Ironie der Menschlichkeit

Jim Nisbets Roman „Tödliche Injektion“ aus dem Jahr 1987 gehört knapp 20 Jahre später zum klassischen Noir-Bestand

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franklyn Royce hat in seinem Leben nicht viel auf die Reihe gebracht. Seine Frau hasst ihn, weil er nicht ehrgeizig genug ist, um ihr den anspruchsvollen Lebensstil zu ermöglichen, den sie glaubt sich verdient zu haben. Frustration in Ehe und Beruf hat ihn zum Trinker werden lassen. Die eigene Arztpraxis läuft schlecht, so dass er sich monatlich ein paar hundert Dollar als Gefängnisdoktor im texanischen Huntsville dazuverdienen muss. Zu seinen Aufgaben dort gehört auch die medizinische Begleitung zum Tode Verurteilter. Dabei begegnet ihm der junge Schwarze Robert Mencken. Der soll im Zuge eines Raubüberfalls auf einen kleinen Laden in Dallas der Verkäuferin wegen ganzen neun Dollar mehrmals ins Gesicht geschossen haben. Während der Giftmix aus der Todesspritze bereits in seine Adern rinnt, vertraut er Royce an, dass er zwar unschuldig, aber dennoch bereit ist, diese Welt zu verlassen. Seine Beichte wird für den Arzt zu einer Art Erweckungserlebnis, das der Verurteilte kurz vor seinem Tod noch mit einem Kuss besiegelt.

„Tödliche Injektion“ gilt Kennern seit Langem als zeitloser Geheimtipp des Genres. Für Sandro Veronesi, dessen Artikel aus „La Repubblica“ der deutschen Neuübersetzung des Romans als eine Art Vorwort beigegeben wurde, ist sein Verfasser ein „Phantomgenie“ – „… nur wenigen bekannt und von wenigen bewundert – aber die sind über die ganze Welt verstreut und insgesamt gar nicht mal so wenige.“

Dass Nisbet mit der deutschen Neuauflage seines Klassikers aus dem Jahr 1987 nun zum Publikumsrenner werden wird, ist allerdings nicht anzunehmen. Dass er es werden sollte, kaum mehr als ein frommer Wunsch. In der örtlichen, gar nicht mal so schlecht sortierten Buchhandlung werden die Pulp-Master-Bände – „Tödliche Injektion“ ist nach „Dunkler Gefährte“ schon der zweite Nisbet-Roman, dessen sich der Berliner Verleger Frank Nowatzki mit seinem vielgelobten Unternehmen annimmt – eher selten nachgefragt. Zu literarisch? Zu deprimierend? Im wahrsten Sinne des Wortes zu „noir“?

Für Franklyn Royce jedenfalls beginnt nach der Begegnung mit Bobby Menken ein neuer, sein letzter Lebensabschnitt. Nichts hält ihn mehr in seiner Beziehung. Von der Unschuld Menkens überzeugt, macht er sich auf die Suche nach dem wahren Täter. Bald landet er bei den beiden Menschen, die dabei waren, als der Mord geschah, für den Mencken hingerichtet wurde. Eddie Lamark ist ein Psychopath, dem alles zuzutrauen ist, Colleen Valdez eine heroinabhängige Gelegenheitsprostituierte, die nicht viel tun muss, damit der sexuell frustrierte Royce ihr hemmungslos verfällt.

Erst ganz am Ende merkt der Leser, mit welch großer Raffinesse Nisbet bei der Komposition seines frühen Meisterwerks vorgegangen ist. Und dass der Weg des Franklin Royce im Weg des Mannes, zu dessen Rächer sich der Arzt berufen fühlt,  bereits vorgezeichnet ist. Auch Royce wird seine Wahrheitssuche nicht überleben. Dass er sich in den Zusammenhängen, die er schließlich rekonstruiert, auf tragische Weise irrt, ist ganz zum Schluss nur wieder eine jener Ironien des menschlichen Schicksals, auf die ihn schon Mencken aufmerksam gemacht hatte: Dem war in der Gestalt von Royce erst in der Todesstunde die Mitmenschlichkeit begegnet, nach der er sich sein Leben lang vergeblich sehnte.

Mit Jean Genet führt der Roman selbst einen der Gewährsleute an, deren Werk einem in den Sinn kommt, liest man „Tödliche Injektion“ – Bobby Menckens Knastname lautet „Harmacone“ nach jener Figur aus Genets „Wunder der Rose“, deren Ketten sich in der Fantasie des Erzählers eines Tages in Rosen verwandeln und dem Mörder die Aura eines Heiligen verleihen. Für Sandro Veronesi sind es die von Nisbet geliebten Samuel Beckett, Kenzaburo Oe, Josef Škvorecký und Fjodor Dostojewski, deren Stimmen er bei der Lektüre des Romans mitvernommen hat. Dem Rezensenten drängen sich zeitweise Assoziationen an den berühmten Malcolm Lowry auf. Schon diese wenigen Namen – wie deutlich sie auch immer in das intertextuelle Netz versponnen sein mögen, in dem „Tödliche Injektion“ aufgehoben ist – zeigen, mit welchem Kaliber man es bei Nisbet zu tun hat. Dass dessen Roman auch als vehementes Plädoyer gegen die seit 1976 in den USA wieder praktizierte Todesstrafe verstanden werden kann, wird niemand abstreiten, der die ersten 50 Seiten, die einen ins kalte Licht einer texanischen Hinrichtungszelle zwingen, gelesen hat.

Titelbild

Jim Nisbet: Tödliche Injektion.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Angelika Müller.
Pulp Master Verlag, Berlin 2011.
234 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783927734456

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