaviers,
Ihrer Nacht wendete sich meine komische Lunge zu.
So wie der Heilige, der nicht mal eine Sekunde vom Gott weg kann,
Dachte ich ständig an meine Pfaulunge.
Ich hat ihr den blutigen Käfig geöffnet.
Geh, sagte ich, geh dir dem Herzen annähern.
„Darf ich Dich mit einer Rose vergleichen?“
Im Raum schwebten überfall die gefallenen Blätter, die den Atem
anhielten und starrten.
Lesen ist Mord: Ich mag nicht, dass die
Einsamen mich lesen. Der glühende Atem
Ist mir widerlich: sie greifen die
Bücher, so wie sie ihre eigene Organe greifen.
[…]
Der Stern am Himmel schrie auf: verbrenne mich!
Das Wasser in Prag schrie: Gib mir einen Weisen!
Der Grabstein schwieg: wer mich liest, töte mich.
(Zhang 2010)
Bei Zhang Zao (1962-2010) kann man wirklich eine interkulturelle Reise sowohl in der Biografie als auch in der Dichtung verfolgen. Anders als Hai Zi und viele seiner Zeitgenossen konnte er als Anglist und Germanist viel westliche Literatur im Original lesen. Er ist 1986 nach Deutschland gekommen und hat in Tübingen über die chinesische moderne Lyrik seit 1918 promoviert und lange Zeit zwischen Deutschland und China gependelt. Aber seinen Ruhm als Lyriker oder gar Avantgard Lyriker gewann er am Anfang der 1980er-Jahren gerade als einer, der die traditionelle chinesischen Poesie durch die raffinierte moderne Form belebte und viele schöne Sprachbilder aus der klassischen Zeit in einen völlig neuen Kontext erfolgreich umzusetzen wusste. Schnell bekannt wurden Sätze wie „Sobald ich mich an meine reuevolle Vergangenheit erinnere, ist der Südhügel schon voller gefallenen Plumenblumenblätter.“
Desto signifikanter ist seine Arbeit auch an den europäischen mythologischen und literarischen Motive und Figuren, die nichts anders als Versuch eines poetischen Kosmopoliten zur Schau stellt, die nationale und kulturelle Grenze durch seine Dichtung aufzuheben und in beiden literarischen Traditionen ein Gemeingut für alle Dichter der Welt sehen zu wollen. Bezeichnend sind ein Bündel Rollengedichte, die jeweils europäische und chinesische Figuren unter dem gleichen Thema in Erscheinung treten lassen. „Romeo und Juliet“ konfrontieren sich mit „Liang Shanbo und Zhu Yingtai“, „Leda und der Schwan“ finden ihren Pendant bei „Wu Gangs Klagen“ usw. Vor dem Hintergrund des Textkorpus scheint das Gedicht Kafka an Felice, obwohl auch von einer unglücklichen Liebe ausgegangen, ganz eigenartig zu sein. Hier haben wir ein Selbstvorstellen als Einstieg, das ausdrücklich ein Rollenspiel für den ganzen Text angekündigt. Ähnlich wie bei Hai Zi, aber viel mehr verdichtet fliessen hier auch biografische Anekdoten, intertextuelle Wendungen, körperliche Metaphern und poetologische Reflexion zusammen. Eine grotesk gefärbte Liebesgeschichte wird so nach und nach zu einer lyrischen Selbstreferenz, die nicht ohne Selbstironie des schreibenden und lesenden Lyriker dargestellt wird. So im extremen und lapidaren Urteil: „Lesen ist Mord“.
Dass Zhang Zao diesmal nicht mehr eine Korrespodenz zwischen der chinesischen und europäischen klassischen Literatur oder Kultur bildet und das lyrische Ich selbst in einen Repräsentant der europäischen modernen Poesie par excellence hineinsetzt, bietet uns wieder ein vortreffliches Beispiel für die Überzeugung der chinesischen Lyriker in den 1980er-Jahren von einer internationalen Poet-Republik an. Nur auf der Grundlage der Überzeugung lässt sich die Souveränität im freien Spiel mit einer fremden Identität und den eigenen poetologischen Gedanken verstehen.
Noch in seinem poetologischen Essayband „Die Rose der Zeit“ hat Bei Dao 2005 rückblickend diesen Glauben der Verbindung und Kommunikation zwischen Lyriker der Welt besonders durch die Übersetzung und Lektüre nachdrücklich bestätigt und ein anderer wichtiger Lyriker namens Bai Hua, Teilnehmer der lyrischen Bewegung in den 1980er-Jahren, hat dies in dem Vorwort des Bandes auf den Punkt gebracht: „Die Weltlyrik ist in uns reingekommen und wir auch in die Weltlyrik. In der Tat gibt es eine gemeinsame Weltlyrik, wo weder reine chinesische Lyrik noch reine westliche Lyrik sondern eine Intertextualität im Sinne von Julia Kristeva, ein kommunikativer Zusammenhang zu finden ist.“
(Beidao 2005)
Literatur:
Bei Dao: Notizen vom Sonnenstaat. Gedichte, aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, München: Hanser 1991
Bei Dao: Die Rose der Zeit. Beijing: Zhongguo Wenshi 2005
Chen Duxiu: Ausgewählte Werke. Bd. 1., Shanghai: Renmin 1993
Haizi: Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Xi Chuan, Beijing: Zuojia 2009
Zhang Zao: Gedichte. Beijing: Renmin Wenxue 2010.