Rein grammatisch durch die deutsche Sprache

Über Augustin Speyers „Deutsche Sprachgeschichte“

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese neue Einführung in die Geschichte der deutschen Sprache, die in der UTB-Reihe „profile“ erscheint, wendet sich einerseits, so der Klappentext, an Studierende der Sprachwissenschaften beziehungsweise der Mediävistik, gleichzeitig jedoch hat der Autor ein weitaus breiteres Publikum vor Augen, wenn er gleich im ersten Satz seiner Einleitung davon spricht, dass „jeder über kurz oder lang“ mit Sprachgeschichte konfrontiert werde und so zu den potentiellen Adressaten zählen dürfte. Denn wer die eigentümliche Aussprache in einem Tonfilm aus den 1930er-Jahren bemerke oder eine alte Inschrift sehe, der begegne „einem Stück Geschichte, genauer: einem Stück der Geschichte der deutschen Sprache“.

Die Relevanz der Beschäftigung mit Sprachgeschichte wird hier also mit dem allgemeinen Interesse an Geschichte und dem Zusammenhang zwischen Sprache und außersprachlichen Faktoren begründet. Tatsächlich ist diese „äußere Sprachgeschichte“ überaus faszinierend und vielfältig. Man denke allein an die vielen Fremdwörter aus dem Lateinischen oder aus dem Französischen, die nur durch den historischen Einfluss der lateinischen Gelehrtenkultur und die Bewunderung für die höfische Kultur Frankreichs erklärbar sind. Genauso spannend könnte eine Beschäftigung mit den gegenwärtigen Anglizismen und der ideologisch aufgeladenen Gegenbewegung sein. Doch gerade auf solcherlei Zusammenhänge verzichtet Speyer überraschenderweise (bis auf kurze summarische Bemerkungen) und erklärt, dass er sein Thema „von einer rein grammatischen Seite aus“ betrachte. Das klingt nun schon mehr nach akademischer Knochenarbeit als nach einer Faszination für Geschichte und ist nach Speyers Einleitung überraschend; vielleicht den Zwängen der Buchreihe geschuldet, kurz und knapp sein zu müssen, und sicher weniger der Behauptung, dass, wie Speyer apodiktisch hinterherschiebt, sich die alten Sprachstufen vom heutigen Deutsch „natürlich“ im Bereich der Phonologie, Morphologie und Syntax am meisten unterschieden.

Denn diese These ist natürlich angreifbar. Die Wortbedeutung habe sich weniger verändert? Was ist mit dem Elend, das einst das Ausland war; oder dem Buch, das von der Materialangabe der Lettern (aus Buchenholz), bis heute deutliche Veränderungen mitgemacht hat? Wie könnte man Gretchens Abfuhr auf Fausts Anmache verstehen: „Bin weder Fräulein, weder schön“ – wenn man nicht weiß, dass Fräulein hier eine freche Schmeichelei ist, weil es als Anrede nur einer adligen jungen Dame zustand?

Dass der Bedeutungswandel nicht Gegenstand dieser Sprachgeschichte ist, kann also bedauert werden. Der Autor selbst verweist in der Einleitung auf „genügend exzellente, ausführlichere Sprachgeschichten“, von denen dann einige genannt werden. Doch hier wie auch in der Bibliografie – die zusammen mit dem Register als „Service“ bezeichnet wird, was allein schon ein bemerkenswertes Beispiel für Sprachwandel darstellt – sind die Lücken eklatant. So fehlt zum Beispiel die schon in 6. Auflage erhältliche Sprachgeschichte von Astrid Stedje ebenso wie die Einführungen von Gudrun Brundin und Peter Ernst, alle auch bei UTB erschienen. Nur Gerhard Wolff wird erwähnt (in der „Weiterführenden Literatur“ zur Einleitung, nicht im „Service“).

In der ansonsten chronologisch abgehandelten engeren Sprachgeschichte dominiert das Erklärungsmodell der generativen Grammatik, und hier besonders die Re- oder Metaanalyse zur Verdeutlichung des Sprachwandels. Die hier grundlegenden Begriffe Filial- und Elterngeneration sind allerdings in dem einführenden Beispiel auf Seite 22 durcheinandergeraten. Auch ist es in diesem Kontext nicht überzeugend, wenn vom erläuterten Modell abschließend gesagt wird, dass es für das Deutsche leider keine Relevanz habe. Ansonsten ist das kleine Büchlein eine konzise Einführung nicht nur in die deutsche Sprachgeschichte im engeren Sinne, sondern auch in die generative Grammatik. Der enge Rahmen der Beschränkung vorwiegend auf phonetische und morphologisch-syntaktische Phänomene wird in den Schlusskapiteln durchbrochen. Präzise, unaufgeregt und stellenweise amüsant ist Speyers Widerlegung diverser Sprachverfall-Theorien aus dem Umfeld populistischer Sprachvereine und Sachbuchschreiber. Überhaupt ist die vorliegende Sprachgeschichte locker geschrieben und geht dennoch tief ins grammatikalische Detail, so dass der Benutzer ein – mit den eingangs beschriebenen Einschränkungen – zuverlässiges und gut lesbares Bändchen erhält, das man aber – ob interessierter Laie oder Bachelor-Student – nicht als einzige Lektüre zum Thema Sprachgeschichte benutzen sollte.

Titelbild

Augustin Speyer: Deutsche Sprachgeschichte.
UTB für Wissenschaft, Göttingen 2010.
128 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783825233228

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