Das Schweigen der Hymne

Das von Arthur Schnabl herausgegebene Hörbuch „Wie eine Ratte nagt am Putz der Zeit” berichtet von Fußball und Gewittern in der Literatur aus Mähren

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es in Europa die Regionen sind, die oft jenseits aller aufflackernden Nationalismen eine Möglichkeit des Neben- und Miteinanders eröffnen, hat die mitteleuropäische Literatur immer wieder zu erweisen gesucht. Obwohl gerade in der Mitte Europas die nationalen (und auch literarischen und sprachlichen) Emanzipationsanstrengungen zur politischen Sprengung des Kosmos der Kulturen führte, lässt sich im Nachhinein wiederum der Reichtum und die Farbigkeit der mitteleuropäischen Welt genießen. Man muss sie freilich oft noch aus ihrer Versunkenheit oder scheinbaren Marginalisierung im großen Wort ,Europa‘ befreien und auf Entdeckerfahrt gehen.

Dies tut seit einigen Jahren der Regensburger LOhrBär-Verlag mit seinen Hörbüchern für den weiten Raum an der Donau. Und das mit erstaunlichen Funden. In Regensburg sind es die Exilanten Simon Oberdorfer und Ludwig Bemelman, deren Geschichten in Texte und Musik übertragen wurden; aus der näheren und weiteren Umgebung ergänzten die gebürtige Regensburgerin Eva Demski mit „Mama Donau” und Georg Britting, aber auch Hörbücher zur böhmischen und polnischen Literatur das Bild literarischer Regionen jenseits aller Heimat- oder Touristenklischees auf bemerkenswerte Weise.

Für solche Erkundungen bietet sich die zentrale europäische Region Mähren geradezu an. Die südöstliche Landschaft Tschechiens zwischen der polnischen Grenze nach Schlesien, der österreichischen an der Thaya sowie der slowakischen in den waldreichen Beskiden und am Unterlauf der March, deren tschechischer Name „Moravia” der Landschaft ihre Bezeichnung gab, hat mit ihren größeren Städten Brno (Brünn), Zlin, Olomouc (Olmütz) und Ostrava (Ostrau) im Laufe der Jahrhunderte eine reiche, durch die österreichisch-habsburgische Herrschaft lange auch mit der deutschsprachigen verwobene Kultur hervorgebracht. Aus ihr gingen Jan Comenius, Sigmund Freud, Milan Kundera, Hermann Ungar, Jan Skácel, Ota Filip, Vitezlav Nezval, Marie von Ebner-Eschenbach, Jiri Kratochvil, Leos Janácek, Tomás Bat‘a und zahlreiche andere hervor.

Das vorliegende neue Hörbuch des Regensburger LOhrBär-Verlags, ausgewählt und ausdrucksstark gelesen von Ralph Schnabl sowie Lenka Hubáková, bringt einige der Stimmen dieser Landschaft in ihrer bodenständigen Grundierung zum Gehör. Eine kleine Welt wird da zugänglich gemacht, die bäuerlich und kleinbürgerlich-proletarisch gestimmt ist, aber eine Affinität zur künstlerischen Öffnung in die Welt hinein besitzt. In einem Kabinettstück realistisch-satirischer Prosa nutzt der in die Bundesrepublik emigrierte Ota Filip ein Fußballspiel im Jahr 1928 zur Skizzierung der komplexen Konstellation der Protagonisten, die durch die mit einem Elfmeterschuss zusammenfallende Geburt des Ich-Erzählers ihren Schwerpunkt hat. Ebenso virtuos und eingängig schildert der nach Frankreich exilierte Jan Cep ein Gewitter und seine Wahrnehmung durch eine verängstigte, gläubige Bauernfamilie. Marie von Ebner-Eschenbachs Kindheitserinnerung ruft eine patriarchalisch-aristokratisch geprägte Gesellschaft im 19. Jahrhundert auf – ihre Welt findet ihr Echo in Erica Pedrettis Passagen über das Schloss in Sternberk.

Vor diesem Hintergrund hat Mähren aber auch Anteil an der Moderne und der tschechischen Variante der Avantgarde, worauf nicht nur die funktionalistische Architektur in Brno und Zlin spektakulär hinweist. Im Hörbuch erinnert Jan Skácel hintergründig-leise an die Zurückgezogenheit der Mähren in einer Beobachtung über die mährische Hymne, deren Merkmal nicht die Betonung des Nationalen, sondern das Schweigen sei: „Die Hymne des lieblichen Landes Mähren, das kein Land ist, spielt nicht einmal die beste Kapelle auf der Welt. Sie kann es nicht: Die mährische Hymne ist nämlich – still. Ich sage es euch rundheraus, die mährische Hymne ist eine Pause.”

Erica Pedretti, in Sternberk geboren und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz ausgewandert,  ist von den Erlebnissen des Krieges und der Vertreibung geprägt. In ihrem bildkünstlerischen und literarischen Werk geht es um ihre Kindheit, „engste Heimat” ist Mähren, erlebt in den Zeiten des Krieges und der Verachtung, mit Reperkussionen bis in die kommunistische Diktatur. Jiri Kratochvil, selbst Sohn russischer Einwanderer, musste im Untergrund publizieren und in zahlreichen ,Berufen‘ sich versuchen. Sein Text erinnert an den in die Vogelkunde ausweichenden Vater und seinen „letzten schönen Sommer in Mähren”, bevor er heimlich das Land verließ.

Ergänzt werden diese Texte mährischer AutorInnen durch Auszüge von zeitweise ,Zugewanderten‘, wie etwa Robert Musil. Seine Beschreibung von Brno, wo er in die Schule ging und die Technische Unversität besuchte, an der der Vater Textiltechnik lehrte, hebt in „Der Mann ohne Eigenschaften” die textilindustrielle Stadt und ihre Bewohnerschichten in Kontrast zu den Bauern auf dem Lande hervor. Der Galizier Joseph Roth begann seinen Roman ,Radetzkymarsch‘ an jener Kadettenanstalt in Mährisch-Weisskirch (Hranice), in der auch Rainer Maria Rilkes und Musils Militärlaufbahn ihren Anfang nahm. Peter Härtling wuchs im Protektorat Böhmen und Mähren auf und schildert diese unheilvolle Zeit eindringlich. Abschließend stehen gut ausgewählt zwei Gedichte Reiner Kunzes, der in der DDR als Freund und glänzender Übersetzer der mährischen Literatur dichterisch deren Ruf über die Grenzen hinaus trug.

Die minimalistisch-hintergründige Musikbegleitung der Texte durch Sepp Frank beschwört dezent das Land und seine Weinlokale, die Melancholie der Städte und der Menschen. Wie dieses ganze Hörbuch ein wunderbares Plädoyer dafür, Mähren mit seinen vielfach auf Wanderung gezwungenen AutorInnen zu entdecken.

Titelbild

Arthur Schnabel (Hg.): Wie eine Ratte nagt am Putz die Zeit. Literatur aus Mähren.
LOhrBär-Verlag, Regensburg 2010.
2 CDs, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783939529095

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