Eine neue Gemeinschaft von Mördern

Daniel Blatmans erschütternde Synthese der Todesmärsche 1944/45

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich die alliierten Armeen an der West- und Ostgrenze des Deutschen Reiches im Januar 1945 zu ihrem Sturm auf die „Festung Deutschland“ anschickten, waren noch mehr als 700.000 Menschen in Hunderten von mittleren und kleineren Konzentrationslagern (KZ) des NS-Regimes inhaftiert. Unter den Häftlingen befanden sich Frauen, Männer und Kinder aus fast allen europäischen Staaten, seien es Ukrainer, Russen, Polen, Serben, Albaner, Italiener, Franzosen, Norweger, Dänen und Griechen, aber auch viele Personen aus dem Deutschen Reich, darunter Juden, „Asoziale“, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma und Homosexuelle.

Bei der deutschen Kapitulation am 8. und 9. Mai 1945 waren 250.000 dieser KZ-Häftlinge nicht mehr am Leben. Sie wurden im Verlauf jener Todesmärsche ermordet, zu denen sie während der so genannten Räumung der KZ gezwungen worden waren. Der israelische Historiker Daniel Blatman, Direktor des Avraham Harman Institute of Contemporary Jewry an der Hebrew University Jerusalem, hat sich zum ersten Male systematisch mit diesem Thema auseinandergesetzt. Seine Studie ist als eine in vielerlei Hinsicht bahnbrechende Synthese zu verstehen, die auf einer riesigen Anzahl zeitgenössischer Dokumente, Täteraussagen in Nachkriegsprozessen, Memoiren der Überlebenden und der reichhaltigen regional- und lokalgeschichtlichen Sekundärliteratur basiert. Herausgekommen ist ein ungemein dicht erzähltes, bisweilen gar spannendes, auf jeden Fall aber erschütterndes Buch, das, aus dem Hebräischen übersetzt, eine für geschichtswissenschaftliche Arbeiten ungewöhnliche suggestive Kraft entfaltet.

Die Monografie besteht aus zwei fast gleich langen Teilen: Auf eine Einleitung, in der Blatman sein Erkenntnisinteresse skizziert und den Forschungsstand zum Thema resümiert, folgt Teil I, der „Das System bricht zusammen“ heißt. Darin zeichnet der Autor die Entwicklung des KZ-Archipels zwischen 1933 und 1943/44 nach, bevor er die ersten „Räumungen“ an der östlichen Peripherie des „Großdeutschen Reiches“ schildert. Den Auftakt bildete das KZ Majdanek, aus dem seit dem 1. April 1944 ein Dutzend Transporte mit durchschnittlich 1.200 Häftlingen abging. Sie wurden in Güterwaggons gepfercht und in andere KZ im Reichsinnern verfrachtet, nach Auschwitz, Ravensbrück oder Mauthausen. Trotz katastrophaler hygienischer Bedingungen erreichte ein Großteil der Häftlinge ihre Bestimmungsorte lebend. Dies änderte sich jedoch, als mit dem weiteren Vormarsch der Alliierten erneute KZ-„Räumungen“ notwendig wurden, von denen Auschwitz, Groß-Rosen und Stutthof mitsamt ihrer Außenlager betroffen waren. Sie uferten bald zu einem hemmungslosen Töten aus, dem Tausende Häftlinge zum Opfer fielen. Lediglich bei der „Räumung“ der KZ an der westlichen Reichsgrenze, die am 1. September 1944 in Natzweiler-Struthof begann, unterblieben solche Aktionen zunächst.

Zur Eskalation der Mordpraxis scheint der Sachverhalt, dass die KZ-Häftlinge nunmehr systematisch dazu gezwungen wurden, eine lange Wegstrecke bei der „Räumung“ der Lager zu Fuß zurückzulegen, nicht unwesentlich beigetragen zu haben. Gleichwohl bleibt dieser Zusammenhang in der Darstellung unklar, weil der Autor zwischen den einzelnen Schauplätzen hin und her springt und nicht immer der Chronologie der Ereignisse folgt. Die Praxis der Todesmärsche begann offenbar bei der „Räumung“ des Warschauer Lagers Gesiowka Ende Juli 1944. 300 Häftlinge, die sich im Krankenbau gemeldet hatten, wurden gleich vor Beginn der „Räumung“ ermordet. Die verbliebenen Häftlinge mussten ohne Wasser und Nahrungsmittel drei Tage lang zum mehr als 100 Kilometer entfernten Verladebahnhof marschieren. Wer unterwegs Hunger und Durst zu stillen versuchte und sich aus der Marschkolonne entfernte, wurde von den Begleitmannschaften kurzerhand erschossen. Auf ähnliche Weise verliefen die meisten anderen Todesmärsche, ob in Helmbrechts, Celle, Palmnicken, Bergen-Belsen, Lüneburg oder Eisenerz. Immer wieder erschossen Bewacher, deren Verfügungsgewalt über die Häftlinge schier unbegrenzt war, oder Polizisten und Soldaten, die unterwegs auf die Marschierenden stießen, die völlig entkräfteten Häftlinge oder prügelten sie zu Tode. Viele der Täter waren uniformiert.

Im Zentrum von Teil II „Kriminelle Gemeinschaften“ steht das Massaker von Gardelegen, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, in dessen Verlauf am 13. April 1945 mehr als 1.000 KZ-Häftlinge in einer Scheune bestialisch ermordet wurden. Auf 150 Seiten schildert Blatman Ursachen, Verlauf und Folgen dieses beispiellosen Verbrechens. In den Tagen zuvor waren mehrere Züge und Marschgruppen mit KZ-Häftlingen in Gardelegen aufgehalten worden beziehungsweise ‚gestrandet‘. Sogleich entfaltete Gerhard Thiele, der zuständige Kreisleiter der NSDAP, eine hektische Betriebsamkeit und stachelte die übrigen Verantwortlichen aus SS, Polizei und Wehrmacht dazu an, sich dieser Häftlinge zu entledigen. Daraufhin trieben die Wachmannschaften sie in einer nahe gelegenen Scheune zusammen, verriegelten diese und feuerten mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Pistolen, warfen Handgranaten auf die völlig hilflosen Menschen. Anschließend wurden die Leichen unter tatkräftiger Mithilfe einiger Zivilisten aus Gardelegen verbrannt. 24 Stunden nach der Mordaktion erreichte die US-Armee den Ort des grausigen Geschehens. Die Amerikaner ließen die Opfer exhumieren und begannen damit, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Thiele jedoch entkam unerkannt und lebte unter falschem Namen unbehelligt in Düsseldorf und Bochum. Er wurde bis zu seinem Tode 1994 nicht enttarnt.

Gerahmt wird das Beispiel Gardelegen, das für die Todesmärsche in gewisser Weise exzeptionell war, durch eine Bilanz der Gewalteskalation an der „Heimatfront“ seit 1943/44 und eine Kollektivbiografie der Täter. Neben den uniformierten Mördern nennt der Autor eine Gruppe von Verantwortlichen, die er als „mobilisierte Zivilisten“ bezeichnet. Dazu gehörten Angehörige des „Deutschen Volkssturms“ und Mitglieder von NSDAP, SA, Hitlerjugend und anderen NS-Formationen, die sich in unterschiedlichem Ausmaß an den Morden beteiligten. Im „Epilog“ fasst der Autor dann das infernalische Geschehen auf den Todesmärschen pointiert zusammen. Darin entwickelt er die These „einer neuen Gemeinschaft von Mördern […], deren Mitglieder sowohl altgediente Mörder waren (die SS-Aufseher), die gemeinsam mit den Häftlingen aus den Lagern im Osten eintrafen, als auch Personen, die sich dem mörderischen Treiben erst anschlossen, als es ihr Lebensumfeld und ihre Familie unmittelbar betraf […]“. Zwei Aspekte hebt der Autor besonders hervor: Zum einen das utilitaristische Kalkül der Mörder, die eben nicht in einen kollektiven Blutrausch verfielen, sondern Nutzen und Effektivität ihres Tuns genau abwogen. Zum anderen das Moment der freien Entscheidung beziehungsweise des Vorsatzes, das den meisten Morden auf den Todesmärschen zugrundelag.

In einem gewissen Spannungsverhältnis zu diesen Thesen steht jedoch Blatmans Ansicht, „dass der von den Nationalsozialisten verübte Völkermord in seiner letzten Phase von einer mörderischen Ideologie geleitet wurde, die sich dezidiert von jener unterschied, die in den vorangegangen Jahren ausgebildet worden war“. Die Betonung der Ideologie übernimmt der Autor aus der Holocaust-Forschung, namentlich von seinem Lehrer Yehuda Bauer. Sie ist von seinen empirischen Befunden nicht oder nur unzureichend gedeckt. Im Gegenteil: Blatmans Ergebnisse hätten einigen Anlass geboten, die Rolle der Ideologie, die sich in den letzten Jahren als zentrales Erklärungsmuster für die NS-Vernichtungspolitik etabliert hat, zu spezifizieren. Dass während der Todesmärsche eher unauffällige Zivilisten zu Mördern wurden und sich umgekehrt radikale Parteifanatiker diesen Aktionen bisweilen gar entzogen, verweist jedenfalls auf die Grenzen dieses Interpretationsansatzes. Wenn alles nur noch Ideologie ist, bleibt dem Historiker nichts mehr zu erklären. Dieser Einwand schmälert die grandiose Leistung des Autors nicht. Überzeugend gelingt es ihm, seine Referenzen zu einem dichten narrativen Gewebe zu verknüpfen und selbst noch die monströsesten Ereignisse, von denen er berichten muss, für den Leser nachvollziehbar zu analysieren. Mehr vermag moderne Geschichtsschreibung nicht.

Titelbild

Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
850 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783498021276

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