Unsterbliche Geschichte
Jiri Krachtovils karnevalesker Roman
Von Mareile Ahrndt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Buch könnte international Preis um Preis einheimsen. Es gibt nur einen Haken. Der hat allerdings nichts mit der "Unsterblichen Geschichte" von Jirí Kratochvil an sich zu tun. Dieser Roman ist nämlich voll von jenen wunderbaren Sätzen, die Jirí Kratochvils Schriftstellerei ausmachen. "Wenn Sie das Glück haben, daß sich schon mit drei Jahren eine riesige Meeresmuschel vor Ihnen öffnet, die das ganze Universum mit all seinen Galaxien und Gottheiten in sich birgt und aufdringlich nach Fisch riecht, wenn Sie dieses Glück haben, dann bleibt es bis an Ihr Lebensende bei Ihnen, wo immer Sie auch hinfahren, es wird Sie Hand in Hand begleiten, weil das Ägäische Meer ein nicht endender, nicht erlöschender beweglicher Feiertag ist."
Die da erzählt, ist die Hauptfigur des Romans, Sonja Trotzkij-Sammler, und was sie erzählt, ist ihre Lebensgeschichte. Geboren mit dem Einläuten des 20. Jahrhunderts, am 1. Januar 1900, ist Sonjas Schicksal bereits besiegelt. Denn Sonja hat einen ihr vorbestimmten Mann, Bruno. Doch Bruno stirbt kurz nach Sonjas Geburt: Jene Macht, die das Weltgeschehen leitet, hat nicht immer alles im Griff. Aber weil sie dennoch eine Macht ist, ist Brunos Tod nicht so wichtig: Von nun an kehrt er in anderer Gestalt zu Sonja zurück - mal als Schimpanse, mal als Hirsch, dann als Elefant, als Panter und als Wal.
Sonja weiß schon lange - und nicht nur Brunos wegen, dass es mit ihr etwas Besonderes auf sich hat. Als sie fünf Jahre alt ist, holt ein Luftschiff sie ab, und unter Hypnose wird ihr die Botschaft eingeflüstert, die sie durch das 20. Jahrhundert ins 21. herüberretten soll. "Natürlich kenne ich den Inhalt dieser Botschaft nicht und weiß auch nichts über den Schlüssel, mit dem sie aufgeschlossen wird", sagt Sonja.
Kratochvil wuchert mit anderen Pfründen als der Allwissenheit: Er betreibt wenig Aufwand, um historische Gegenbenheiten zu schildern, und er lässt viel Platz für Mythen und Symbole. Sonjas Geschichte geht zwar auf dem Boden der bitteren Realität weiter, sie wird Lehrerin und Hauslehrerin, aber der Verlauf ist ein Zickzackkurs, den Sonja gelassen hinnimmt. Sonja tastet sich in eine Welt vor, die sie selbst erbaut hat. Und sogar der Leser bleibt genau wie die große Politik außen vor: Sonjas Leben ist grenzenlos privat.
Nur zwei Mal kratzt die Tragödie ihrer Zeit auch an Sonjas Erhöhung: Als ihre Eltern bei der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erschossen werden, und als ihr Sohn sie verlässt, um als Agent gegen den Kommunismus zu kämpfen. Dann ist Kratochvils Heldin durch und durch Mensch und dem Leser ganz nah. Dadurch geht man tatsächlich Schulter an Schulter mit Sonja weiter. Und irgendwann, es sind schon die siebziger Jahre, gesellt sich auch der Autor hinzu. Er unterbricht die Erzählung für ein Kapitel mit dem wortspielerischen Titel "Kratochvils kurzweiliger Hut" - Kratochvil ist ein Name mit Bedeutung: Übersetzt lautet er Kurzweil. Der Herr Kratochvil nutzt die Zeit, die Sonja "in einem Kokon", in der inneren Emigration, verbringt, um Autobiographisches einzuschieben: von seinem ukrainischen Großvater, von seiner deutschen Großmutter, von seinem tschechischen Vater. Wie bei Sonja Trotzkij-Sammler ist die Herkunft ein Gemisch, das jeder Ideologie des vergangenen Jahrhunderts entgegen steht.
Flugs sind wir in den neunziger Jahren angelangt. Sonja begegnet ihrem Sohn wieder und verlässt ihr Land, die Tschechische Republik. Dieses Land muss in Kratochvils "Unsterblicher Geschichte" viel wegstecken. Allein eine Hauptperson, die so russisch wie deutsch ist, die ihre Eltern, die nie Nazis gewesen waren, durch tschechische Hand verliert, eine Protagonistin, die sich im Kampf gegen Hitler mit russischen Soldaten einlässt, sich später aber weder für noch gegen den Sozialismus engagiert.
Die ganze Geschichte spielt sich in Brünn ab. Es ist die Atmosphäre dieser Stadt, die Kratochvil verbreitet, deren Cafés und Straßen, deren Plätze und Gebäude. Jirí Kratochvil ist 1940 in Brünn geboren und lebt dort noch heute. Sechs Romane hat er geschrieben, darunter die noch unübersetzte "Siamesische Geschichte" von 1996, die mit der ein Jahr später im Original erschienenen "Unsterblichen Geschichte" locker verknüpft ist. Kratochvils einziger Roman, der auf deutsch vorliegt, "Inmitten der Nacht Gesang" spielt ebenfalls in Brünn. Nun schlägt Kratochvil mit seinen stilistischen Taschenspielertricks ganz andere Kapriolen, als dass er überhaupt ein regional gebundener Dichter sein könnte. Gleichwohl treibt die Angst, Kratochvil könne der internationale Erfolg versagt bleiben, nicht nur seinem Verleger die Sorgenfalten auf die Stirn. Es ist eine kleine Beruhigung, dass schon viele tschechische Autoren bekannt wurden, deren Themen viel tschechischer waren (etwa Pavel Kohout oder Libuse Moníková), und eine große Beruhigung, dass Kratochvil im letzten Jahr den bedeutendsten Literaturpreis seines Landes, den Jaroslav-Seifert-Preis, erhalten hat. In seiner Rede anlässlich der Verleihung sagte Jirí Kratochvil: "Bestimmung und Mission der Literatur sind ähnlich geheimnisvoll wie alles menschliche Leben und ich denke, es hat geheimnisvoll zu bleiben." Kratochvils Prosa weiß genauso wenig wie ihr Autor. Sie diktiert sich selbst, kein Zweck wartet auf sie. Die Sprache des Dichters folgt keinem Trend, ist kein Sprachrohr einer Szene oder Generation. Literatur solle, führte Kratochvil weiter aus, zum Wesentlichen vordringen, auch wenn uns gerade das absurd vorkommen kann.
Dass die "Unsterbliche Geschichte" bisher noch nicht zum Dauerbrenner in den deutschen Feuilletons geworden ist, fällt nicht auf das Buch zurück. Sonja Trotzkij-Sammler ist eine Heldin, mit der man sich traut, nochmal gemeinsam das vergangene, grausige Jahrhundert Hand in Hand zu durchleben. Bis zum furiosen Ende.
An dem kann sie die Botschaft weitergeben. Wieder an ein fünfjähriges Mädchen, das in der Nacht zum Jahr 2000 zur Welt kommt. Fünf Jahre also noch, in denen so viel passieren und Bruno noch oft auftauchen kann. "Und so kehrt mein verlorener Bruno immer wieder zurück, bisher allerdings immer nur in Tiergestalt." "Soll ich das so verstehen, Frau Sonja, das sie Sex mit Tierchen haben?" "Sie werden doch daran keinen Anstoß nehmen, mein Engel?" aber nein, Sonja, möchte man rufen, wir wollen mehr von Dir! Doch wir sind in der Gegenwart angekommen, und Kratochvil bricht ab. Er kann schließlich auch nicht in die Zukunft blicken. Auch wenn ihm das wohl jeder locker zutraut.
|
||