Wahrheiten über die Moderne

Annette Vowinckel hat keine Kulturgeschichte der Flugzeugentführung geschrieben

Von Benno KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benno Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches macht Appetit: Eine Kulturgeschichte der Flugzeugentführungen vorzulegen, ist einfach originell. Und er ist natürlich auch eine Provokation, denn wer wollte in dieser Art der Kriminalität, des Terrorismus, eine Kulturleistung erkennen können? Insofern macht man sich mit der Hoffnung auf neuartige Einsichten und funkelnde Gedankensplitter an die Lektüre. Allerdings wird diese enttäuscht.

Was genau untersucht Annette Vowinckel? „Dieses Buch ist in der Absicht geschrieben, eine Geschichte der Flugzeugentführung so zu erzählen, dass ihre äußerst heterogenen Erscheindungformen (Terror, Lösegelderpressung, Flucht, Erzeugung medialer Aufmerksamkeit usw.) zu einer Einheit finden, die sich nicht aus den Motiven der Entführer ergibt, sondern aus der Kapitalnahme an dem symbolischen Mehrwert, den das Flugzeug selbst besitzt.“ Und: Flugzeugentführungen werden – so zumindest die Ankündigung – „als integraler Teil einer Geschichte der Moderne skizziert, zu deren wichtigsten Charakteristika die Steigerung von Mobilität und die zunehmende Medialisierung zu rechnen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die Luftpiraterie als Preis der Moderne oder als das kalkulierte Risiko, das jeder zu tragen bereit ist, der sich in ein Flugzeug setzt“.

Doch das geschieht nicht. Die Autorin legt keine Kulturgeschichte der Flugzeugentführungen vor, sondern sie beschränkt ihr Buch auf die Darstellung, wie das Risiko, bei einer Flugreise Opfer einer Entführung zu werden, in Medien und in der Kunst verarbeitet wird. Man wird das sicherlich als eine Kulturleistung ansehen können, aber mit dem im Titel versprochenen Thema hat das nichts zu tun. Darüber hinaus bleibt auch jenseits des plausiblen Aufbaus des Buches wenig zu loben: Die deskriptiven Kapitel sind einfach nur deskriptiv, und Prolog und Epilog erschöpfen sich in zwar nicht uninteressanten und durchaus zutreffenden, aber letztlich nicht besonders tiefschürfenden Auslassungen über das, was die Autorin unter Moderne versteht. Die Chance, die sich ihr durch die kühne Themenwahl bot, hat sie leider vertan.

Vowinckel zufolge ist Moderne „Mobilität, Medialität und Massengesellschaft“, aber auch die Existenz von Risiken, die „nicht mehr verhandelbar sind“ und deshalb in Form von Statistiken und Risikoabschätzungen psychisch verarbeitet werden müssen. Die sich ergebenen neuen Möglichkeiten der „Moderne“ – unter anderem durch das Reisen – können nicht mehr rückgängig gemacht werden; deshalb besteht die Strategie des Menschen darin, die sich durch die neuen Möglichkeiten notwendigerweise ergebenden Risiken psychisch zu verarbeiten: „Wenn wir Flugzeugentführungen oder -abstürze nicht mehr dem Schicksal, der Vorsehung oder den Kräften der Natur anlasten können, müssen wir sie entweder verhindern oder, wenn das nicht gelingt, wenigstens medial verwerten“. Die mediale Aufarbeitung von Flugzeugentführungen wird insofern von Vowinckel als diejenige Kulturleistung angesehen, die die Risiken der Moderne verarbeiten kann, soll oder muss.

Nach einem Kapitel, in dem sie fünf Flugzeugentführungen beschreibt, streift sie die „Psychologie des Fliegens“ und wendet sich dann der medialen und medienkünstlerischen Aufarbeitung von derartigen Verbrechen zu: in Spielfilmen, in Romanen und in der Verballhornung vor allem durch Musiker oder durch Monty Python. Das ist alles nicht uninteressant, aber da diesen Darstellungen eine analytische Tiefe fehlt, fragt man sich immer, je länger die Lektüre dauert, auf was das alles hinauslaufen soll. Warum zum Beispiel stellt Vowinckel die etwas skurrile Theorie des Psychiaters David Hubbard vor („Fußnote zur Geschichte der Luftpiraterie“) und garniert sie sogar mit einer eigenen, überflüssigen Grafik? Das alles kann den Rezensenten nicht überzeugen. Die von Vowinckel als Klammer gesetzten Reflexionen über „die Moderne“ sind für das, was sie zusammenhalten sollen, einfach zu groß. Oder der Hauptteil ist für die Klammer zu klein. Wer sich über „die Moderne“ auslässt, muss mehr bieten als Nacherzählungen von Monty-Python-Sketchen. Oder sollte diese Nacherzählung in einen weniger hochtrabenden Kontext einbetten.

Im Schlusskapitel argumentiert Vowinckel mit Paul Virilo, dass bereits die Erfindung des Flugzeugs die Möglichkeit von Flugzeugentführungen einschließt, wodurch diese zum Teil der Moderne selbst würden. Deshalb gelte: „Flugzeugentführungen, ebenso wie Flugzeugabstürze, sind Teil eines Aushandlungsprozesses, in dem es nicht mehr um das ob des Reisens geht,  sondern nur noch um das wie der Schadensbegrenzung.“ Reisen ist riskant, lautet ihr Fazit, und deshalb muss man Sicherungsmechanismen einbauen, die allerdings neue Risiken hervorbringen. Das gelte auch fürs Fliegen, das allerdings „auch in Zeiten terroristischer Bedrohung die sicherste aller Fortbewegungsarten“ bleibt. Da ist etwas Wahres dran.

Titelbild

Annette Vowinckel: Flugzeugentführungen. Eine Kulturgeschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308732

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