Die durchgedrückte Brust des Melancholikers

Die Ernst Jünger-Biografie von Paul Noack

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuletzt war er doch jenseits von Gut und Böse. Da gaben sich 1995 in seinem Wilflinger Oberförsterhaus, hinten in der oberschwäbischen Provinz, Helmut Kohl und Francois Mitterand die Klinke in die Hand, nachdem Jahre zuvor selbst Jorge Luis Borges auf seinen Krückstock gestützt in die Jüngersche Couch gesunken war. Der 100-jährige Gastgeber Ernst Jünger, fast ins Mythische bereits entrückt, zierlich und cäsarisch zugleich, hatte seine letzte Scheu vor der andrängenden Öffentlichkeit verloren. Das Fernsehen war dabei. Den Jahrtausendwechsel hat er dann doch nicht ganz geschafft, der als erster Mensch in drei Jahrhunderten gelebt haben wollte.

Jetzt hat der Müncher Emeritus für Politikwissenschaft, Paul Noack - 1993 mit einer Lebensdarstellung Carl Schmitts hervorgetreten - eine umfassende Biographie Ernst Jüngers vorgelegt. Erstaunlich scheinen zunächst die bloß 333 Seiten Text angesichts eines derart reichen Lebens, das mit den Zeitläuften des horriblen zwanzigsten Jahrhunderts die Marksteine teilt.

Bisher hat es keine nennenswerten biografischen Annäherungen an dieses Jahrhundertleben gegeben, die kleine Bildmonografie von Karl O. Paetel von 1962 ist längst vergriffen. Spannende essayistische Überlegungen von Eugen Gottlob Winkler, Alfred Andersch, Max Bense, Peter de Mendelssohn und Rolf Hochhuth bieten Zugänge, Karl Heinz Bohrer (1975) und Martin Meyer (1990) glänzende Studien, zudem haben wir die Berichte seiner Sekretäre Armin Mohler (1955) und Heinz Ludwig Arnold (1990).

Die biografische Zusammenschau, die Paul Noack vor dieser Kulisse jetzt wagt, scheint schier unüberwindliche Probleme zu meistern. Die Überfülle der historischen Ereignisse, auf deren Basis Ernst Jünger ein riesiges Œuvre aus erzählenden, essayistischen und politischen Schriften errichtet hat, das zu Teilen in bis zu sieben Überarbeitungschichten vorliegt, macht den Leser schwindeln. Hinter so manchem Federstrich des vielbändigen Tagebuchwerks ist die Geste der Selbststilisierung zu erkennen, die es zu entzaubern gilt. Auch die zahlreichen Metamorphosen und Rollenwechsel, die Jünger vollzog, entziehen sich leicht einer überschaubaren Deutung. Aus der Wertewelt des Kaiserreiches heraus bildet die gequälte Pennälerseele erste antidemokratische Affekte aus. Gegen den Einfluss der Schule und des Vaters flieht der 16-jährige in die Fremdenlegion. Die nachfolgenden Stationen: Abenteurer, hochdekorierter Stoßtruppführer des Ersten Weltkrieges, bestsellerverdächtiger Kriegsschriftsteller, Zoologiestudent, schnarrender Nationalrevolutionär, Wehrmachtsoffizier im Paris des Zweiten Krieges, zunehmend auf Distanz gegenüber den Vereinnahmungsgebärden der Nazis, Privatier, legendärer Entomologe, chatwinhafter Weltenbummler, Diarist. Und Ernst Jünger war in jeder Rolle ein brillanter Schauspieler, textsicher und vollendet noch in der kleinsten Geste.

Das nahezu undurchdringliche Bekanntschaftsgeflecht, in dem sich Jünger bewegte, narrt mit seinen Verzweigungen jeden eindeutigen Zuordnungsversuch. Carl Schmitt, Ernst Niekisch, Benn, Brecht, Bronnen, Mühsam, Toller, Kubin, Franz Blei, Friedrich Hielscher, Hugo Fischer und natürlich Jüngers Bruder Friedrich Georg, das sind nur einige, mit denen Jünger Austausch und Umgang pflegte. Auch wenn die Briefwechsel mit Rudolf Schlichter und Carl Schmitt mittlerweile vorliegen, gibt es da doch Berge nicht edierten Archivmaterials. Und wer weiß schon, was noch in den Wilflinger Schränken liegt.

Eine ziemlich vetrackte Ausgangslage, die Noack nicht schreckt. Gut lesbar, angenehm unprätentiös kommt seine Darstellung daher. Sie bietet keine Sensationen, keine schlüpfrigen Enthüllungen, feiert sich und den Gegenstand so wenig in hagiografischem Gesabber wie es ihn in dämonologischem Geschrei verdammt. Noacks Blick ist sicher geprägt von einiger Sympathie, ohne Distanz und Kritik zu verlieren.

Leider fehlte offenbar die Zeit oder Möglichkeit, den umfangreichen Jünger-Nachlass in Marbach voll auszunutzen. Gegen all die Mythen, Legenden und wohlkalkulierten Selbstbilder des Dichters wären weitere Materialrecherchen sinnvoll. So bleiben auch die Porträts der Weggefährten, Freunde und Feinde etwas blass. Allein der Rechtsphilosoph Carl Schmitt, geliebter Feind über 50 Jahre hinweg, erhält klare Konturen. Gegen die Verschwiegenheit seines Helden fällt es Noack außerdem schwer, das Verhältnis Jüngers zu seinen beiden Ehefrauen und seiner französischen Freundin Banine ins Licht zu bringen.

Noack beobachtet die häufigen Ortswechsel und Umzüge, die erst in Wilflingen, dem Bargfeld Jüngers, ihr Ende finden, geht aber der interessanten Vermutung, Jünger habe nach einer bestimmten Zeit seiner Umgebung keine Anregung mehr abgewinnen können, leider nicht weiter nach.

Überhaupt bleibt so manche vielversprechende Spur unverfolgt: Zu wenig erfahren wir über den - wie es vor allem die späten Tagebücher zeigen - angeblich begnadeten Leser Jünger, der es für eine Auszeichnung hielt, so gut wie keine nach dem Drei-Kaiser-Jahr von 1888 erschienene Literatur zur Kenntnis genommen zu haben. Zu wenig auch über den Entomologen, der seine Käfersammlung zum poetischen Prinzip seines Schreibens zu machen und feine Zusammenhänge zwischen seinen subtilen Jagden und seiner Welterfahrung herzustellen wusste.

Gerne hätten wir auch mehr erfahren über den Melancholiker Jünger, der offenbar mehrmals vor dem Selbstmord stand. Was Jünger "Tristitia", "Frousse", "Cafard" nennt, die Schwermut eines Mannes, der ein Leben lang nicht über den frühen Fronttod seines ersten Sohnes hinwegkam, der eine Ehefrau zu Grabe tragen und noch 93-jährig den Selbstmord seines zweiten Sohnes erleben musste. Was blitzt hier hinter der gusseisernen Fassade des alten Frontkämpfers, der immer soviel auf Haltung hielt, für ein einsamer und depressiver Charakter auf? Fast möchte man an ein magersüchtiges Model denken, von dessen Krankheit allein das Tagebuch weiß.

Dies aufzuhellen bedürfte es eingehender Textarbeit. Auch wenn sich Noack in seiner Lebensübersicht ausdrücklich nicht an Spezialisten wendet, kommt das eigentliche Werk Jüngers entschieden zu kurz. Warum Noack sich kaum auf die opulente Studie von Martin Meyer bezieht, bleibt rätselhaft. "Eumeswil", die "Gläsernen Bienen", auch der Großessay "Annäherungen" über Jüngers Drogenexperimente, seine "Extrabillets in die geistigen Ränge", schließlich auch die Tagebücher "Siebzig verweht" bleiben weitgehend unbeachtet.

Trotz dieser Mägel ist das Buch zu empfehlen. Detaillierte Feinarbeit, vor allem auf der Basis neuen Materials, mag den nächsten Biografien vorbehalten bleiben. Paul Noack gelingt alles in allem eine anschauliche und nachvollziehbare Darstellung der Lebensstationen von Heidelberg bis Wilflingen. Er weiß um die Widersprüche seines Gegenstandes und verschweigt sie nicht. "Im Œuvre Jüngers gibt es alles, was man ihm vorwirft: Kriegsverherrlichung, Kitsch, Geziertheiten, Halbbildung, politische Ahnungslosigkeit und moralische Indifferenz. Doch das Gegenteil gibt es auch, und die Frage, wie weit gerade die abträglichen Seiten seines Charakters ihn befähigten, zu erkennen, was er erkannte, und zu schreiben, was er geschrieben hat, lässt sich nicht beantworten."

Titelbild

Paul Noack: Ernst Jünger. Eine Biographie.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1998.
368 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3828600247

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