Über Ich und Welt im Blumenberg-Sound

Andreas Steffens’ Buch „Ontoanthropologie“ handelt vom „Unverfügbaren“ und seinen Spuren

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ontoanthropologie“ ist kein sehr geeigneter Titel, wenn man seinem eigenen Buch viele Leser wünscht. Aber immerhin markiert das kryptische Substantiv sehr präzise sein Thema, das in dem Verhältnis von Welt und Mensch besteht. Damit kommt dem Buch das Verdienst zu, eine der zentralen Fragen der Philosophie wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Andreas Steffens scheint an der Universität Münster Hans Blumenberg begegnet zu sein und von diesem Denker entscheidende Anregungen erfahren zu haben. An Blumenberg denkt man, wenn man das Schriftbild sieht, denn gleich dem Meister fügt Steffens seine Zitate nicht in Anführungszeichen, sondern setzt sie kursiv, gleich Blumenberg spürt Steffens überall Metaphern hinterher oder gebraucht – in diesem Falle auch in der Tradition Edmund Husserls – eine geradezu inflationäre Vielzahl von Begriffen mit einem vorangestellten „Ur“ („Urbeziehung“, „Urungehorsamstat“, „Ursituation“), und an Blumenberg erinnert schließlich auch die Angewohnheit, in der 1. Person Plural zu sprechen, wenn die Geschichte der Menschheit angesprochen wird. „Was wollten wir, als wir anfingen?“, fragte Blumenberg gelegentlich in seinen Vorlesungen, und die folgende, markant formulierte Passage mit ihren ironisch-weisen Verallgemeinerungen erinnert deutlich an den Stil des Meisters: „Wir leben nicht lange genug, um zu werden, was wir sein können, weil wir zu lange zu lernen haben, was wir sein müssen, um leben zu können.“ Trotz alledem ist Steffens, der sich 1995 in Kassel im Fach Philosophie habilitierte, noch lange kein Epigone, sondern erhebt seinen Anspruch, „den einen oder anderen neuen Gedanken“ zu formulieren, zweifellos zu Recht.

Steffens ist kein Freund von vorangestellten Definitionen, und in diesem Fall – es geht um den Begriff der Welt – wäre eine Definition doppelt fehl am Platze, denn in dem Buch geht es ja um nichts anderes als um eine wechselseitige Bestimmung von Welt und Mensch, die endlich in eine ausführliche Interpretation der kosmischen Perspektive mündet – um eine Ausdeutung des Blickes vom Mond auf die Erde. Hier ist Welt auf Erde eingeschränkt, aber im Vorhergehenden ist Welt schlicht das, in was der Mensch hineingeboren wird und was ihm in der seiner Geburt folgenden Mühsal entgegensteht; Welt ist deshalb das, was uns in unserem Leben widerfährt, nicht etwa Thema der Wissenschaft, und so wendet sich Steffens energisch gegen die Tendenz, die Philosophie zur Magd der Einzelwissenschaften herabzuwürdigen. Vielmehr geht er von Existenzialien wie etwa dem Erlebnis der Fremdheit oder der Vertreibung aus und liebt nicht allein in seinem eigenem Buch, sondern auch bei anderen Sätze wie etwa diesen wirklich sehr exakt formulierten, in dem er Giacomo Leopardi zustimmt und sich gleichzeitig von aller Subjektivierung absetzt: „Hier spricht einer von der Welt, wie er sie erfahren hat, nicht von sich, wie er die Welt erfährt. In diesem Unterschied der Blickrichtung steckt die ganze Ontoanthropologie.“

Wenn Steffens von „der fatalen Verwissenschaftlichung der Philosophie“ spricht oder für die Philosophie ihre „Selbstdegradierung zur Magd erst der Theologie, dann der Wissenschaften“ beklagt, dann ist damit der philosophische Mainstream unserer Tage gemeint, von dessen Hang zu Materialismus und Naturalismus er sich entschieden absetzt. Dieser Autor knüpft außer an Blumenberg noch an zahlreiche Denker und Autoren an, zu denen die meistzitierten unserer Tage aber nicht gehören. Vielmehr zitiert er gern alle Quellen, in denen die Existenz des Menschen expliziert wird; so geht es etwa, wenn er die Fremdheit umkreist, vor allem um die Rückkehr, und als Beispiel dafür wird in bestechenden Analysen die Heimkehr der Astronauten vom Mond herangezogen. Oder der Autor greift auf literarische Texte zurück, so zu Beginn seiner Überlegungen zum Thema „Trost und Glückwunsch“ auf André Gide und einen Brief von Johannes Brahms.

Immer wieder angedeutet, man kann sagen: im ganzen Buch hartnäckig umkreist, aber letztlich nicht ausgeführt ist die ethische Konsequenz dieser Überlegungen, die Steffens’ Buch noch mehr von philosophischen Arbeiten abhebt, in denen die Ethik auf die Goldene Regel oder ähnliche Banalitäten reduziert wird. Steffens, wenn er das Verhältnis von Ich und Welt bedenkt, zielt darauf, dass wir nur zu oft nicht sein können, was wir gerne wären, weil die Welt uns daran hindert. Im Grunde geht es ihm in der Tradition des Existentialismus um unseren Selbstentwurf: „Was wir brauchen, ist nicht das, was wir vorfinden. Ohne dieses können wir zwar nicht sein; um aber wir selbst sein zu können, muss es mehr geben können als das, was wir vorfinden, wenn wir uns auf die Suche nach, und auf den Weg zu uns selbst machen.“ „So lebt jeder als Verfehlung seiner selbst. Leben heißt, aus der Differenz zwischen gelebtem und gewolltem Dasein existieren. Wer immer wir sind, wir sind immer zu wenig von uns.“

Ihm kommt es, um es in einer anderen Terminologie zu sagen, auf Selbstwahl an, und dabei zitiert er Immanuel Kant, der davon gesprochen hat, „sich selbst eine Lebensreise auszuwählen, und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein“ – eine Unterscheidung, die auf den Gegensatz von Welt und Umwelt hinausläuft. Steffens knüpft zwar explizit an die große Zeit der philosophischen Anthropologie an und erwähnt Jakob Johann von Uexküll, der die Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt eingeführt hat, aber Max Schelers oder Arnold Gehlens anthropologische Entwürfe spielen in seinen Überlegungen merkwürdigerweise überhaupt keine Rolle.

Ein für jede philosophische Anthropologie wesentliches Thema ist der Ausbruch aus der Lebenswelt, womit der Abschied von den Selbstverständlichkeiten eines angenommenen Naturzustandes umschrieben wird. In der Sicht von Steffens hat sich dieser Abschied nur halbherzig vollzogen, weil wir allzu viele Relikte aus unserer Vormenschenzeit mitgenommen haben; so steht am Beginn der menschlichen Geschichte die „Urkatastrophe der abgebrochenen Menschwerdung“, und das ist ein mit den Ergebnissen der Paläoanthropologie unterfüttertes Szenario (und keine „Metapher“, wie Steffens schreibt), in dem sich das ethische Interesse des Autors mit Überlegungen verbindet, die sich in ähnlicher Weise in der deutschen Philosophie seit Johann Gottfried Herder, Kant, Gehlen und vielen anderen finden. „Defizitär“, nimmt Steffens dieses Thema auf, „ist das menschliche Weltverhältnis als Folge der Zerstörung des Weltverhältnisses eines protomenschlichen Wesens, das in diesem Verlust zum Menschen wurde. Das Urereignis beendete die Seinsform des Vormenschen, ohne das Wesen, das daraus hervorging, mit der Weltbegabung auszustatten, derer es als Folge der Verluste bedürfen sollte.“

Es ist etwas schade, dass diese Überlegungen unvermittelt in Psychologie münden – in eine Psychologie, die uns zu einem von Zwängen und Defiziten bestimmten Wesen erklärt: „Wir tragen den Beginn als Zwang und als Überwältigung, als Verlust eines auf ein anderes Sein hin angelegten Urzustands, dessen Verwirklichung unterblieb, unser Leben lang mit uns.“ Zur einzigen Begründung zitiert Steffens ein höchst fragwürdiges Buch von Dietmar Kamper und Ulrich Sonnemann, in dem der Atlantis-Mythos benutzt wird, einen die gesamte Menschheit fesselnden Wiederholungszwang zu erklären, der darin bestehe, „das Schreckliche zu machen“, der also diesen uns gänzlich unbekannten Ausbruch aus der Lebenswelt benutzt, um Kriege, Psychosen und überhaupt alles Negative der menschlichen Geschichte aus ihm heraus zu erklären.

Fehlende Systematik ist wahrscheinlich eine Schwäche Steffens‘, aber daraus resultiert auch eine Chance dieses Buches. Denn Steffens argumentiert offen und setzt immer wieder neu an, einen Grundgedanken von verschiedenen Seiten aus zu betrachten – etwa die Widerständigkeit der Welt –, entwickelt ihn aber nicht von Grund auf oder entfaltet ihn systematisch. Die Stärke dieses Autors liegt in aphoristisch zugespitzten Bemerkungen, die dank ihrer Präzision und hintersinnigen Formulierung ihre Wirkung oft erst hinterher entfalten und die ebensowenig zeitgemäß sind wie die Thematik des Buches insgesamt, das die Philosophie an vergessene, gleichwohl höchst bedeutende Grundfragen erinnert. Das ist kein geringes Verdienst.

Titelbild

Andreas Steffens: Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren.
Nordpark Verlag, Wuppertal 2011.
290 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783935421553

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