Ein sanfter Unruhestifter

Erich Loests erstes Tagebuch trägt den Titel „Man ist ja keine Achtzig mehr“

Von Bernd HeinrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Heinrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Stets“, schreibt Erich Loest, „wusste ich, was ich schreiben wollte, tat es gern und musste mir nichts aus den Fingern saugen. Mit meinem Tagebuch beginne ich unvermittelt und höre vermutlich aus irgendwelchen Gründen irgendwann auf“. Nahezu 70 Bücher hat Loest seit 1950 geschrieben, darunter neben zahlreichen Krimis und Feuilletons die Bände „Durch die Erde ein Riss“, „Nikolaikirche“, „Sommergewitter“, „Völkerschlachtdenkmal“, „Gute Genossen“, „Schattenboxen“. Besonders lieb habe er „Es geht seinen Gang“.

Tagebuch nennt der zweifache Ehrendoktor sein womöglich letztes literarisches Werk lapidar. Loest schreibt über Fußball und Fernsehen, outet sich als profunder Weinkenner und Liebhaber klassischer Musik. Allerdings: Neben zahlreichen kommentierten Nebensächlichkeiten und marginalen Kommentaren bietet dieses Buch eine Fülle an Lebensweisheiten, gelebten Erfahrungen, Bekenntnissen, Enttäuschungen und Begegnungen. Dass der nun 85-jährige Autor in diesem Erinnerungsbuch nicht warnend oder gar drohend den moralischen Zeigefinger hebt, mag den Neu-Leser vielleicht verwundern. Jedoch auch in diesem Erinnerungsbuch bleibt sich Loest treu wie alle Zeit in seinem langen Leben. Mit heiterer Gelassenheit, erfreulich frisch, bisweilen geradezu satirisch-kabarettistisch einerseits, unbequem, sarkastisch, energisch, unverhohlen offen und deutlich Kritik übend andererseits offenbart Loest seine ganz persönliche, also eigene Sicht auf die jüngste Zeit – aufgeschrieben zwischen August 2008 und September 2010.

Dass „Man ist ja keine Achtzig mehr“ über bloße Tagebuchnotizen hinaus auf beinahe jeder der 233 Buchseiten bis zum Schluss die Spannung zwischen Politischem und Persönlichem meistert, ist der hohen Erzählkunst des sächsischen Chronisten deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts geschuldet. Eher nebenher erfährt der Leser nun, dass Gisela May einst mit Wolfgang Harich verehelicht war. Ihn bezeichnet Loest als den „klügsten Reformer aller DDR-Jahre“. Wie der vielbemühte Rote Faden zieht sich die Kritik an der „bornierten, linkslastigen Kulturbürokratie“ seiner Heimatstadt Leipzig durch die Seiten. Wiederholt bekommt die „Leipziger Volkszeitung“ ihr Fett weg, ebenso der Oberbürgermeister der Pleißestadt oder die bei Leipzigs Buchmesse durch Abwesenheit glänzenden Bundesminister und führende Parteipolitiker, der verstorbene einstige Leiter des renommierten Leipziger Reclam-Verlages, die Akteure der legendären Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 und schließlich Reformer in der DDR, die für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eintraten. Erich Loest wäre nicht Erich Loest, nennte er nicht Ross und Reiter respektive die Bremser – „Modrow, Diestel und Gysi“ – und Hilfsbremser: „Masur, Heym, Christoph Hein, Schorlemmer und Christa Wolf“. So macht man sich Freunde beziehungsweise verliert sie.

Es bestätigt sich einmal mehr, dass der aus dem sächsischen Mittweida gebürtige Ehrenbürger seiner Heimatstadt und der Buchstadt Leipzig gern verzichten kann auf Abwarter, Rückzügler und Eigensicherer. Er bleibt ein Mann der klaren Formulierungen und sich treu. Das wird auch deutlich in harschen, kritisch-offenen Worten über den Zustand seiner „politischen Traumheimat“ SPD. Das verdeutlicht sein Engagement für eine angemessene Feier zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 2013. Der mehrfach und zuletzt 2010 mit dem Kulturgroschen des deutschen Kulturrates Geehrte erhebt seine Stimme gegen die Wiederinstallation des Bronze-Reliefs „Aufbruch“ der Karl-Marx-Universität Leipzig ebenso wie gegen Werner Tübkes Gemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“.

Zu den Preisen und Ehrungen, mit denen auch Erich Loests Unbestechlichkeit gewürdigt wurde, zählen das Große Bundesverdienstkreuz und der Deutsche Nationalpreis. Seine moralische Größe zeigt sich auch in der Fähigkeit, eigene Fehler und Irrtümer einzugestehen und zu korrigieren. Man kann es so sagen: Seinem hohen moralischen Anspruch entkommt sogar er selbst nicht.

Trotz (oder gerade wegen?) seiner strikten Unbeugsamkeit, seiner Geradlinigkeit und einem aus tiefster Überzeugung über allem stehenden Freiheitsverständnis gibt es genügend Gelegenheiten, Loests aufblitzenden heiter-gelassenen, seinen trockenen Humor und seinen Wortwitz zu registrieren. Seine – ja, mitunter auch schalkhaften – Notizen stecken voller menschlicher Stärke und Weisheit. Nur: Völlig humorlos und schalkfern sind Erich Loests geradezu erschreckende Einlassungen, den Linden-Verlag in Künzelsau betreffend. 1987 hat der Autor diesen Verlag gemeinsam mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter gegründet. Um es kurz zu machen: Sohn Thomas hat wenig Glück mit dem Verlag. Ja, mehr noch: Er droht seinem Vater mit dem Gerichtsvollzieher. Belege dieses Vater-Sohn-Verhältnisses tauchen immer wieder im Tagebuch auf; chronikhaft, unkommentiert. Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, wie schwer es Erich Loest deshalb ums Herz ist. Dem „sanften Unruhestifter“ mit bewunderungswürdiger Haltung ist ein Satz in der „Zeit“ gewidmet: „Wer das geteiltvereinte Deutschland verstehen will, muss Loest lesen.“

Das wird wohl trotz zuvor gegenteiliger Äußerungen auch künftig möglich sein. Bei der Buchpremiere gemeinsam mit dem Steidl Verlag am 17. Februar 2011 sagte Loest, er schreibe zwar kein neues, aber setze das Tagebuch fort. „Mir war langweilig, also habe ich schon längst wieder angefangen. Ich muss mich ja nicht zwingen aufzuhören, nur weil ich das mal gesagt habe!“

Titelbild

Erich Loest: Man ist ja keine Achtzig mehr. Tagebuch.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
233 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869302362

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