Stranger than fiction

Michel Houellebecqs Spiel mit dem Mühen der Kunst – „Karte und Gebiet“ gibt sich unprätentiös, bietet aber mehr

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ruhm Michel Houellebecqs ist zweifellos groß, ein Überraschungsautor (damals, mit „Elementarteilchen“), der – jenseits der neorealistischen Preziosen und der neuavantgardistischen Abstraktionen – ein eigenes Terrain besetzt. Mit jedem Buch hat Houellebecq diesen Eindruck weiter vertieft, mit „Karte und Gebiet“ nun dreht er das Spiel eine Runde weiter.

Auf der Erzählebene wird die Erfolgsgeschichte eines bildenden Künstlers namens Jed Martin wiedergegeben, der mit drei großen Werkphasen – seinen einzigen, im Übrigen – großen Erfolg hat. Mit einem Jugendwerk von fotografischen Bearbeitungen von Michelin-Karten, einem Gemäldezyklus über die Berufswelt seiner Gegenwart in seiner mittleren Phase (die ungefähr in unserer Gegenwart angesiedelt ist) und  einem Spätwerk, das sich aus Videoaufnahmen seines verwilderten Gartens und der verfallenden Fotos seiner Weggefährten speist.

Berichtet wird von zwei großen Ausstellungen, die jeweils einer der beiden ersten Phasen zugeordnet sind und die den Ruhm des Künstlers begründen und mehren, und dem hinterlassenen Werk, dessen Nachwirkung kurz skizziert wird. Besonderer Clou dieser fast banalen Geschichte: Das zentrale Werk der mittleren Phase ist ein Porträt des Schriftstellers Michel Houellebecq.

Houellebecq, der ein Buch über einen Maler schreibt, der Houellebecq porträtiert? Ja, das geht, und das geht sogar auf. Houellebecq (als Autor) geht sogar soweit, Houellebecq als Figur seines Romans samt Hund ermorden und die Leichen in einem, freilich einigermaßen dilettantisch imitierten, Jackson Pollock anordnen zu lassen.

Das Verhältnis von Vorbild und Abbild ist das zentrale Thema des Romans und des Künstlers Jed Martin. Die beständigen Verweise auf das, was man Lebenswelt oder Realität nennt, dienen aber letztlich nur einem Zweck: die Willfährigkeit der Realität gegenüber ihrer medialen Verarbeitung zu demonstrieren.

Sich selbst als Figur zu konstituieren und umzubringen, kein Problem. Mediale Reproduktionen von Realität zu modifizieren, dass sie ihre eigene Realität kreieren – die ästhetische Qualität eines solchen Ansatzes lässt sich aus der Konstruktion des Romans entlehnen. Die Konstruktion selbst zeigt sich der Realität gegenüber als überlegen, einer Realität (gelegentlich Leben genannt), das sich im Vergleich zu seinen medialen Verarbeitungen als zu starr und unflexibel erweist.

Wenngleich die Erzählung für ihre Figur Überraschungen genug hat: Jed Martin zieht sich nach der Ermordung Houellebecqs in das Haus seiner Großmutter zurück und kapselt sich aber von seiner Umgebung radikal ab. Die ländliche Bevölkerung lehnt alles ab, was nicht sie selbst ist, dekretiert der Text, den Künstler, den Reichen, den, der nicht von hier ist.

Als Jed Martin aber in einer idyllischen Zukunft, dreißig Jahre später (und auch dreißig Jahre in unsere Zukunft hineingesehen) wie zufällig das Tor auf der falschen Seite seines Grundstücks öffnet, ist aus der bigotten Dörflerei ein intelligenter, aktiver und offener Ort geworden, in dem die Bewohner (keiner ist mehr von hier) ihre Chancen zu nutzen wissen. Und die liegen im Fremdenverkehr, in einem ruralen Tourismus und in den Fremden aus Russland oder sonstwo, wohin die industriellen Zentren gewandert sind.

Das Frankreich in dreißig Jahren lebt von der Landwirtschaft und vom Tourismus, das Deutschland derselben Zukunft (in das Houellebecq gleichfalls einen Blick wagt), ist von den verfallenden Industrieruinen des Ruhrgebiets und jenen alten dichten germanischen Wäldern bestimmt, die den alten Römern schon ihre Probleme gemacht haben – nur Audis werden noch gebaut und die Welt ist nicht untergegangen. Die Vegetation trage den endgültigen Sieg davon, so endet der Roman. „Stranger than fiction?“

Eine weitere Volte im Verhältnis von Karte und Gebiet, Kunst und Realität. Dass er die Welt nur darstellen wolle, wie der Autor über seinen Erzähler die Figur Jed Martin in seinem letzten Interview sagen lässt, ist vielleicht eine Art Glaubenssatz realistischer Kunst, die eben nicht abbildet, sondern bis zur Ähnlichkeit konstruieren muss. Und Martins Werk betont gerade das: den Konstruktionscharakter von Kunst, die damit Realität besonders nahe kommt und sie zugleich entscheidend modifiziert.

Anders gewendet, die Überlegenheit der Kunst vor der Realität besteht nicht darin, dass sie sie in irgendetwas übertrifft, sondern dass sie eines ihrer wichtigsten Erkenntnismodi ist – womit der Überlegenheitstopos sich selbst ad absurdum führt. Dafür die richtige, und vor allem denkwürdig unaufgeregte Erzählsprache gefunden zu haben, ist die große Kunst Houellebecqs.

Titelbild

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
DuMont Buchverlag, Köln 2011.
415 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783832196394

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